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WIFO-Arbeitsmarktexpertin Christine Mayrhuber Ökonomische und soziale Sicherheit sind eine Voraussetzung für Flexibilität und Mobilität. Es muss eine gewisse Absicherung, ein gewisses Grundvertrauen vorhanden sein, um sich beruflich verändern zu können.

Interview: Standortqualität ist mehr als Wettbewerbsfähigkeit

Schwerpunkt Wirtschaftspolitik im Regierungsprogramm

WIFO-Arbeitsmarktexpertin Christine Mayrhuber über den Unterschied zwischen Staaten und Unternehmen und die Erkenntnis, dass "Hemmschuhe" auch beflügelnd wirken können.

Arbeit&Wirtschaft: In der im Februar veröffentlichten WIFO-Studie „Sozialstaat und Standortqualität“ wird gezeigt, dass eine hohe Sozialquote die Standortqualität keineswegs negativ beeinflusst. Kann man sagen: Im Gegenteil, hohe Sozialquoten wirken sich positiv auf die Standortqualität aus?
Christine Mayrhuber: Man kann zwar nicht von direkter Kausalität sprechen, aber es besteht eine sehr hohe Korrelation: Große Wirtschaftskraft von Staaten geht mit hohen Sozialstandards und hohe Sozialstandards gehen mit großer Wirtschaftskraft einher. Die Sozialstandards in Ländern mit einem niedrigeren BIP sind in der Regel auch niedriger. Ähnlich ist die Korrelation zwischen Umweltstandards und Wirtschaftskraft. Diese Verflechtungen kann man durchaus mit den zwei Seiten derselben Medaille vergleichen. Im öffentlichen Diskurs wird das eher nicht so wahrgenommen. Hohe Sozialstandards werden hier eher als Hemmschuh oder Fessel der Wirtschaft dargestellt.

Aber man kann nicht sagen, was zuerst war, die hohen Sozialstandards oder die erfolgreiche Wirtschaft?
Nein, das geht Hand in Hand. In der Studie wird eine Vielzahl von Indikatoren diskutiert: Arbeitslosen- und Beschäftigungsquote, CO2-Ausstoß, Lebenszufriedenheit, Gesundheit etc. Die Werte bei diesen Themen sind dort gut, wo eine hohe Wirtschaftsleistung besteht und umgekehrt.

Was versteht man eigentlich genau unter Standortqualität?
Der Begriff bezieht sich auf eine Region oder ein Land, im Unterschied zur Wettbewerbsfähigkeit, die sich auf einzelne Unternehmen bezieht. Wettbewerbsfähigkeit auf betrieblicher Ebene ist in der ökonomischen Theorie definiert als Produktion zu geringen Durchschnittskosten; unternehmerischer Wettbewerb forciert Innovationen und technologischen Fortschritt und kann auf diese Weise wachstumssteigernd wirken.
Faktoren wie Infrastruktur, Marktgröße oder Marktnähe sind für die individuelle Wettbewerbsfähigkeit entscheidend. Dieses Konzept kann nicht einfach auf Staaten übertragen werden, weil die Ziele eines Landes und eines Betriebes nicht gleichgesetzt werden können. Und wenn ein Betrieb nicht wettbewerbsfähig ist, dann scheidet er aus dem Markt aus. Ein Staat hingegen kann als solcher nicht aus dem Marktgeschehen ausscheiden, von der Landkarte verschwinden.
Zur Bestimmung der Standortqualität braucht es daher einen breiten Ansatz von Indikatoren in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Einkommen, Umwelt etc. Auch der Zeithorizont eines Staates unterscheidet sich von dem eines Unternehmens. Bei Unternehmen spielen Quartalsberichte eine Rolle, während bei Ländern mittel- und langfristige Ziele im Vordergrund stehen.
Staaten müssen viele unterschiedliche Interessenlagen berücksichtigen. Zielkonflikte gibt es natürlich auch auf der Betriebsebene, etwa zwischen Umweltanliegen und Expansionsplänen, doch auf der Ebene der Ökonomien sind diese Zielkonflikte noch stärker. Wir haben in der Studie aber bemerkenswerte Korrelationen gefunden. Anders als oft dargestellt, sind Sozial- und Umweltstandards keine Hemmschuhe: So können sich etwa Ökologie und Ökonomie gegenseitig beflügeln, hohe Umweltstandards wirken also nicht zwangsläufig hemmend auf die Ökonomie.

Die Europäische Kommission hat ja eigentlich schon 2001 Wettbewerbsfähigkeit um die Begriffe des hohen und steigenden Lebensstandards sowie der Gewährleistung von „Beschäftigungsraten auf einer nachhaltigen Basis“ erweitert. Dieser Ansatz ist noch nicht so weit verbreitet, oder?
Es gibt Ansätze von Wettbewerbsfähigkeitskonzepten, die „Wohlfahrtsindikatoren“ wie Gesundheit, Lebenszufriedenheit, Work-Life-Balance etc. in Zusammenhang mit Standortqualität verstärkt berücksichtigen. Die Europäische Kommission etwa hat schon vor einigen Jahren die Initiative „Beyond GDP“ gestartet, um das BIP um entsprechende Indikatoren zu erweitern. Wir haben in unserer Studie daher Konzepte einer erweiterten Wettbewerbsfähigkeit verwendet. Im (klassischen) Global Competitiveness Report, der jährlich vom World Economic Forum veröffentlicht wird, ist Österreich im oberen Mittelfeld angesiedelt. Sobald man auch Sozial- und vor allem Umweltindikatoren miteinbezieht, zeigt sich eine deutlich höhere, also sehr gute Standortqualität Österreichs.

Immer wieder wird kritisiert, Österreich könnte viel besser dastehen. Ist es wirklich erforderlich, in internationalen Rankings ständig aufzusteigen, immer besser zu werden?
Rankings haben generell den Nachteil, dass eine ganze Wirtschaft in wenige Zahlen gepresst werden soll. Die verschiedenen Länder auch innerhalb Europas sind wirtschaftlich zum Teil sehr unterschiedlich strukturiert. Österreich etwa ist exportorientiert, während beispielsweise Großbritannien auf dem Finanzmarkt stärker ist. In der Praxis geht es um die Leistungsfähigkeit einzelner Sektoren und Branchen. Wenn sich ein Unternehmen in Österreich ansiedeln will, dann braucht es konkretere Brancheninformationen etc. Wenn es darum geht, ob Österreich genug Investoren anziehen kann, dann reichen die veröffentlichten Summenindikatoren nicht aus, weil sie zu allgemein sind.

Was könnte in Österreich besser laufen? Wo gibt es Entwicklungs- bzw. Verbesserungspotenzial?
Im Bereich der Qualifikationen müsste viel getan werden. Innovation heißt immer auch, mit neuen Möglichkeiten – Stichwort Digitalisierung – umzugehen, und dafür braucht es immer auch ein bestimmtes technisches und soziales Know-how. Wenn wir jetzt beispielsweise darüber diskutieren, dass es in der Volksschule wieder Noten geben soll, versetzen wir die Kinder damit nicht in die Lage, sich Wissen und Kompetenzen besser anzueignen, ihre Neugierde, ihr Wissen und Können zu forcieren.
Auch beim Weiterbildungssystem, das die Menschen dabei unterstützen soll, mit neuen Möglichkeiten umzugehen, ist hierzulande noch viel Luft nach oben. Eine moderne Wirtschaft verlangt viel Flexibilität und hohe Mobilität, sowohl von den Unternehmen als auch von den Beschäftigten. Um damit umgehen zu können, braucht es auch eine gewisse Sicherheit.
Ökonomische und soziale Sicherheit sind eine Voraussetzung für Flexibilität und Mobilität. Es muss eine gewisse Absicherung, ein gewisses Grundvertrauen vorhanden sein, um den Job oder den Beruf zu wechseln, um auch im letzten Drittel des Erwerbslebens noch die Möglichkeit zu haben, etwas Neues auszuprobieren, sich den veränderten Anforderungen anpassen zu können.

Wo könnte man hier ansetzen?
Beispielsweise ist die Weiterbildungsbeteiligung in Österreich niedrig, obwohl es durchaus Möglichkeiten wie etwa die Bildungskarenz gibt. Es wäre daher vielleicht eine Option, einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung einzuführen.

Da würden manche vielleicht einwenden, dass den österreichischen ArbeitnehmerInnen einfach der Mut zum Risiko fehlt.
Wir haben in Österreich derzeit eine sehr angespannte Arbeitsmarktsituation. 2017 waren 340.000 Menschen arbeitslos. Da nützt auch Mut zum Risiko nichts, wenn nicht genug Arbeitsplätze vorhanden sind.

Wo gibt es Verbesserungspotenzial bei den Sozialleistungen?
In Österreich werden rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für soziale Zwecke ausgegeben, davon sind der Großteil monetäre Transfers, von Pensionen bis Kinderbeihilfe. Hier ist es wichtig anzuerkennen, dass diese Geldleistungen ökonomisch wichtig sind, weil sie Konsumnachfrage bewirken. Das haben wir in der Krise deutlich gesehen: Während die Auslandsnachfrage und die Investitionsnachfrage weggebrochen sind, blieb die private Konsumnachfrage positiv. Dadurch ist die Wirtschaft nicht noch stärker eingebrochen. Auch aktuell sehen wir, dass die positiven Wirtschaftsaussichten für 2018/19 zu gut einem Drittel durch die private Konsumnachfrage getragen sind. Ein stabiles Einkommen, ob aus Erwerbseinkommen oder den daraus abgeleiteten Ansprüchen, erhöht die gesamtwirtschaftliche (Krisen-)Widerstandsfähigkeit.
Neben den Transfers fließt der zweite Teil der Sozialausgaben in Dienstleistungen. Mit den Betreuungs- und Gesundheitsdienstleistungen ist eine große Beschäftigungswirkung verbunden. Sozialausgaben haben über diese beiden Kanäle (Nachfrage und Beschäftigung) positive Wirkungen auf die Gesamtwirtschaft, die in der WIFO-Studie detailliert dargestellt sind.

Und Verbesserungspotenzial im Sinne von mehr Effizienz?
Effizienzverbesserungen sind in den unterschiedlichen Sozialbereichen sicherlich möglich. Allerdings konnten wir im Rahmen der Studie nicht genauer hinschauen. In jedem Fall ist zu bedenken, dass Effizienz besonders im Gesundheits- und Sozialbereich immer auch im Hinblick auf die Versorgungssicherheit zu untersuchen ist.

Sie haben in der Studie auch die Wechselwirkungen von Effizienz und Ungleichheit untersucht.
Wir haben gesehen, dass es eine positive Wechselwirkung gibt, dass gleiche Einkommensverteilung sehr gut in eine starke Wirtschaft passt. Relativ geringe Einkommensungleichheit wirkt vertrauensbildend, und das ist auch für Betriebe mit positiven Effekten verbunden.

Was war für Sie persönlich das überraschendste Ergebnis der Studie?
Ich beschäftige mich schon länger mit dem Thema Sozialleistungen – hier gab es für mich keine Überraschungen. Überraschend war für mich, dass es keinen Widerspruch geben muss zwischen Ökologie und Produktivität. Dass reiche Staaten nicht unbedingt auf Kosten der Umwelt florieren, sondern beispielsweise ein geringerer CO2-Ausstoß auch mit einer hohen Wirtschaftsleistung verbunden sein kann, wie dies in Österreich der Fall ist.

Stichwort Standortqualität als Staatsziel: Bis Ende Juni soll ja das sogenannte Standortentwicklungsgesetz ausgearbeitet sein. Wie stehen Sie dazu?
Da kann ich wenig sagen, solange nicht geklärt ist, was mit Standortqualität gemeint ist.

Welche Kriterien sollte diese beinhalten?
Wie wir in der WIFO-Studie herausgearbeitet haben, gibt es hier zumindest drei Perspektiven: eine wirtschaftliche, eine soziale und eine ökologische. Alle diese Perspektiven müssten auch berücksichtigt werden. Dazu müssten die entsprechenden ExpertInnen ins Boot geholt werden.

Und soll Wirtschaftswachstum in der Verfassung ergänzt werden?
Auch hier gilt wieder: Welches Wirtschaftswachstum bekommt Verfassungsrang? Die traditionelle Maßzahl aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kann es jedenfalls nicht sein. Spätestens seit der Vorlage des Stiglitz-Sen-Fitoussi-Berichts im Jahr 2009  wissen wir, dass zur Entwicklung der Wirtschaft auch das Wohlbefinden (well-being) der Menschen und die Nachhaltigkeit der Wirtschaft zu rechnen sind.

Wie sehen Sie die Rolle der EU, was eine Angleichung der Sozialstandards innerhalb der Europäischen Union betrifft?
Ein Wirtschafts- und Währungsraum wie die EU braucht soziale Ausgleichsmechanismen. Eine europäische Arbeitslosenversicherung war ein Versuch in diese Richtung unter László Andor, dem Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration bis 2014. Diese Thematik ist wieder verschwunden. Vom derzeitigen Kommissionspräsidenten Juncker ist die „Europäische Säule sozialer Rechte“ entwickelt worden, wo in drei Bereichen (Arbeitsmarktzugang, Arbeitsbedingungen, Sozialschutz) Mindeststandards vorgeschlagen werden, die in Österreich derzeit weitgehend Status quo sind. In den Ländern mit niedrigeren Sozialstandards ist die Säule nur eine Aufforderung, weil die EU-Kommission im Sozialbereich keine direkten Kompetenzen hat.
Aktuell sind die Nationalstaaten durch die strikten budgetpolitischen Vorgaben seitens der EU stark unter Druck. Das führt zwangsläufig zu Sparmaßnahmen bei den Sozialleistungen und verhindert die Angleichung der Sozialstandards unter den EU-Staaten, wie dies in der neuen Säule vorgesehen ist. Diese aktuelle ökonomische und vor allem soziale Situation ist eine große Herausforderung für Europa. Europäische Aufforderungen und nationale Abschottungen allein werden diese Herausforderungen nicht meistern können.

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at

Zur Person
Christine Mayrhuber ist seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). Ihre Schwerpunkte: Arbeitsmarkt und Genderfragen, Einkommen und Verteilung, Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat. 2013 wurde die Volkswirtschafterin mit dem Käthe-Leichter-Staatspreis für Frauenforschung, Geschlechterforschung und Gleichstellung in der Arbeitswelt für ihre Forschungstätigkeit zu Genderfragen auf dem Arbeitsmarkt ausgezeichnet.

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