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Europäische Gewerkschaftspolitik ist Innenpolitik!

Ein Gespräch mit Dieter Schulte, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes

»Arbeit & Wirtschaft«: Die europäischen Gewerkschaften kämpfen seit Jahrzehnten für ein »soziales Europa«. Heute ist dieser Begriff ein Allgemeinplatz geworden. Kaum ein Politiker tritt offen für ein unsoziales Europa ein. Und doch sind die sozialen Fortschritte innerhalb der EU eher bescheiden. Wie ist dies zu erklären?

Dieter Schulte: Zwar erleichtern die sozialen Unterschiedlichkeiten, die wir innerhalb Europas kennen, den Aufbau eines sozialen Europa nicht unbedingt. Trotzdem ist das, was auf EU-Ebene erreicht wurde, beachtlich. Wir sind heute weiter, als ich das vor fünf Jahren für möglich gehalten habe. Denken Sie zum Beispiel an die Einführung der Europäischen Betriebsräte und an das Elternurlaubsabkommen, welches zwischen den europäischen Arbeitgeberverbänden und dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) im Rahmen des so genannten »sozialen Dialogs« ausgehandelt wurde. Europäische Gewerkschaftspolitik ist Innenpolitik geworden. Heute ist jede zweite Sitzung des DGB-Bundesvorstands einem europapolitischen Thema gewidmet.

A&W: Genügen diese Errungenschaften angesichts der Tatsache, dass sich die Firmen immer mehr internationalisieren? Werden die Gewerkschaften in den verschiedenen Betrieben und Ländern nicht mehr und mehr von einer multinationalen Wirtschaft ausgespielt?

Schulte: Wir dürfen uns doch nicht wundern, dass die Arbeitgeber versuchen, die Internationalisierung der Wirtschaft für sich auszunutzen. Trotzdem sind wir in den letzten Jahren ein gutes Stückchen nach vorne gekommen. Wenn ich allein daran denke, was innerhalb des EGB im Rahmen der Verhandlungen des »sozialen Dialogs« mit den europäischen Arbeitgebern an konkreter europäischer Gewerkschaftszusammenarbeit geleistet wurde.

Bescheidene Resultate

A&W: Die bisherigen Ergebnisse des europäischen »sozialen Dialogs« werden jedoch - gerade auch von deutschen Gewerkschaftern - sehr kritisch bewertet. Bislang kamen nur drei Rahmenabkommen zustande, zum Thema Elternurlaub, Teilzeit- sowie befristeter Beschäftigung. Darin wurden Mindeststandards festgeschrieben, die in fast allen EU-Staaten sowieso schon Gesetz sind. Spiegeln diese bescheidenen Resultate nicht das Fehlen von Mobilisierungskraft der Gewerkschaften auf europäischer Ebene wider? Böse Zungen behaupten sogar, dass die Arbeitgeber nur dann ein europäisches Abkommen unterschreiben, wenn sie befürchten, dass die europäischen Institutionen (Kommission, EU-Parlament, Ministerrat) einen weiter gehenden Vorschlag beschließen könnten.

Schulte: Sie sprechen eine entscheidende Frage an. Wer glaubt, dass er den Europäischen Gewerkschaftsbund als Vehikel nutzen kann für Dinge, die er im eigenen Land nicht geregelt kriegt, der wird scheitern. Das heißt, die Stärke der europäischen wird immer ein Spiegelbild von der Stärke der nationalen Gewerkschaftsbewegung sein.

A&W: Europäische Gewerkschaftspolitik wird nicht nur in Brüssel gemacht. Vor zwei Jahren beschlossen die deutschen und Benelux-Gewerkschaften bei einer Konferenz im niederländischen Doorn, ihre jeweiligen Kollektivvertragsforderungen zu koordinieren. Damit sollte soziales Dumping in der Tarifpolitik verhindert werden. Welche Erfahrungen sind bisher dabei gemacht worden?

Doorner Erklärung

Schulte: Tarifpolitik wird in Deutschland innerhalb der verschiedenen Branchen und Regionen gemacht. Mit der »Doorner Erklärung« projizieren wir dieses Prinzip auf die europäische Ebene. Diese Initiative ist auf starkes Interesse der skandinavischen Gewerkschaften gestoßen. Sie werden künftig in diesen Verbund mit einbezogen. Anderseits haben wir festgestellt, dass wir noch weit davon entfernt sind, Tarifforderungen europaweit quantifizieren zu können. Wir können zwar europaweit darüber sprechen, ob wir das kommende Jahr - angesichts der Schwäche der Binnennachfrage - zu einem Jahr der Lohn- und Gehaltsverbesserungen machen. Auf einheitliche Lohnforderungen werden wir uns hingegen kaum einigen können.

»Wer glaubt, dass er den Europäischen Gewerkschaftsbund als Vehikel nutzen kann für Dinge, die er im eigenen Land nicht geregelt kriegt, der wird scheitern.«

A&W: In der »Erklärung von Doorn« werden jedoch auch quantitative Ziele formuliert: Die beteiligten Gewerkschaften verpflichten sich darin, mit ihren nationalen Tarifabschlüssen den neutralen Verteilungsspielraum, das heißt die Summe von Preisentwicklung und Produktivitätssteigerung, möglichst voll auszuschöpfen. Haben Sie mit Ihrer heutigen Aussage diese »Doorner Formel« relativiert?

Schulte: Nein, diese Formel ist eine Orientierungsgröße. Im Vorfeld der Doorner Konferenz unterhielten wir uns über die Indikatoren, die in den verschiedenen europäischen Ländern zur Lohnfindung dienen. Dabei ging es um die folgenden drei Faktoren: erstens die Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität; zweitens die Inflationsrate und drittens eine Umverteilungskomponente, die sich nach der jeweiligen Einkommens- und Vermögensverteilung richtet. Die Doorner Erklärung beschränkt sich auf die ersten beiden Punkte, da sich nur diese gesichert international vergleichen lassen. Mit meiner vorherigen Bemerkung habe ich dieser Doorner Orientierungsgröße nicht widersprochen. Nur, wenn man heute europäische Gewerkschaftspolitik machen will, dann sollte man sich primär auf qualitative Forderungen konzentrieren.

Resolution als Waffe?

Wenn eine deutsche Gewerkschaft so schwach ist, dass ihre härteste Waffe eine Resolution ist, dann braucht man nicht einmal mehr die Erhöhung der Produktivität oder den Inflationsausgleich einzufordern. Dann kriegen wir nichts. Das heißt, entscheidend bleibt die Kraft der jeweiligen Gewerkschaft vor Ort. Und wenn eine französische Gewerkschaft nicht in der Lage ist, die 35-Stunden-Woche arbeitnehmerfreundlich umzusetzen, dann wird daran auch eine europäische Tarifpolitik nichts ändern können.

A&W: Kommen wir auf die DGB-Politik zurück. Die deutschen Gewerkschaften sind mit den Arbeitgebern und der Bundesregierung ein »Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit« eingegangen. Darin verpflichten sie sich, den zur Verfügung stehenden Verteilungsspielraum in der Tarifrunde 2000 »vorrangig für beschäftigungswirksame Vereinbarungen« zu nutzen. So weit, so gut. Der Verteilungsspielraum orientiert sich laut Bündnis jedoch nur am Produktivitätszuwachs. Von einem Inflationsausgleich ist nicht die Rede. Besteht hier nicht ein Widerspruch zur »Doorner Erklärung«? Möchten die deutschen Gewerkschaften im Bündnis mit den Arbeitgebern und der Bundesregierung die deutsche Wettbewerbsposition verbessern, auch gegen die Beschäftigten anderer Länder?

Gewerkschafter unter sich

Schulte: Ich sehe keinen Widerspruch. In Doorn haben sich Katholische heilig gesprochen. Da waren Gewerkschafter unter sich. Es bestand zu Beginn zwar keine Klarheit über das zu erreichende Ergebnis, doch alle Beteiligten verfolgten dasselbe Ziel: nämlich sich grenzüberschreitend zusammenzuschließen, um einen Gegenpol zu den Arbeitgebern zu entwickeln. Im »Bündnis für Arbeit« trafen wir auf die Arbeitgeber und die Bundesregierung. Wenn nun in der Erklärung des Bündnisses zur Tarifrunde 2000 - neben dem Ausgleich des Produktivitätswachstums - auch noch der Inflationsausgleich festgeschrieben worden wäre, dann hätten wir einen Tarifautomatismus bekommen. Dann hätten wir auch gleich Indexklauseln einführen können, wie sie in Belgien üblich sind. Dies lässt sich jedoch nicht mit der deutschen Tradition der Tarifverhandlungen vereinbaren.

Wenn eine deutsche Gewerkschaft so schwach ist, dass ihre härteste Waffe eine Resolution ist, dann braucht man nicht einmal mehr die Erhöhung der Produktivität oder den Inflationsausgleich einzufordern. Dann kriegen wir nichts. Das heißt, entscheidend bleibt die Kraft der jeweiligen Gewerkschaft vor Ort.

A&W: Trotzdem besteht ein grundlegendes Dilemma zwischen nationalen »Wettbewerbsbündnissen« und einer grenzüberschreitenden europäischen Gewerkschaftszusammenarbeit.

Schulte: Der deutsche Unternehmer bzw. Aktienbesitzer hat ein großes Interesse, dass sein Unternehmen möglichst viel abwirft. Wenn es sich für ihn lohnt, den Sitz seiner Firma beispielsweise von Saarbrücken nach Paris zu verlagern, dann wird er dies tun. Unser Interesse ist, dass dabei Arbeitsplätze und soziale Errungenschaften möglichst gut gesichert werden.

Sozialdumping verhindern

Diese Interessenkollision wird es immer geben, ob Europa in Zukunft ein gemeinsamer Bundesstaat wird oder nicht. Sie wird nicht mehr so wie heute zum Beispiel zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen stattfinden, sondern zwischen der Region Deutschland und Frankreich. Dies wird die europäische Zusammenarbeit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung nicht unbedingt vereinfachen. Allerdings wird die Europäisierung der Wirtschaft die Notwenigkeit gemeinsamer Ziele und Aktionen der europäischen Gewerkschaften verstärkt sichtbar machen, wenn Sozialdumping verhindert werden soll.

Der deutsche Unternehmer bzw. Aktienbesitzer hat ein großes Interesse, dass sein Unternehmen möglichst viel abwirft. Wenn es sich für ihn lohnt, den Sitz seiner Firma beispielsweise von Saarbrücken nach Paris zu verlagern, dann wird er dies tun. Unser Interesse ist, dass dabei Arbeitsplätze und soziale Errungenschaften möglichst gut gesichert werden.

A&W: Kollege Schulte, besten Dank für das Gespräch. (Mit Dieter Schulte sprach Roland Erne.)

Die »Erklärung von Doorn«
In der »Erklärung von Doorn« verpflichteten sich die beteiligten deutschen und Benelux-Gewerkschaften, eine Unterbietungskonkurrenz bei Tarifverhandlungen zu verhindern. Konkret beschlossen sie: a) Tarifabschlüsse anzustreben, die den »neutralen Verteilungsspielraum« voll ausschöpfen. Das bedeutet, dass das Abschlussvolumen eines Kollektivvertrags mindestens der Summe aus Teuerungs- und Produktivitätssteigerung entsprechen muss. Mit dieser gemeinsamen Orientierungsformel soll verhindert werden, dass der Anteil der abhängig Beschäftigten am Volkseinkommen (Lohnquote) sinkt, wie es in den letzten Jahren geschehen ist; b) Tarifabschlüsse anzustreben, die die Massenkaufkraft stärken (Lohnerhöhungen) und beschäftigungswirksam sind (z. B. Arbeitszeitverkürzungen); c) sich regelmäßig gegenseitig über die tarifpolitische Entwicklung zu informieren und zu konsultieren.

Neutraler Verteilungsspielraum
Der neutrale Verteilungsspielraum ergibt sich aus der Summe von Teuerung und Produktivitätswachstum. Nur wenn dieser Verteilungsspielraum durch Verbesserungen beim Lohn, der Arbeitszeit etc. voll ausgeschöpft wird, bleibt der Anteil der Beschäftigten am volkswirtschaftlichen Kuchen (Bruttoinlandsprodukt BIP) stabil. Liegen die Verbesserungen für die Arbeitnehmer unter der Summe von Teuerung und Produktivitätswachstum, dann sinkt der Anteil der Beschäftigten am BIP zugunsten des Kapitals.

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