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Soziale Grundrechte in der EU

Soziale Grundrechte in die Verfassung - wozu?

Grund- oder Menschenrechte, Freiheitsrechte, Recht auf Arbeit, Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen, Recht auf soziale Sicherung - ein Experte der Sozialpolitik erklärt hier, warum diese Rechte in der Verfassung verankert werden sollten. Dazu bringt er ausführliche Fallbeispiele und entkräftet auch Gegenargumente. Wer sich die Mühe macht, diesen Beitrag zu studieren, weiß um die Hintergründe des aktuellen Volksbegehrens zum Sozialstaat bestens Bescheid.

Die Verfassung ist das rechtliche Fundament für das Zusammenleben von Menschen in einem Staat. Zentraler Baustein jeder modernen Verfassung sind die so genannten Grundrechte. Grundrechte haben den Zweck, die wichtigsten existentiellen Anliegen der Menschen zu schützen - vor allem auch gegenüber der Staatsgewalt. Sogar der demokratisch vom Volk gewählte Gesetzgeber - das Parlament - dürfte Grund- oder Menschenrechte nur unter sehr erschwerten Bedingungen abändern oder gar beseitigen (Erreichen einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, in der Regel verbunden mit einer Mehrheit bei einer Volksabstimmung). Große Teile der Grundrechte könnten auch nur durch zusätzliche Aufkündigung internationaler Verpflichtungen Österreichs (Austritt aus der Europäischen Union und dem Europarat!) aufgehoben werden.

Freiheitsrechte

Ein Teil des typischen Grundrechtskatalogs einer modernen Staatsverfassung besteht aus den so genannten Freiheitsrechten, die meist auf die bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts gegen die absolut regierenden Herrscherhäuser zurückgehen. Diese Grundrechte garantieren den Menschen, dass sie frei von staatlichen Übergriffen leben und ihr Leben gestalten können. Im Einzelnen geht es dabei z. B. um Schutz vor unmenschlicher Behandlung durch staatliche Behörden (Folter, willkürliche Verhaftung und Todesstrafe), um Schutz der Meinungsfreiheit und des Familien- und Privatlebens (Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, freie Wahl der Partnerschaft oder Lebensform, Religions- und Gewissensfreiheit, Briefgeheimnis usw.), aber auch um den Schutz von Hab und Gut und die wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit (Schutz des Eigentums, Erwerbsfreiheit usw.).

Lebensgrundlagen garantieren

Neben diesen klassischen bürgerlichen Freiheitsrechten enthalten nahezu alle europäischen Verfassungen aber auch einen zweiten Bestand- teil des Grundrechtskatalogs: die sozialen Grundrechte. Diese beruhen auf der Überlegung, dass die Garantie persönlicher Entfaltungsfreiheit ohne die gleichzeitige Absicherung der materiellen Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben eine halbe Sache bleibt. In einem modernen Gemeinwesen sollen die Menschen nicht nur vor Polizeiübergriffen und willkürlicher Enteignung geschützt werden, sondern mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch vor Armut, Obdachlosigkeit, Krankheit ohne ausreichende medizinische Hilfeleistung usw.

Soziale Grundrechte sollen also neben der Freiheit des Menschen auch die Sicherheit der Lebensgrundlagen des Menschen garantieren! Die sozialen Grundrechte umfassen vor allem: ein Recht auf Arbeit als Grundlage für eine eigenständige Existenzsicherung (sich und seine Familie ernähren zu können), in diesem Zusammenhang ein Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen sowie ein Recht auf soziale Sicherheit, bei dem es insbesondere um die Absicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter und generell bei sozialen Notlagen geht.

Gegner

Von Gegnern der Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung werden gerne zwei Argumente angeführt:

Erstens: Der Staat könne - wie bei den Freiheitsrechten - immer nur ein Nicht-Handeln, also z. B. das Unterlassen von Polizeiübergriffen, garantieren, könne aber für niemanden einen Arbeitsplatz oder sonstwie einen ausreichenden Lebensunterhalt gewährleisten; das könne nur eine erfolgreiche Wirtschaft, nie aber der Staat. Dagegen ist zu erwidern: Dem Staat kann durch die Verfassung (an der sich staatliches Handeln ja stets orientieren muss) sehr wohl aufgetragen werden, sich bei der Gestaltung der staatlichen Politik durch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung nach Kräften um die Erreichung der Zielsetzungen der sozialen Grundrechte zu bemühen. Soziale Grundrechte werden daher oft auch als »Staatszielbestimmungen« bezeichnet. Dem Staat kann also - zumindest in einer Marktwirtschaft - kaum der Auftrag erteilt werden, für jeden einzelnen Menschen einen Arbeitsplatz zu schaffen, aber er kann sehr wohl durch die Verfassung verpflichtet werden, im Rahmen seiner Finanz- und Währungspolitik, seiner Wirtschafts- und Steuerpolitik sowie seiner Sozial-, Arbeitsmarkt- und Arbeitsrechtspolitik das Ziel der Vollbeschäftigung anzustreben. Ebenso kann ihm aufgetragen werden, im Rahmen seiner Verteilungs- und Steuerpolitik ausreichende Mittel zur bestmöglichen Krankenversorgung, zur Sicherung des Lebensstandards im Alter und zur Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens bei Arbeitslosigkeit bereitzustellen.

Alles für den Profit ...

Eine Verfassung, die diese Zielsetzungen nicht enthält, deutet an, dass auf ihrer Grundlage der Staat diese Ziele auch vernachlässigen dürfte, um ganz anderen Dingen - etwa dem rein wirtschaftlichen Erfolg der in diesem Staat ansässigen Unternehmen vor der Sicherung der Lebensgrundlagen der auf Arbeit und soziale Absicherung angewiesenen Menschen - den Vorzug zu geben. Ein Staat ohne soziale Grundrechte ist daher im Grunde genommen nur ein unvollkommener Sozialstaat.

Das zweite Argument, das gegen soziale Grundrechte eingewendet wird: Es gebe die arbeitsrechtlichen, sozialversicherungsrechtlichen und arbeitsmarktpolitischen staatlichen Maßnahmen ja ohnehin auf einfachgesetzlicher Ebene. Soziale Grundrechte in Verfassungsrang seien daher ein unnötiger juristischer Luxus ohne konkreten Nutzen für die Menschen.

Wenn diese Argumentation richtig wäre und die Formulierung sozialer Grundrechte tatsächlich nur Symbolkraft hätte, wäre der heftige Widerstand, mit dem die Gegner sozialer Grundrechte deren Verankerung in der österreichischen Verfassung bis jetzt verhindert haben, völlig unverständlich. Selbstverständlich können soziale Grundrechte in der Verfassung eine konkrete juristische Wirkung zur Steuerung des staatlichen Handelns in der Richtung einer stetigen sozialstaatlichen Entwicklung entfalten. Was die Verankerung sozialer Grundrechte in der Verfassung außerdem an juristischer Realität für den einzelnen Menschen bedeuten kann, wird im Folgenden an mehreren Beispielen dargestellt:

Profite für die Versicherungen

Fallbeispiel 1: Angenommen, der Gesetzgeber beschließt im Krankenversicherungsrecht den Umstieg vom Prinzip der Pflichtversicherung zum Prinzip der Versicherungspflicht bei einem beliebigen Versicherungsträger. Das hieße: Die Arbeitnehmer, sonstigen Erwerbstätigen, Pensionisten, Arbeitslosen usw. sind nicht mehr automatisch in den Krankenkassen versichert, sondern sind nur verpflichtet, sich gegen das Risiko Krankheit - auch auf dem freien Markt der privaten Versicherungsgesellschaften - zu versichern. Das würde dazu führen, dass private Versicherungsunternehmen jungen (geringes Krankheitsrisiko), gut verdienenden (schon ein geringer Prozentsatz des Einkommens stellt eine vergleichsweise hohe Prämie dar) Männern (keine medizinische Betreuung bei Geburten erforderlich), die in wenig gefährlichen Büroberufen arbeiten (geringes Erkrankungsrisiko), Versicherungsverträge mit sehr günstigen Prämiensätzen anbieten können. Gruppen mit höherem Risiko (ältere Menschen, Frauen, Arbeitnehmer in belastenden Berufen, weniger gut Verdienende) würden hingegen Gefahr laufen, dass sie erheblich höhere Beitragssätze in Kauf nehmen müssten bzw. dass sie mit einem wesentlich schlechteren medizinischen Angebot ihr Auslangen finden müssten.

Es wäre vor einem solchen Hintergrund durchaus denkbar, dass z. B. eine 50-jährige Fabriksarbeiterin, die einem vergleichsweise hohen Berufserkrankungsrisiko ausgesetzt ist, angesichts für sie unbezahlbarer Prämien in der Privatversicherung mit Unterstützung ihrer Interessenvertretungen den Verfassungsgerichtshof mit diesem massiven Eingriff in ihr Grundrecht auf soziale Absicherung bei Krankheit befasst.

Die Tabelle dient dazu, einen Überblick über den Inhalt der Verfassungen der Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Sie führt auf, welche sozialen Grundrechte in den Verfassungen verankert sind. Es ist aber nicht möglich, eine Beziehung zwischen dem Vorhandensein sozialer Grundrechte auf Leistung und dem Bestand und Niveau sozialer Leistungen und Einrichtungen in den betreffenden Mitgliedstaaten herzustellen. Dies wird vor allem an Österreich und dem Vereinigten Königreich deutlich, die in der Tabelle eine leere Spalte haben, tatsächlich aber natürlich soziale Rechte kennen.

Eingriffe in die Pensionen

Fallbeispiel 2: Der Nationalrat könnte in einigen Jahren (weitere) Eingriffe in das Pensionsrecht z. B. in der Form beschließen, dass pensionsversicherte Arbeitnehmer, die seit Jahrzehnten ihre Pensionsbeiträge entrichtet haben, kurz vor Pensionsantritt vom Gesetzgeber damit überrascht werden, dass ihre Pension weitaus geringer ausfallen wird, als stets zugesichert wurde. Würden soziale Grundrechte in der österreichischen Verfassung existieren, könnte der Verfassungsgerichtshof auf die Klage von Betroffenen hin auf einer soliden juristischen Basis überprüfen, ob ein solcher Eingriff des Gesetzgebers in das soziale Grundrecht auf soziale Absicherung im Alter in Abwägung mit anderen staatlichen Zielen noch zulässig war oder nicht. Nach der jetzigen Rechtslage, in der soziale Grundrechte nicht existieren, kann der Verfassungsgerichtshof solche Klagen nur anhand komplizierter juristischer Konstruktionen, die sich vom Recht auf Eigentum und dem Grundsatz der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz ableiten, abhandeln. Ohne die klare Verankerung sozialer Grundrechte, die zugunsten der pensionsversicherten Menschen in die Waagschale gelegt werden können, ist die Rechtssicherheit gering, der Ausgang solcher verfassungsgerichtlicher Verfahren also schwer vorhersagbar und eher pessimistisch zu beurteilen.

Arbeitsmarktpolitik erzwingen

Fallbeispiel 3: Gesetzt der Fall, die Arbeitslosenquote steigt ständig, immer mehr Jugendliche suchen vergeblich nach Lehrstellen oder anderen Ausbildungsplätzen, die den Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt nachgefragte Qualifikationen vermitteln, während gleichzeitig die Unternehmen über grobe Mängel in der staatlichen Arbeitsvermittlung und in der Berufsbildungspolitik klagen. In dieser Situation beschließt die die Regierung stützende Mehrheit im Nationalrat - vielleicht schon zum wiederholten Male - in einem Budgetgesetz, die (aus Beitragszahlungen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber stammenden) Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik für andere Zwecke zu verwenden und auch die Bildungspolitik zurückzuschrauben, während gleichzeitig andere Budgetkapitel kräftige Ausdehnungen erfahren.

Die Opposition könnte hier in Ausübung ihres Rechtes, Gesetze durch den Antrag einer bestimmten Anzahl von Nationalratsabgeordneten vom Verfassungsgerichtshof prüfen zu lassen, gegen eine derartige bewusste Entscheidung der Regierungsmehrheit gegen das Ziel der Vollbeschäftigungspolitik vorgehen. Das Höchstgericht hätte dann zu prüfen, ob der Gesetzgeber das im Grundrecht auf Arbeit festgelegte Vollbeschäftigungsziel zu Recht - in Abwägung mit anderen grundrechtlich geschützten Werten der Verfassung - aufgegeben hat oder ob sein Handeln verfassungswidrig war.

Sonn- und Feiertage

Fallbeispiel 4: Der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit gibt dem Drängen bestimmter Handelsunternehmen nach und erklärt die Beschäftigung von Arbeitnehmern im Einzelhandel an Sonn- und Feiertagen durch eine Verordnung generell für zulässig. Eine betroffene Handelsangestellte, die in Zukunft jeden zweiten Sonntag im Geschäft verbringen soll, bringt die Verordnung wegen Gesetzwidrigkeit vor den Verfassungsgerichtshof. Welche Ausnahmen von der Sonn- und Feiertagsruhe der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit durch Verordnung zulassen darf, ist nach derzeitigem Recht in relativ hohem Ausmaß eine Frage der Auslegung einer Bestimmung im Arbeitsruhegesetz, auf die solche Verordnungen gestützt werden.

Würde es ein Grundrecht auf angemessene Arbeitsbedingungen geben, das auch die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen umfasst, wäre das eine wesentliche Weichenstellung für die Auslegung der entsprechenden Gesetzesstelle: Gesetze müssen nämlich verfassungskonform - also insbesondere unter Berücksichtigung von Grundrechten - ausgelegt werden. Die Chance, eine solche Verordnung zu Fall zu bringen, wäre bei Existenz entsprechender sozialer Grundrechte daher wesentlich höher.

Keine Eingriffe in Kollektivverträge

Fallbeispiel 5: Irgendwann kommt die Regierung zu der Auffassung, Österreich sei in einer wichtigen Branche nicht wettbewerbsfähig genug; die Löhne dort seien zu hoch. Also wird dem Parlament ein Gesetzentwurf mit dem Inhalt vorgelegt, dass die von den Gewerkschaften zuletzt ausverhandelten kollektivvertraglichen Lohn- und Gehaltserhöhungen aufgehoben werden. In diesem Jahr findet daher - auf der Grundlage eines gesetzlichen Eingriffes in die Kollektivverträge dieser Branche - keine Erhöhung der Einkommen der dort beschäftigten Arbeitnehmer statt. (Das Beispiel ist übrigens hoch aktuell: Die derzeitige Regierungsmehrheit im Parlament hat - einmalig in der 2. Republik - tatsächlich bereits per Gesetz kollektivvertragliche Ansprüche verschlechtert!)

Würde die österreichische Bundesverfassung im Rahmen eines Grundrechts auf gerechte Arbeitsbedingungen ausdrücklich den Kollektivvertrag als das Instrument anerkennen und schützen, mit dem die Gewerkschaften die Verhandlungsschwäche des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber den Unternehmen durch das solidarische »Gemeinsam sind wir stark!« ausgleichen können, wäre ein solcher Eingriff in kollektivvertraglich erreichte Arbeitsbedingungen verfassungsrechtlich sicher nicht haltbar.

Zentraler Wert unserer Gesellschaft

Das Sozialstaatsprinzip ist wohl schon längst in den Köpfen der meisten Menschen in Österreich fest verankert. Viele Menschen leben daher in dem Gefühl, der Sozialstaatsgedanke sei ohnehin schon so etwas wie ein ungeschriebener Bestandteil unserer Verfassung. Dieses Gefühl trügt: Eine einfache Mehrheit im Nationalrat - in manchen Angelegenheiten (z. B. in der Sozialhilfe) auch in einem Landtag - kann relativ tief gehende Einschnitte in die rechtliche Ordnung des Arbeitslebens und des Arbeitsmarktes und in unser Sozialsystem beschließen, ohne dabei auf klare verfassungsrechtliche Grenzen zu stoßen. Es ist wichtig und unverzichtbar, dass unsere Freiheitsrechte vor staatlichen Übergriffen geschützt werden. Aber unser Grundrechtskatalog bleibt eine halbe Sache, wenn nicht auch die sozialen Existenzgrundlagen gegen einschneidende Rückschritte abgesichert werden.

Aus diesen Gründen haben von allen 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union 13 soziale Grundrechte in der Verfassung, nur Österreich und das Vereinigte Königreich nicht! Neben der Freiheit gehört auch die soziale Sicherheit als zentraler Wert unserer Gesellschaft endlich in den Grundrechtskatalog der österreichischen Bundesverfassung!

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