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Österreich hat mir rund 1300 km mehr als ein Drittel der gesamten Außengrenze der Eu zu den mittel- und osteuropäischen Ländern ...

Die Österreicher und die Erweiterung | Unterschätzte Probleme oder »Das Wrack an der Wand«

Die Distanz verkleinert die Bedenken. Jene, die nicht wie Österreich mit rund 1300 km mehr als ein Drittel der gesamten Außengrenzen zu den mittel- und osteuropäischen Ländern haben, können leicht großzügig sein. Sie sind von möglichen Pendlerbewegungen nicht betroffen. Wir begleiten eine Journalistin bei ihrer Recherche.

»Was haben denn die Österreicher gegen die Erweiterung«, habe ihr der Chefredakteur gesagt und sie nach Österreich geschickt, eine Reportage zu machen, erzählt eine junge Journalistin eines schwedischen Privat-TV-Senders. Sie macht sich mit ihrem Kameramann auf nach Wien zu einer »Erkundungsreise«.

Für die Journalistin birgt die Reise zahlreiche Überraschungen. Davon, dass Österreich mit rund 1300 Kilometer mehr als ein Drittel der gesamten Außengrenze der EU zu den mittel- und osteuropäischen Ländern hat, hat sie schon gehört.

Alles andere ist neu. Rund 60 Prozent der österreichischen Bevölkerung leben im grenznahen Raum innerhalb von weniger als 100 Kilometern Entfernung zu den Beitrittswerberländern.

Innerhalb der sogenannten Tagespendlerdistanz liegen auf österreichischer Seite die Ballungszentren Wien, Graz und Linz. Jenseits der Grenze ist die Situation ähnlich.

Auch hier konzentrieren sich die Ballungsgebiete Budweis, Brünn, Bratislava, Györ, Sopron und Marburg im Grenzraum. Die Hauptstädte Bratislava und Wien liegen lediglich 65 Kilometer voneinander entfernt.

Die »Illegale«

Tages- bzw. Wochenpendeln ist für eine 28-jährige Slowakin unweit von Bratislava schon seit Jahren Realität. Als Touristin kommt sie immer wieder »zu Besuch« nach Wien. In einem Lokal in Innenstadtnähe ist sie als »Aushilfe« schon fix eingeplant. Als Illegale müsse sie beim Verdienst schon einige Abstriche machen, hat ihr »die Chefin« gleich gesagt.

Aber auch so »verdient« sie nicht schlecht - vor allem im Vergleich zu ihrer Heimat. Und da sie ja Wien schon kennt, geht sie so nebenbei noch Putzen. Gar kein so schlechtes Zubrot.

Und gerade das Tages- und Wochenpendeln könnte ohne entsprechende Begleitmaßnahmen bei der EU-Erweiterung das entscheidende Problem für den österreichischen Arbeitsmarkt werden. Einige Vergleichszahlen sprechen für sich.

Die Löhne sind in unseren Nachbarländern extrem niedrig. So machen die durchschnittlichen Löhne zu Wechselkursen beispielsweise in der Slowakei nur 12 Prozent des österreichischen Einkommens aus, in Polen, Ungarn 15 Prozent und in Tschechien 16 Prozent. Nur Slowenien erreicht heute bereits 43 Prozent des österreichischen Lohnes.

Migranten

Aber auch die klassische Migration könnte ohne entsprechende Maßnahmen zum Problem werden. Fast jeder dritte Pole erwägt einer Umfrage zufolge nach der Osterweiterung die Arbeitssuche in einem EU-Staat. Vor allem die jungen Polen, die derzeit am Anfang ihrer Berufs- und Hochschulausbildung stehen, hoffen auf eine Zukunft im Westen. Für 35 Prozent der 18- bis 24-Jährigen steht fest, dass sie in einem der westlichen EU-Staaten Arbeit suchen wollen. Ein Drittel dieser Altersgruppe will darüber nachdenken. Nur ein Zehntel der jungen Befragten möchte auf jeden Fall in Polen bleiben. »In der EU sind die Bedingungen besser, außerdem weiß ich nicht, ob ich bei uns überhaupt Arbeit finde«, zitiert eine Warschauer Zeitung einen 19-jährigen Maturanten, der Informatik studieren will. Die Arbeitslosigkeit in Polen betrug im März dieses Jahres 15,9 Prozent.

Für den Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Klaus Zimmermann, ist das alles kein Problem. Er tritt für die sofortige Öffnung des Arbeitsmarktes nach der EU-Erweiterung ein. Zimmermann wörtlich: »Untersuchungen aus Israel und den USA haben gezeigt, dass Zuwanderung selbst in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit den Menschen im Zuwanderungsland nicht schadet. Die Neuankömmlinge suchen sich Nischen auf dem Arbeitsmarkt, die für Einheimische gar nicht mehr in Frage kommen.«

Nischen auf dem Arbeitsmarkt?

Kristina K., 43-jährige Polin, ist so eine »Nischenproduzentin« in Wien. Vor sieben Jahren hat sie ihren Lehrerinnenjob an den Nagel gehängt und sich auf den Weg nach Österreich gemacht. Putzen war anfangs ihr »Nischengeschäft«. Heute arbeitet sie in einer anderen »Nische«. Sie hat sich der asiatischen Heilkunst verschrieben und bietet in einem Hinterhof in der Wiener Innenstadt ihre erlernten Massagekünste an. Das Geschäft laufe eigentlich nicht schlecht, erzählt sie. Und dabei könnte sie »viel verdienen, wenn sie ihren männlichen Kunden spezielle Wünsche erfüllen würde«. Aber das wäre eine andere »Nischenproduktion«, um bei der Ausdrucksweise des Chefs des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zu bleiben.

Seit Mitte April verhandelt nun die EU mit den Beitrittswerberländern über das Kapitel Arbeitnehmerfreizügigkeit. Dazu hat sie die Formel »fünf plus zwei« erfunden. Für fünf Jahre soll die »Freiheit der ArbeitnehmerInnen« - eine der vier Grundrechte der EU - ausgesetzt werden. Diese Frist kann in bestimmten Fällen dann um zwei Jahre verlängert werden. »Das ist für den ÖGB nicht annehmbar«, erklärte dazu ÖGB-Vizepräsident Johann Driemer.

Feigenblatt und Vertuschung

»Meiner Meinung nach unterschätzen die EU-Kommission und die österreichische Regierung jene Probleme, die entstehen können, wenn es bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine klaren und überprüfbaren Kriterien für den Arbeitsmarkt gibt«, kritisiert Driemer. Für den ÖGB-Vizepräsidenten ist die Kommissionsformel nichts anderes als ein Feigenblatt zur Vertuschung der anstehenden Probleme. Driemer warnt, dass »mit derartigen Aktionen die Stimmung vor allem unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegen die Erweiterung und damit gegen das große europäische Friedensprojekt angeheizt wird«.

Driemer beharrt weiterhin auf die ÖGB-Position, dass es eine volle Arbeitnehmerfreizügigkeit nur bei einer Angleichung des Lohn- und Sozialniveaus an das österreichische, mindestens aber an das europäische Durchschnittsniveau geben darf. Weiters verlangt er, dass es bereits jetzt in den Grenzregionen zu den Beitrittswerberländern umfangreiche Maßnahmen geben müsse. Der ÖGB-Vizepräsident zählt dazu den Ausbau der Infrastruktur, Investitionen zur Standortsicherung der Klein- und Mittelbetriebe sowie den Auf- und Ausbau grenzüberschreitender Projekte.

Für den ÖGB-Vizepräsidenten kann die EU-Erweiterung nur gelingen, wenn bereits jetzt mit den konkreten Vorbereitungen in Form von Regionalentwicklungsplänen, Investitionen in die Infrastruktur und grenzüberschreitenden Projekten begonnen wird. Driemer: »Die österreichische Regierung ist hier säumig. Enormer Handlungsbedarf ist angesagt.«

Arbeitnehmerrechte und soziale Grundrechte

Unterstützt wird Driemer von ÖGB- und EGB-Präsident Fritz Verzetnitsch: »Ein Datum allein ist für die EU-Erweiterung zu wenig. Wir brauchen konkrete Maßnahmen, um die mit der Erweiterung verbundenen Probleme zu lösen.«

Schließlich räume sogar die EU-Kommission beim Erweiterungsprozess große Probleme mit Tages- und Wochenpendlern in den Grenzregionen ein. Verzetnitsch: »Ausschließlich auf Zeit zu setzen, halte ich daher für ein gefährliches Spiel. Wir brauchen konkrete Maßnahmen, damit die EU-Erweiterung erfolgreich ist.«

Daher sind auch für den ÖGB-Präsidenten konkrete Förderungsmaßnahmen in den betroffenen Regionen - und zwar auf beiden Seiten der Grenze - unabdingbar. Weiters müsse die EU-Erweiterung mit der Verabschiedung einer sozialen Grundrechts-Charta, einer weitgehenden Anpassung der Arbeitnehmerrechte und einer Steuerharmonisierung verbunden sein.

Verzetnitsch verlangt offensive Maßnahmen zur Erreichung dieser Kriterien: »Wer nur Fristen festlegt und sonst nichts tut, wird die EU-Erweiterung an die Wand fahren. Bei der derzeitigen Ausgangssituation kann niemand einer Fabriksarbeiterin oder einem Bauarbeiter im Osten Österreichs erklären, dass die jeweiligen Arbeitsplätze in der Grenzregion sicher sind.« Daher verlangt Verzetnitsch von der EU eine Art »Marshallplan« für die Beitrittskandidaten.

Der ÖGB-Präsident fordert daher die EU-Kommission und die österreichische Regierung auf, gemeinsam mit den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppen klare Kriterien für die Übergangszeit zu erarbeiten und sofort grenzüberschreitende Initiativen zur Erreichung der ausgearbeiteten Kriterien zu starten. Dazu zählen für Verzetnitsch neben wirtschaftlicher Unterstützung auch die Schaffung sozialer Mindestgarantien sowie klare soziale und beschäftigungspolitische Ziele.

Wohlstandsgefälle

Verzetnitsch: »Die Erweiterung der EU ist eines der größten Friedensprojekte. Wir müssen alles daransetzen, dass dieses Projekt auch zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger - sowohl in den derzeitigen EU-Staaten als auch in den Beitrittswerberländern - gelingt, sodass nicht nur große Unternehmen davon profitieren.«

AK-Präsident Herbert Tumpel hat noch ein weiteres Argument für Übergangskriterien parat. Tumpel: »Das jüngst prognostizierte Wirtschaftswachstum von vier Prozent für die Werberländer reicht bei weitem nicht aus, um das Wohlstands- und Lohngefälle zu Österreich deutlich zu verringern. Und eine Frist verstreicht, auch wenn sich nichts zum Positiven verändert hat.«

Die schwedische Journalistin sieht die EU-Erweiterung nach ihrem Österreichbesuch »deutlich anders«, wie sie sagt. Jedenfalls würden ihrer Meinung nach die Probleme größer sein, als der schwedische Ministerpräsident und einige andere EU-Regierungschefs immer wieder behaupten. Und dass das Hauptproblem im Bereich einer möglichen Pendlerbewegung liege, sehen zahlreiche französische Experten inzwischen auch so.

In der jüngsten Ausgabe des Magazins »Hommes et migrations« wird darauf hingewiesen, dass es »eine Migration mit saisonbedingtem Charakter sowie eine zunehmende Mobilität in den Grenzgebieten« geben könnte. Davon wären vor allem Deutschland und Österreich betroffen.

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(C) AK und ÖGB

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