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Verschleuderte Lehrlinge | Die Lehrlingspolitik der derzeitigen Bundesregierung

Betrachtet man Jugendliche als Humankapital, beginnt das Ausbildungsjahr 2000/2001 mit bedenklicher Verschleuderung. Die tragenden Fäden des Auffangnetzes für jugendliche Lehrstellensuchende (einer der Schwerpunkte des Nationalen Aktionsplanes NAP) wurden durch die Streichung der Ausbildungsstiftungen gezogen. Aus sozialpädagogischer Sicht »eine Katastrophe«, urteilt der Wiener Erziehungswissenschafter Johannes Gstach, »die auch volkswirtschaftlich belastende Konsequenzen haben wird«.

Drei Monate lang hatte der Sonder- und Heilpädagoge Johannes Gstach die Auswirkungen der Maßnahmen im Rahmen des Nationalen Aktionsplanes (NAP) für Jugendliche untersucht. Befragt wurden Ausbildner, Sozialarbeiter und die Jugendlichen der einjährigen Lehrgänge und der dreijährigen Ausbildung in Stiftungen. Für den Pädagogen »erfreulich war, dass junge Menschen, die sonst vermutlich nicht einmal in die Nähe berufsbildender Maßnahmen gekommen wären, betreut wurden. Und das sogar sehr gut.« Das Unerfreuliche: Die Stiftungen, die als besondere Einrichtung die längerfristige Ausbildung Lehrstellensuchender gewährleisteten, sind gestrichen. Für jene, die auf dem freien Markt nicht unterkommen, werden lediglich zehnmonatige Lehrgänge bereitgestellt. Die Voraussetzung zur Teilnahme ist allerdings ein positiver Abschluss der achten oder neunten Schulstufe.

Jugendliche im Dilemma

Die wissenschaftliche These zitiert Gstach in seiner Studie: In westlichen Industriegesellschaften ist »die Adoleszenz eine lang gestreckte Lebensperiode, in denen die Erwachsenenrolle durch langwierige Identifikationsprozesse erworben werden muss. Dabei werden soziale Handlungsstrategien verfestigt und mit dem Erwerb eines Schulabschlusses oder einer beruflichen Qualifikation auch die spätere soziale Platzierung, der berufliche Status und damit auch die gesellschaftliche Anerkennung weitgehend vorentschieden.«

Das Dilemma: So mancher Jugendliche hat Probleme mit seinen Identifikationsobjekten. Er muss dies gar nicht so deutlich zeigen wie Vince1), der als gepiercter Punk zu schockieren trachtet. Bei einem »normalen Lehrherrn« könnte ihm das gelingen, sofern ihn dieser nicht gleich vor die Tür gesetzt hat. Er kann auch so unauffällig erscheinen wie Michael1), der bloß inhaltlich nichts mitzubekommen scheint. Oder so »ohne Bock« sein wie Alex1), der nur mehr tatenlos herumhängt. Derartig unproduktive Verhaltensweisen zu verändern braucht Zeit, Einfühlung und vor allem geschultes Personal. Dabei geht es nicht um »over-protection«, meint Johannes Gstach, sondern um die Förderung von Eigeninitiative. »Und diese Chance besteht für viele nur in diesen stützenden Maßnahmen, nicht auf dem so genannten freien Markt.«

Sparen: Ausbildung gestrichen!

Eine Tatsache: Nicht nur schwer vermittelbare Problemfälle waren im Auffangnetz untergekommen. Im Gegenteil. Laut Lehrlingsstatistik der Wirtschaftskammer Österreichs hat sich der Gesamtstand der Lehrlinge zwischen 1998 und 1999 um 1852 erhöht. Ein Anstieg, der durch erfolgreiche Vermittlung von rund der Hälfte der 4000 Stiftungs- und Lehrgangsteilnehmer des Ausbildungsjahres 1998/99 erzielt wurde. »Dabei haben die Stiftungen nur rund 800 Millionen Schilling gekostet«, verweist Ortrun Gauper, ÖGB-Referentin für Berufsbildung, auf eine gemeinsam mit der ÖGJ und der AK-Abteilung Lehrlings- und Jugendschutz durchgeführte Analyse.2) Die Treffsicherheit des Programmes ist auch an den Rücklagen abzulesen, aus denen die Regierung nun die zehnmonatigen Berufslehrgänge finanzieren will.

Die Rücklagen aus alten Programmen sind das Geld, »das die Regierung nun verbrät«, bedauert Walter Schaffraneck, Geschäftsführer der Berufsbildungseinrichtung »Jugend am Werk«. Immerhin hatten die »niederschwelligen« Ausbildungsjahre in Stiftungen 54 Prozent Vermittlungsquote gebracht.

Nicht nur »Problemfälle«

Auch Wissenschafter Gstach fand durchwegs ausbildungsbereite Jugendliche vor. Der augenfällige Unterschied zu »völlig normalen« Jugendlichen war, dass sie eben bis zum Eintritt in eine NAP-Maßnahme trotz intensiver Bemühungen keinen Lehrplatz gefunden hatten. Gstach stieß im Wesentlichen auf drei Gruppen innerhalb des Auffangnetzes:

  • Kinder ausländischer Herkunft,
  • Schulabbrecher und
  • benachteiligte Jugendliche aufgrund von familiären Problemen und/oder Lern- und Leistungsproblemen.

Für die wenigen »NAP-Jugendlichen« mit Verhaltensdefiziten ist zu befürchten, dass sie trotz aller Unterstützung keine Lehrstelle finden. Johannes Gstach: »Die Erziehungswissenschaften schlagen seit langem vor, jene Jugendlichen, für die keine Garantie auf kontinuierliche Beschäftigung besteht, zumindest temporär einzugliedern. Diese Menschen müssen auf die Brüche in ihrer Berufsbiographie vorbereitet werden und lernen, wie sie mit Phasen von Arbeitslosigkeit oder unqualifizierter Tätigkeit umgehen, ohne zu scheitern.«

Bei den einjährigen Berufslehrgängen standen die Jugendlichen unter dem großen Druck, binnen einem Jahr eine Lehrstelle finden zu müssen. Der wurde umso vehementer, je mehr Kameraden in der Gruppe fehlten, weil sie einen regulären Ausbildungsplatz gefunden hatten.

»Da ist die Politik sehr kurzsichtig ...«

Die Regierung begründet die Reduzierung der NAP-Maßnahmen mit der »Entspannung« auf dem Lehrstellenmarkt. Gstach: »Die rein quantitativen Zahlen weisen angeblich darauf hin, dass der Lehrstellenmarkt befriedigt werden könnte. Es geht aber zentral darum, dass Jugendliche ihre eigenen beruflichen Pläne und Wünsche umsetzen können. In den einjährigen Berufslehrgängen mussten sie da sehr jonglieren und extrem flexibel sein. Radikal seine Lebenspläne revidieren zu müssen, kann für unbegleitete Jugendliche dramatische Folgen haben. Da ist die Politik sehr kurzsichtig, wenn sie aufgrund momentaner quantitativer Aspekte alle Jugendlichen wieder auf den freien Markt entlässt. Das ist pädagogisch und letztlich ökonomisch äußerst kurzsichtig.

Aus pädagogischer Sicht ist es untragbar, bestimmte Jugendliche auf den freien Lehrstellenmarkt zu werfen und zu sagen: 'Schaut's, dass ihr irgendwie unterkommt.' Weil viele unverschuldet unter die Räder geraten.«

Für den Erziehungswissenschafter Gstach ebenso dramatisch ist, dass nun die Aufnahme in Berufslehrgänge an den positiven Hauptschulabschluss geknüpft ist. »Ausgeschlossen werden nun gerade die, die eine Stütze bräuchten. Sie sind die Belastung der Zukunft für das Sozialsystem, denn wo die Nachfrage nach unqualifizierter Arbeit schwindet, bleiben keine legalen Tätigkeitsfelder für sie.«

1) Name geändert

2) Grundsatzpapier »Die berufliche Zukunft der Jugend sichern«, ÖGB, Referat für Berufsbildung, ÖGS, AK, Abteilung Lehrlings- und Jugendschutz (erstellt von Baier, Gauper, Kugi), August 2000

Stigmatisierung, Verhaltensauffälligkeiten und Arbeitstugenden

Der NAP aus der Sicht eines Erziehungswissenschafters

»Zur psychosozialen Situation von Jugendlichen in den Maßnahmen zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit im Rahmen des Nationalen Aktionsplanes (NAP).« Auszüge aus der Studie des Erziehungswissenschafters Johannes Gstach:

»Im Jugendalter werden nicht nur soziale Handlungsstrategien verfestigt, sondern durch Schulabschluss oder berufliche Qualifikation auch die spätere soziale Platzierung, der berufliche Status und somit die gesellschaftliche Anerkennung weitgehend vorentschieden. Der Bruch in der eigenen Biographie durch Arbeitslosigkeit hat weit reichende Selbstwertprobleme zur Folge. Keine Arbeit zu haben, heißt auch für Jugendliche nicht, nun genügend Zeit für ein freies, unabhängiges Leben zu haben. Es heißt vielmehr eine Zeit der - unausgefüllten - Isolation, der belasteten Familienbeziehung und der Gefühle von Diskriminierung und Stigmatisierung.

Erfolglose intensive Bemühungen

Die Tatsache, dass die Jugendlichen sich erfolglos intensiv bemüht hatten, lässt die Vermutung zu, dass sich ihre Lage von der Lage derer unterscheidet, die mehr Erfolg hatten. Eltern und andere Verwandte haben sich immer wieder an NAP-Einrichtungen gewandt und sich besorgt erkundigt, wie Jugendliche dort aufgenommen werden könnten. Manche Jugendlichen haben auch schrittweise ihre Wünsche zu revidieren versucht, um wenigstens 'irgendetwas' zu finden.

Durchgängig sind es Jugendliche, die keine schulische Ausbildung wollen, sondern sich beruflich-praktisch bewähren. Immer wieder wurde auf die Schwierigkeiten der Jugendlichen hingewiesen, die Berufsschule öfters als ihre Alterskollegen besuchen zu müssen. Da der späte Beginn der NAP-Maßnahme im November 1998 intensivere Berufsschule nötig machte, verschlechterte sich bei manchen die psychische Verfassung. Einzelne mussten schlechte Erfahrung machen. 'Arbeitslose' wurden sie von ihren Kameraden gehänselt. Das zeigt, dass vermutlich auch NAP-Jugendliche, insbesondere wenn sie einen Lehrgang besuchten, ihre Teilnahme als etwas nicht ganz Normales erlebten.

Die Probleme der benachteiligten Jugendlichen greifen ineinander über: problematische Familienverhältnisse, schulische Defizite mit Lern- und Leistungsproblemen und Probleme durch Verhaltensauffälligkeiten. Arbeitslosigkeit gehört in der Familie zum Alltag, durch Partnerwechsel der Eltern haben sie es mit wechselnden Bezugspersonen zu tun gehabt.

Wissen und ahnen...

Fähigkeiten, die für eine berufliche Ausbildung wichtig sind, haben sie oft nur mangelhaft kennen gelernt. Sie haben Schwierigkeiten im Umgang mit Konflikten, mit Aggressionen, mit Nähe, Distanz und fixen Regeln. Fähigkeiten, die unter dem Be-griff der Arbeitstugenden versammelt werden, gehören bei ihnen nicht zum normalen Verhaltensrepertoire.

Auch Jugendliche mit Lern- und Leistungsproblemen brauchen Unterstützung. Einerseits stellen sie hohe Ansprüche an den Beruf: garantiert er doch soziales Ansehen, besonders im Freundeskreis. Andererseits erwarten sie Handlungsorientierung und möglichst keine Theorie. Hier besteht die Gefahr, dass ihre zu hohen oder falschen Erwartungen zum Scheitern führen. Der Versuch, eigene Defizite in Größenwahn zu kompensieren, funktioniert jedoch nicht. Denn die Jugendlichen wissen um ihre geringen Chancen im Lehrstellenbereich. Sie ahnen, dass sie den wachsenden beruflichen Anforderungen nicht so leicht gewachsen sein werden. Das führt dazu, dass sie einerseits versuchen, dem Anpassungsdruck in Schule und beruflicher Ausbildung nachzukommen, andererseits dort, wo sie an ihre Leistungsgrenzen stoßen, auf Protesthaltung ausweichen.«

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(C) AK und ÖGB

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