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Missbrauchsdebatte im neuen Outfit | Der Sozialstaat und seine Leistungen und die Diskussion über Aus-, Um- oder Abbau

Die Bundesregierung hat sich in ihrem Budgetprogramm 2000­2003 vorgenommen, »...sich im sozialen Bereich auf strukturelle Anpassungen bei den Pensionen und die Verbesserung der Zielerreichung bei Sozialleistungen zu konzentrieren«. Und weiter: »Die Zielsicherheit öffentlicher Leistungen wird erhöht, indem die Sozialleistungen stärker auf die tatsächlich Hilfsbedürftigen konzentriert werden.«1) Diese Ziele firmieren unter dem Titel »Erhöhung der sozialen Treffsicherheit«.

Wie aus nebenstehendem Zitat ersichtlich, soll der von der Bundes-regierung neu in Diskussion gebrachte Begriff der »sozialen Treffsicherheit« wohl als ein Anliegen verstanden werden, das so-ziale Gerechtigkeit mit einem wirtschaftlich vertretbaren Mitteleinsatz verknüpft. Soziale Treffsicherheit soll also heißen, jene, die »wirklich« bedürftig sind, sollen in den Genuss staatlicher Sozialleistungen kommen. Jene, die Sozialleistungen nicht brauchen, weil sie aus eigenem Bemühen zur Selbsterhaltung in der Lage sind, sollen keine Sozialleistungen (mehr) bekommen. Regelmäßige

Überprüfung der Effizienz von Sozialleistungen ist sinnvoll

Unbestritten und politischer Konsens ist wohl, dass die Zielsetzung einer Überprüfung sozialstaatlicher Leistungen auf Effizienz, Aktualität, Wirtschaftlichkeit und Anpassung an die Bedürfnisse und Erfordernisse der Zielgruppen in regelmäßigen Abständen erfolgen muss, soll der Sozialstaat nicht aus den Fugen geraten. Wer will, dass bestimmte Leistungen weiterbestehen, muss sich auch der Auseinandersetzung über die Ziele, die Entwicklungsperspektiven, die Betroffenheiten stellen. Es kann nicht einfach darauf vertraut werden, dass sich im heute häufig schwer durchschaubaren System der sozialen Sicherheit einzelne Leistungen von selbst legitimieren. So ist es meiner Ansicht nach zum Beispiel wichtig, sich der Frage zu stellen, ob Unfallrenten die gewünschte Personengruppe unterstützen, ob es heute andere oder bessere Ansätze zur Abgeltung von Behinderungen oder Beeinträchtigungen nach Arbeitsunfällen gäbe, ob das Ausmaß der Leistung ausreicht und vieles andere mehr. Oder ob das Arbeitslosengeld für eine angemessene Existenzsicherung während Arbeitslosigkeit ausreicht oder ob das Karenzgeld auch auf nichtbeitragsleistende Gruppen ausgedehnt werden soll.

Eckpfeiler des Sozialstaates

In einer immer schnelllebigeren Zeit mit groben Umbrüchen in der Arbeitswelt und ihren zum Teil folgenschweren Auswirkungen auf die soziale Sicherheit (siehe etwa sozialversicherungslose Beschäftigung) ist ein derartiges Unterfangen nicht nur wichtig. Es ist notwendig, um die Legitimität und das Vertrauen zu und in verschiedene Eckpfeiler des Sozialstaats österreichischer Prägung nicht erodieren zu lassen, sondern vielmehr in Umbruchzeiten zu festigen und zu stärken.

Die jetzige Diskussion um die soziale Treffsicherheit geht über reine Anpassungen hinaus. Sie wirft Grundfragen über die Ausrichtung der Sozialpolitik auf.

Und es ist ja auch keineswegs falsch, derartige Grundfragen immer wieder daraufhin abzuklopfen, wie Betroffene, politische Parteien, Interessenvertretungen darüber denken. Ja, eine derartige Diskussion soll und muss geführt werden.

Überschneidungen und Überlappungen

Eine ernsthafte Diskussion über Sozialleistungen stellt sich der Frage nach Über- und Unterversorgung. Und bedeutsam sind in meinen Augen hier weniger die einzelnen Sozialleistungen an und für sich, sondern vielmehr Überschneidungen und Überlappungen, seltener auch Fragen nach der konkreten Ausgestaltung von Leistungen wie Bezugsobergrenzen, Anspruchsverlust, Geltungsbereich.

Gibt es aus verschiedenen Quellen stammende Sozialleistungen, die kumulieren? Und ist ein solches Zusammentreffen berechtigt? Wie sollen Einkommen und Sozialleistung zueinander stehen? Sollen Sozialleistungen (immer? sofort?) wegfallen, wenn jemand ein Einkommen erzielt? Einkommen aus anderen Quellen als Erwerbsarbeit (siehe etwa Vermietung, Verpachtung, Finanzvermögen...) sollen wie berücksichtigt werden?

Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, diese Fragen wären heute nicht geregelt. Sie sind es, allerdings mit einem Problem: Die Regelungen sind weitgehend unbekannt und sie werden in der Öffentlichkeit erst dann akzeptiert werden können, wenn über einen - offensichtlich immer zu wiederholenden - gesellschaftlichen Aushandlungsprozess klargelegt wird, warum eine bestimmte Entscheidung getroffen wurde.

In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich, wieder darauf hinzuweisen, dass das österreichische System der sozialen Sicherheit weitgehend über Versicherungsleistungen (Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Pensionsversicherung, Unfallversicherung...) organisiert ist und die Versorgungsleistungen (Familienleistungen, Pflegegeld, Sozialhilfe...) ergänzend wirken.

Risiko

Das heißt, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Beiträge für ihre Versicherungen einzahlen, um dann daraus im Risikofall abgesichert zu sein. So treffen Leistungen zusammen, die einerseits aus dem Versicherungsfall »Erwerbsunfähigkeit« wie etwa eine Invalididätspension und aus einer Versorgungsleistung wie dem Pflegegeld wegen Pflegebedürftigkeit stammen. Dies sind folgerichtig Leistungen, deren Anspruchsberechtigung eindeutig ist. Nicht klar ist, ob das, was heute Recht ist, auch als gerecht empfunden wird.

Denn dem Zusammentreffen mehrerer Leistungen stehen eine Reihe von Lücken im System der sozialen Sicherheit gegenüber.

Zum einen entstehen neue Lücken, die sich daraus ergeben, dass mehr und mehr sozialversicherungslose Beschäftigungsformen entstehen und in der Folge im Krisenfall keine Sozialversicherung das entfallene Einkommen überbrückt. Dieser Trend wurde im Rahmen der Pensionsreform 1997 über die Einbeziehung »aller« Erwerbseinkommen in die Sozialversicherung einzudämmen gesucht. Ausreichend waren diese Maßnahmen allerdings noch nicht. Insbesondere in der Arbeitslosenversicherung wurde für viele der neuen Beschäftigungsformen noch keine Lösung gefunden.

Ehe und Familie

Zum anderen verliert der Schutz der Ehe und Familie -als zweite Sicherungssäule - an Bedeutung, weil auch privates Zusammenleben starken Veränderungen unterworfen ist. Das bedeutet vielfach, dass Menschen ohne Krankenversicherungsschutz sind, weil es nach einer Scheidung keine Mitversicherung mehr gibt oder es bedeutet, dass eine Lebensgemeinschaft keine Hinterbliebenenpension nach sich zieht und vieles andere mehr. Und schließlich wird sichtbar, dass das zweite soziale Netz, die Sozialhilfe, weitgehend dann nicht greift und äußerst ungenügend funktioniert, wo jetzt ihre Schutzfunktion besonders gefragt ist.

Das bedeutet zusammengefasst: Ja, möglichst breit, möglichst offen, möglichst tabulos sollte endlich eine Auseinandersetzung über Ziele, Wege, Methoden in der Sozialpolitik geführt werden. Nicht zurückweichen vor etwaigen unangenehmen Fragen kann Sozialabbaupläne stoppen. Im Wettstreit der Entwicklungsalternativen kann das Terrain für einen auf Solidarität basierenden Sozialstaat (wieder-)aufbereitet werden.

Missbrauchsdebatte im neuen Outfit?

Was nun das »Treffsicherheitsthema« betrifft, sind derartig grundlegende Auseinandersetzungen im Interesse der Bundesregierung nun offensichtlich wiederum nicht. Denn: In der Öffentlichkeit wird zwar gerne der Eindruck erweckt, als handle es sich bei dieser Diskussion neutral um eine Frage der Evaluierung von Über- und Unterversorgung im Sozialnetz. Allerdings ist allein schon durch die Festlegung eines Kürzungsziels die Intention, etwa Unterversorgung durch Leistungsausweitungen aufzuheben, wohl nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden. Das einzig ernstliche Bestreben war es, Einsparungen zu erzielen.

Kürzungsziel in Milliardenhöhe vor Expertengruppen festgelegt?

Ursprünglich legte sich die Bundesregierung im Regierungsübereinkommen auf ein Kürzungsvolumen von »3 Milliarden bei Sozial- und Familientransfers, Leistungsrecht der Arbeitslosenversicherung, der Unfallversicherung, der Kranken- und Pensionsversicherung«2) fest. Nach dem Ministerratsbeschluss vom 19. September 2000 belaufen sich die Kürzungen auf eine Größenordnung von 7,7 Milliarden Schilling.

Da gab es nach Ansicht der Bundesregierung also schon vor jedweder Evaluierung - lange vor jeder Expertengruppe, zum Zeitpunkt der Regierungsbildung - die Überzeugung, milliardenschwere Beträge können im Sozialbereich eingespart werden.

Die von der Regierung eingeladene Expertengruppe kommt im zusammenfassenden Bericht »Erhöhung der Treffsicherheit des Sozialsystems«3) zum Schluss, dass neben von einzelnen Experten geäußerten Kürzungsvorschlägen eine Reihe von Ausbaunotwendigkeiten im Sozialsystem gegeben sind.

Zur Durchsetzung der Kürzungsabsichten der Bundesregierung in der öffentlichen Meinung hingegen bedurfte und bedarf es des Aufzeigens von Beispielen, die an die Gefühle der Bevölkerung rühren. Standardbeispiele sind die im Umfeld der Debatte viel zitierte Ärztin Finanzminister Grassers, die kein Karenzgeld braucht; die Hoteliersgattin, die sich in der Zeit zwischen den Saisonen arbeitslos meldet; die Hofratswitwe, die in der riesigen »Friedenszinswohnung« mit einer Beamtenpension ihre Hündchen füttert. Das ist Politik der Gefühle, die das Anlegen klarer Beurteilungsmaßstäbe verhindert.

Und diese Beispiele kennen wir schon aus einer Debatte der 80er Jahre, wo die »Treffsicherheitsdebatte« noch »Missbrauchsdebatte« hieß. Erst kürzlich war das erlösende Wort zu hören.

Überleitung in die wiederaufgeflammte Sozialmissbrauchsdebatte

So sprach FPÖ-Klubobmann Westenthaler in der ORF-Sendung »Betrifft«4) erstmals von Missbrauch, der zu bekämpfen wäre, am Beispiel des Zusammentreffens von Erwerbseinkommen und Unfallrente. Genau in dasselbe Horn stieß der Kärntner Landeshauptmann Haider mit seiner Aussage, die Sperre des Arbeitslosengeldes nach der Beendigung von Saisonarbeitsverhältnissen wäre nicht Missbrauch. Nicht der Inhalt ist in diesem Zusammenhang interessant, nein, sondern dass der Boden von der vermeintlich »neutralen« Untersuchung sozialer Treffsicherheit über Über- und Unterversorgung nunmehr bis zur Missbrauchsdebatte gespannt ist.

Alle Leistungsverbesserungsvorschläge ignoriert

Wie bereit erwähnt sind alle Vorschläge der Experten zu notwendigen Umschichtungen innerhalb des Sozialsystems, des unerlässlichen Ausbaus unterversorgter Systeme wie etwa der Sozialhilfe, offensichtlich unter die Räder gekommen.

Sie ist also wieder da: die Missbrauchsdebatte. Sie tritt uns in einem neuen Outfit entgegen und nennt sich jetzt soziale Treffsicherheit.

Ein Kennzeichen der Missbrauchsdebatte ist, dass dort Missbrauch geortet wird, wo eigentlich sozialpolitischer Regelungsbedarf wäre. Das Paradebeispiel der 80er Jahre war das erhöhte Karenzgeld, wo bis zum heutigen Tag die Mär umgeht, junge Paare würden nicht heiraten, um an das erhöhte Karenzgeld heranzukommen. Der Zugang zu einem höheren Karenzgeld ohne Trauschein existiert schon lange nicht mehr. Der Umgang mit Sozialleistungen bei Familien, die keine staatliche Erklärung zur Leistung gegenseitigen Unterhalts (Ehe!) abgegeben haben, ist weiterhin problematisch. Paradebeispiel der 90er Jahre ist das Arbeitslosengeld, das angeblich massenhaft unrechtmäßig neben Schwarzarbeit (Zitat »Anstehen um Arbeitslosengeld mit der Billa-Schürze«) aus Faulheit zum Schaden der »Braven und Fleißigen« bezogen wird. Die überdurchschnittlichen Arbeitslosenraten älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, behinderter Arbeitnehmer und von Arbeitnehmerinnen mit Betreuungspflichten für kleine Kinder, denen über lange Zeit keinerlei entsprechende Arbeitsplätze gegenüberstanden, finden in der Missbrauchsdebatte keinen Platz. Die Reihe der Beispiele ließe sich seitenlang fortführen.

Über die Begrifflichkeit hinaus gibt es noch ein untrügliches Zeichen des Anknüpfens der Treffsicherheit an die Missbrauchsdebatte: Es gibt keine einzige Stellungnahme eines Regierungsmitglieds, das öffentlich erklärt hätte, es gäbe Unterversorgung, die gezielt zu bekämpfen wäre. Zwar liegen Antiarmutsbekenntnisse von Regierungsmitgliedern zuhauf vor, aber es gibt bislang keinen einzigen5) Lösungsvorschlag, der sich auf armutsgefährdete Gruppen bezogen hätte. Das wäre auch schwierig, öffentlich zu bewältigen. Denn: Dort wo jetzt gekürzt werden soll, sind die armutsgefährdeten Gruppen zu finden.

Viel Gerede über Armut, keine einzige Hilfsmaßnahme für Armutsgefährdete, Armutsgefährdete von »Treffsicherheitspaket« besonders negativ betroffen

(Langzeit-)Arbeitslose sind erwiesenermaßen überdurchschnittlich armutsgefährdet. Dort werden die Familienzuschläge gekürzt; dort soll eine (allgemeine) Wartezeit für den Leistungsbezug eingeführt werden; dort soll die Leistungshöhe gekürzt werden6).

Anderes Beispiel: Alleinerzieherinnen sind erwiesenermaßen armutsgefährdet. Nicht nur, dass kein einziges Wort über deren Lage gefallen ist; sie werden getroffen durch Notstandshilfedeckelungen oder Kürzung der Karenzgeldfamilienzuschläge oder auch durch die Einführung von Studiengebühren für studierende Kinder. Eine Reform der Unfallrenten wäre möglicherweise sinnvoll, doch in der vorliegenden Form wird einfach von bereits einkommensschwachen Erwerbsgeminderten ein Teil der Abgeltungsleistung wegbesteuert.

Ohne öffentliche Diskussion, ohne Prüfung der Einkommenslage ganz einfach die beitragsfreie Mitversicherung für kinderlose Ehepartner abzuschaffen, lässt völlig außer Acht, wer betroffen ist und wie die soziale Lage der Familie aussieht. (Zur Einschätzung der weiteren Maßnahmen des Treffsicherheitspakets der Bundesregierung siehe auch die Beiträge von Josef Wöss in diesem Heft und von Bruno Rossmann und von Agnes Streissler im Novemberheft).

Grundsatzdebatte um künftige Ausrichtung des Wohlfahrtsstaates wäre notwendig

Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt: Was meiner Ansicht nach an der Treffsicherheitsdebatte bedeutsam und demokratiepolitisch maßgebend ist, ist das Aufwerfen der Grundsatzfrage, wohin der Wohlfahrtsstaat sich entwickeln soll.

Soll der Sozialstaat in Richtung »schlanker Staat« geschrumpft werden, soll er wieder hin in Richtung Armenfürsorge, zu »jenen, die es wirklich brauchen« abgebaut werden?

Erwerbszentriert und Bismarck'schen Versicherungsprinzipien gehorchend entstand in der 2. Republik ein System, das in seiner konkreten Ausprägung - entgegen vielfacher Polemik und Schlechtmacherei - 90 Prozent der Bevölkerung erfasst und ausreichend versorgt. So kommen etwa der Expertenbericht »Einbinden statt Ausgrenzen« 19997) und verschiedene Untersuchungen des WIFO8) zum - meiner Meinung nach überaus positiven - Schluss, dass ohne explizite Zielsetzung von Umverteilung und Armutsvermeidung über sozialstaatliche Leistungen dennoch eine groß angelegte Umverteilungswirkung erreicht wird.

Soll dieses Ziel der Umverteilung weiter verfolgt werden, so erscheint es nahe liegend, das bestehende System mit seinen guten Noten schwerpunktgemäß auszubauen, Umverteilungseffekte zu verstärken, ohne dass zu einem demütigenden System der Wohltätigkeit, zur Armenfürsorge übergegangen werden müsste.

Grundsatzfragen erneut diskutieren?

Aber auch bei grundsätzlicher Fortschreibung des bestehenden Systems stellen sich drängender als in der Vergangenheit entscheidende Fragen. Umverteilung ist gewährleistet, wenn die Einkommensstarken überproportional zum System beitragen, damit die Einkommensschwachen stärker unterstützt werden können. Wie weit kann ein System in der Zugangseinschränkung wohlhabender Teile der Bevölkerung zu Sozialleistungen gehen, ohne den Grundkonsens, das Ja zum System grundlegend zu gefährden? Die Befürworter der Einkommensstaffelung von Sozialleistungen treten sogar für den völligen Ausschluss wohlhabenderer Teile der Bevölkerung von Sozialleistungen ein. Im Fall der in Österreich vorherrschenden Versicherungsleistungen ist dieser Zugang überaus problematisch. Es kann wohl nicht ernsthaft daran gedacht werden, von Einkommensstarken Beiträge zu verlangen, die auch bei Eintritt des Risikofalles keine Absicherung bieten. Zudem erscheint ein derartiger Zugang gleichheitswidrig.

Umgekehrt drängt sich eine andere Frage im gleichen Atemzug auf: Ist das Prinzip der Lebensstandardsicherung von Sozialversicherungsleistungen weiterhin sinnvoll und ist es weiterhin finanzierbar? Im Besonderen die Pensionsversicherung wird mit dieser Frage unter Druck gesetzt.

Entpolitisierung und Entsolidarisierung

Ein kleiner Teil von Sozialleistungen hat in Österreich den Charakter einer Beihilfe. Ohne individuell zurechenbare Beitragsleistung erhalten Anspruchsberechtigte in bestimmten Lebenslagen finanzielle Zuwendungen. Das sind im Wesentlichen das Pflegegeld und die Familienbeihilfe. Hier stehen Effizienzfragen im Vordergrund. Inwiefern sind Leistungen, die Beihilfencharakter haben, in der Lage, einen messbaren Ausgleich in der spezifischen Lebenslage zu bieten? Wie viel an Ausgleich ist überhaupt gesellschaftlich erwünscht? Am Beispiel Familienförderung konkret formuliert: Ist die Erziehung und Betreuung von Kindern eher ein Privatvergnügen oder sollen sie finanziell abgegolten werden? Inwieweit sind Geldleistungen ein geeignetes Unterstützungsmittel? Was wäre ein sinnvoller Mix von Geld-, Sach- und Dienstleistungen? Wie können sich Versicherungs- und Beihilfenleistungen sinnvoll ergänzen?

Wie bereits angesprochen, erscheint mir die wiederholte Diskussion um Ziele und grundlegende Ausrichtung in der Sozialpolitik notwendig und wesentlich, soll nicht schleichend wachsenden Entpolitisierungs- und Entsolidarisierungsprozessen in der Gesellschaft der Sozialstaat zur Aushöhlung überlassen bleiben.

Die Treffsicherheitsdebatte der Bundesregierung jedoch hat dieses Ziel vollkommen verfehlt.

Einfach, weil das Ziel nicht Effizienzsteigerung, sondern simples Abbauen des Sozialstaates ist.

Alternativen zum Regierungskurs: Umbau statt Abbau

Die Aufrechterhaltung eines Wohlfahrtsstaatstyps österreichischer Prägung bedeutet kein starres Festhalten am Erreichten. Unbehagen und Unsicherheit, Einstellungen nicht zu unterschätzender Größenordnung von großen Teilen der österreichischen Bevölkerung gegenüber dem Sozialstaat, dürfen keineswegs ignoriert werden. Wo notwendige Reformen ansetzen sollten und wo eingeschlagene Wege weiter begangen werden sollten, lässt sich an drei Eckpunkten festmachen.

  • Die Entwicklung der Arbeitswelt - und dabei die Einbeziehung der Erwerbstätigen, neuer Arbeitsformen, neuer Arbeitsorganisation - ist zentral für die Aufrechterhaltung eines hohen Sozialleistungsniveaus. Hier bedarf es zeitgemäßer Anpassungen. Stichworte: neuer Arbeitnehmerbegriff, Entlastung des Faktors Arbeit, Verbreiterung der Finanzierungsbasis des Sozialstaates.
  • Der Sozialstaat bedarf einer Demokratisierung. Unübersichtlichkeit, Unüberschaubarkeit, Bürokratismus führen vielfach zu schwer überwindlichen Zugangshürden zu Rechtsansprüchen. Wenn sich mehr und mehr ein Gefühl breit machen kann, dass jene Leistungen bekommen, die »sich's richten können« und gleichzeitig Missbrauch dort geortet wird, wo eigentlich sozialstaatlicher Regelungsbedarf wäre (etwa beim Thema Lebensgemeinschaften versus Ehe), wackeln die Fundamente des Sozialstaats. Eine öffentliche Diskussion über Sinn und Unsinn, Ziele und Wirkungen von Sozialleistungen ist unvermeidlich, sollen Vertrauen und Glaubwürdigkeit in den Sozialstaat wiedergewonnen werden.
  • Eine Reihe von Neu- oder auch Reorientierungen einzelner sozialstaatlicher Systeme ist vonnöten. Sach- und Dienstleistungen - vielfach Voraussetzung von Erwerbsbeteiligungsmöglichkeiten ausgegrenzter Gruppen - sind unterentwickelt und werden durch die Diskussion über monetäre Transfers weiter an den Rand gedrängt. Stichworte: Kinderbetreuung, Altenpflege, zweiter Arbeitsmarkt. Eine Langfristplanung für die gesetzliche Pensionsversicherung zur Wiederherstellung von Planbarkeit und Sicherheit ist gefragt. Der Stellenwert der Familienförderung, besonders wichtig Alternativen zur derzeitigen Dominanz von Geldleistungen, und die konkrete Ausgestaltung in Zusammenhang mit veränderten Familienstrukturen muss verbindlich festgelegt werden. Über die Grenzen der einzelnen Subsysteme hinweg sollte eine bedarfsorientierte Mindestsicherung, die jedenfalls Teilhabe am gesellschaftlichen Leben garantiert, gesellschaftlichen Brüchen und Ausgrenzungen Rechnung tragen und die Wiederintegration fördern.

1) Budgetprogramm 2000-2003, Programm der Bundesregierung, Juli 2000, BMF, S. 8

2) »Österreich neu regieren«, Regierungsübereinkommen ÖVP-FPÖ, Februar 2000

3) Der Bericht wurde am 18. September 2000 veröffentlicht und am 19. September gingen die Kürzungsmaßnahmen durch den Ministerrat.

4) Betrifft vom 24. September 2000 in ORF 1

5) Das einzige Leistungsausweitungsvorhaben ist das Karenzgeld für alle. Dies dient allerdings nicht der Armutsbekämpfung, sondern soll - wie schon der Name sagt - für alle ohne jede Berücksichtigung der ökonomischen Notwendigkeit erfolgen.

6) Die Debatte um die mögliche Kürzung der Nettoersatzrate in der Arbeitslosenversicherung ist noch nicht abgeschlossen.

7) Expertenbericht im Auftrag des BMAGS zum Thema Armutsgefährdung in Österreich.

8) vgl. Guger A. »Umverteilung durch öffentliche Haushalte in Österreich«, WIFO, Wien 1996, oder auch Guger/Muhm »Die Verteilungswirkungen des Familienpakets 1998«

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