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Ungarn: Arbeitsmarkt und EU

INTERNATIONALES

Unser Korrespondent in Budapest, der dort Soziologie unterrichtet, berichtet in diesem Beitrag über die Haltung der Ungarn zum Westen und zur EU, z. B. von einer Umfrage, wer bereit wäre, nach einem Beitritt zur EU im Westen Arbeit zu suchen.

Meine Studenten an der Budapester Universität sind skeptisch und gar nicht so begeistert, wie ich das von ihnen eigentlich erwartet hätte; wir reden in meinem Blockseminar über die »Erweiterung der EU« und über »Ungarns Chancen«. Wie im Kreise meiner Studenten, so herrscht in ganz Ungarn die Meinung: »Gerne nach Brüssel, aber nicht ohne Wenn und Aber ...« Vor allem die Globalisierung und die dadurch zunehmende Arbeitslosigkeit, aber auch der »große Appetit« internationaler Unternehmen ängstigen die wirtschaftspolitisch eher konservativen Magyaren. Meine beste Studentin, eine ungarische Roma, bringt die ganze Sache auf den Punkt: »Herr Professor, glauben Sie uns: Mit dem Hirn sind wir dabei, aber nicht mit dem Herzen ...!«

Wer die Ungarn kennt, der weiß, dass sie »ohne Herz« nicht viel zu machen bereit sind, erst recht nicht auf Arbeitssuche in den Westen zu gehen. Nur ganze 7 Prozent aller Ungarn würden nach einer erfolgten EU-Mitgliedschaft gerne im westlichen Ausland eine Arbeit suchen. Immerhin: 57 Prozent der Befragten würden »unter gar keinen Umständen« einen westlichen Arbeitsplatz anstreben.

Umfrage in fünf Ländern (MOEL)

Diese Zahlen stammen aus der Untersuchung des führenden ungarischen sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts »Tárki«, das gemeinsam mit dem polnischen Partnerinstitut CBOS und dem tschechischen CVVM in fünf Ländern die zentrale Frage stellte: »Haben Sie vor, nach Aufnahme ihres Landes in die EU, in einen anderen Mitgliedstaat arbeiten zu gehen?«

Die größte Bereitschaft, einen ausländischen Arbeitsplatz zu suchen, zeigen die Rumänen (17%) und die Polen (13%), gefolgt von den Bulgaren (10%), Ungarn (7%) und Tschechen (4%). - Auf der anderen (»Mobilitätsverweigerer«-)Seite führen die Ungarn (57%), gefolgt von den Tschechen (45%), Bulgaren (42%), Rumänen (39%) und Polen (31%). Demnach sind die Polen am ehesten bereit, einen - besser als in ihrem Land - bezahlten Arbeitsplatz »im Westen« zu suchen; hier ist auch der Anteil der »Sesshaften« am niedrigsten.

»Lieblingsländer«

Die drei - ungarischen, polnischen und tschechischen - Forschungsinstitute, die gemeinsam die »Mitteleuropäische demoskopische Forschungsgesellschaft« (CEORG) gegründet haben, untersuchten auch die Lieblingszielländer künftiger Arbeitsmigranten: An erster Stelle steht Deutschland, wo 27 bis 48 Prozent aller Migrationswilligen eine neue Arbeit aufnehmen würden, gefolgt von Österreich, wo sich nur 24 Prozent niederlassen wollen.

Die überwiegende Mehrheit der Ungarn (70%), Polen (76%) und Tschechen (66%) vertreten die Meinung, dass im Falle von Übergangsbestimmungen durch die EU (»Verhinderung des freien Arbeitskräfteflusses«), auch die Kandidatenländer Sonderkonditionen aushandeln müssten. - Meine ungarische Studentin hat auch diesen Wunsch auf den richtigen Punkt gebracht: »Wenn wir nicht im Westen arbeiten dürfen, dann sollten die Multiunternehmen bei uns nicht alles aufkaufen dürfen ...« Auch hier zeigt sich ein gewisser »Euro-Pessimismus«.

Sozialpolitisches Niveau

Noch vor dem Beitritt ihres Landes fordern die ungarischen Gewerkschaften einen aktiven »sozi- alen Dialog« von der Regierung. Als Ziel dieses Dialoges definiert der Vorsitzende des größten Gewerkschaftsverbandes (MSZOSZ), Lászlo Sándor, die Möglichkeit einer effektiven Weiterbildung ungarischer Arbeitnehmer. Der Gewerkschaftspräsident und sozialistische Parlamentarier spricht auch im Namen anderer führender Gewerkschafter, wenn er eine baldige EU-Aufnahme Ungarns fordert, um auch hier »das hohe sozial- und arbeitsmarktpolitische Niveau der EU« erreichen zu können und hofft dabei auf den »notwendigen Druck der Gemeinschaft«.

MSZOSZ-Präsident Sándor ist davon überzeugt, dass die 3,8 Millionen Arbeitnehmer und die 3,1 Millionen Pensionisten und Rentner Ungarns die Volksabstimmung über den EU-Beitritt entscheiden werden.

Im Gegensatz zur Regierung wollen die meisten Gewerkschafter die vor allem von der österreichischen Bundesregierung vehement geforderten Übergangsbestimmungen nicht akzeptieren. So wollen die Metallgewerkschafter und ihr Vorsitzender Károly Szöke die »Hemmung des Arbeitskräfteflusses« nicht akzeptieren. Obwohl die ungarische Schwerindustrie und das Verkehrswesen immer mehr Arbeitskräfte »freisetzt«, rechnet der Vorsitzende der Eisenbahnergewerkschaft, Imre Márkus, mit »keiner Flucht dieser Menschen ins westliche Ausland«, wie er das sinngemäß der »Pester Lloyd« erklärte.

Diplomierte Hilfsarbeiter

Der Pessimismus vieler Ungarn findet sich als skeptischer Unterton in den Medien wieder. So schreibt z. B. die Budapester »Pester Lloyd«: »Für die Österreicher sind Pendler aus dem Nachbarland längst an der Tagesordnung, die sich mit einem Diplom in der Tasche als Hilfsarbeiter verdingen.« Und weiter kommentiert leicht erbittert die Zeitung die Bereitschaft der ungarischen Politik, die Übergangsbestimmungen von sieben Jahren voll zu akzeptieren: »Damit degradieren sich die Ungarn im Haus Europa zu Bürgern zweiter Klasse.«

Im »ungarischen Hirn« haben sich die guten Verdienstmöglichkeiten »im Westen« (gemeint vor allem Österreich und Deutschland) festgesetzt. Es ist verständlich, wenn eine ausgebildete ungarische Mittelschullehrerin nicht zu Hause für 60.000 Forint (Euro 240,-) arbeiten geht, wenn sie als Putzfrau, Bedienerin in Wien oder in Wiesbaden das vielfache verdienen kann. Der Bruttolohn eines Universitätsabsolventen im öffentlichen Dienst beträgt ganze 100.000 Forint (Euro 400,-). So ist es kein Wunder, wenn ungarische Spitalsärzte, die auch nicht mehr verdienen, lieber in Österreich oder in Deutschland in die private Krankenpflege gehen.

Trotz dieser und ähnlicher Einkommensunterschiede zwischen den meisten EU-Mitgliedstaaten und den Kandidatenländern würden vor allem die Ungarn gerne im eigenen Land bleiben. Ihre mangelnde Mobilitätsbereitschaft zeigt sich auch im eigenen Land; den Arbeitsämtern gelingt es kaum, ostungarische Arbeitslose auf westungarische Arbeitsplätze zu vermitteln. Noch dazu sind die Fremdsprachenkenntnisse der Ungarn nicht sonderlich entwickelt; außer unter westungarischen Zahnärzten und Kellnern - aber auch sie wollen die Heimat, wo das »Herz« bleibt, nicht verlassen.

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(C) AK und ÖGB

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