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Arbeitsmarktreform Österreich 2003

SCHWERPUNKT

Was heißt aktive Arbeitsmarktpolitik? Wie steht es um die Budgets dafür? Eskaliert die Krise auf dem Arbeitsmarkt zum Notfall? Wie sollte eine Arbeitsmarktreform aussehen?

Es scheint, als wären wir an einem Nullpunkt angelangt: Die Arbeitslosenzahlen steigen weiter, die Beschäftigtenzahlen sinken, und auch für die, die Arbeit haben, steht nicht alles zum Besten: Immer mehr Arbeitsplätze werden nur in Form von Teilzeitjobs oder befristet angeboten oder stehen außerhalb der Schutzmechanismen des Sozialstaates und des Arbeitsvertragsrechtes. Sie sind nur als Werkvertrag oder als freies Dienstverhältnis zu haben. Kein Wunder, dass die Lohnquote sinkt und dass Existenzangst auch bei Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, um sich greift. Es liegt auf der Hand, dass neben anderen Politikbereichen auch die Arbeitsmarktpolitik in dieser Situation gefordert ist, Lösungen anzubieten. Doch zu allem »Überfluss« sind die Kassen des Arbeitsmarktservices (AMS) gerade jetzt leer. Die Budgets für aktive Arbeitsmarktpolitik sind seit 1999 eingefroren, die Überschüsse in der Arbeitslosenversicherung wurden zum Erreichen des »Nulldefizits« abgeschöpft und 2002 muss vom AMS als Konsequenz dieser Politik ein Abgang von 875 Millionen Euro verzeichnet werden. Einfach weitermachen wie bisher ist auf dieser Basis ausgeschlossen, wenn die Krise auf dem Arbeitsmarkt nicht zum absoluten »Notfall Arbeitsmarkt« eskalieren soll.

1. Wir brauchen ein neues Bild vom Arbeitsmarkt

Unser Begriff von »den Arbeitnehmern und den Arbeitslosen« ist antiquiert. Die einen sind die, die arbeiten, die anderen sind - je nach Weltsicht - entweder die »Ärmsten der Armen« oder »Sozialschmarotzer«. Es ist auch immer »nur« die Rede von 250.000 bis 300.000 Arbeitslosen, das ist die Bestandszahl, die angibt, wie viele Menschen zum jeweiligen Statistikstichtag gerade gleichzeitig Arbeit suchend vorgemerkt sind. Tatsächlich aber waren 2001 mehr als 800.000 Menschen einmal im Jahr arbeitslos. Wie Gernot Mitter in seinem Befund zum österreichischen Arbeitsmarkt darstellt (vergleiche den Beitrag auf Seite 18), muss praktisch jeder dritte Arbeitnehmer (AN) eine gewisse Zeit im Jahr seinen Lebensunterhalt vom Arbeitslosengeld bestreiten.

Arbeitslosigkeit ist offenbar nichts, was heute noch mit Begriffen des Sozialkitsches (»Ärmste der Armen«) oder des selbstgefälligen Moralisierens (»Sozialschmarotzer«) adäquat zu beschreiben wäre. Es sind nicht Außenseiter, die Arbeitslosigkeit betrifft, sondern es ist unser gemeinsamer Arbeitsmarkt, der zunehmend nur noch so funktioniert, dass er für einen wachsenden Teil der Arbeitnehmer praktisch nur noch »Jahresteilzeit« anbietet, mit dem Arbeitslosengeld als quasinormaler Teileinkommensquelle. Nicht weil diese AN das so wollen, sondern weil das so ist in der neuen Zeit der »Just-in-time-Produktion«, des Kostensenkens und -auslagerns bei Unternehmen, der Deregulierung und Flexibilisierung und wie diese Kürzel alle lauten. Und hinzu kommen wie gewohnt konjunkturelle und strukturelle Probleme. Nur mit dem Unterschied, dass Umstrukturierungen nicht mehr phasenweise wie früher, sondern praktisch als permanenter Prozess stattfinden. Noch ehe eine Strukturverschiebung beendet ist, wird sie von der nächsten überlagert, und für viele bedeutet das zumindest das zeitweise Aus für ihren Arbeitsplatz. Immer noch in der Vorstellung von »den Arbeitnehmern« einerseits und den »Arbeitslosen« andererseits zu verharren, als wären dies zwei eigentlich ganz unterschiedliche Gruppen, für die es letztlich unterschiedliche Politiken zu formulieren gilt, führt daher zu falschen Lösungsansätzen. Es gibt nur jene AN, die gerade in Arbeit stehen und jene, die gerade eine Arbeit suchen ohne eine zu haben. Es gibt aber auch jene, die zwar Beschäftigung haben, jedoch außerhalb des Arbeitsvertragsrechtes und bei nur ungenügender sozialversicherungsrechtlicher Absicherung.

Diese Gruppe wächst, sie und ihre ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen sind daher ebenso relevant wie die nackten Arbeitslosenzahlen, wenn der Arbeitsmarkt von heute ausreichend beschrieben und beurteilt werden soll. Es gibt allerdings noch einen Punkt, den wir bei der Beurteilung des Arbeitsmarktes beachten müssen: Wollen wir die neben der Aufklärung wichtigste europäische Errungenschaft sichern, den Sozialstaat, so müssen wir für einen wirklich funktionierenden Arbeitsmarkt sorgen. Es geht darum, dass wir auch künftig die Pensionen in ausreichender Höhe zahlen können und dass auch künftig Spitzenmedizin und Topversorgung bei Krankheit nicht zum Luxus für Wohlhabende oder Reiche verkommt. Der Schlüssel dafür liegt auf dem Arbeitsmarkt, und zwar nicht darin, dass möglichst viele irgendeine Arbeit haben oder sonstwie aus der Arbeitslosenstatisik verschwinden. Garantiert wird die finanzielle Grundlage für die soziale Sicherheit nur durch produktive, gut bezahlte und sozialversicherte Arbeit; durch einen tatsächlich umfassend funktionierenden Arbeitsmarkt, der die Interessen aller drei Arbeitsmarktpartner berücksichtigt: Jene der AN, jene der Arbeitgeber (AG) und das Finanzierungsinteresse der öffentlichen Hand, die im Auftrag der Solidargemeinschaft handelt.

BEGRIFFE

Werkvertrag: Im Unterschied zum Arbeitsvertrag wird nur das Erbringen eines bestimmten Werkes und nicht das regelmäßige Erbringen einer Arbeitsleistung gefordert. Bezahlt wird daher auch nur das vereinbarte Honorar, egal, wie viel Zeit und sonstige Ressourcen für die Fertigstellung des Werkes aufgewendet werden mussten. Sozialversicherung liegt keine vor. Typische Leistungen aus dem Arbeitsverhältnis, wie z. B. bezahlter Urlaub oder Lohnfortzahlung bei Krankheit, sind naturgemäß auch nicht vorgesehen.

Freies Dienstverhältnis, freier Dienstvertrag: Im Unterschied zum Arbeitsvertrag ist die persönliche Abhängigkeit kaum ausgeprägt, es wird jedoch nicht das Ab-liefern eines bestimmten Werkes wie beim Werkvertrag, sondern eine dauerhafte Arbeitsleistung gefordert. Mit dem Arbeitsvertrag verbundene typische Schutzbestimmungen und Rechte (z. B. Vollversicherungsschutz oder Entstehen eines Abfertigungsanspruchs) sind beim freien Dienstvertrag nicht oder nur teilweise gegeben.

Lohnquote: Anteil der Lohneinkommen am Gesamteinkommen aus selbständiger und unselbständiger Arbeit.

Nulldefizit: bedeutet, dass in einem bestimmten Jahr keine Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte erfolgt (Einnahmen und Ausgaben halten sich im betreffenden Jahr die Waage).

Just-in-time-Produktion: Es wird nicht auf Vorrat, sondern nur für einen bestimmten Auftrag mit vorgegebenem Termin produziert. Die dafür benötigten AN werden großteils nur genau für diesen Auftrag eingestellt und danach wieder gekündigt.

Ersatzrate beim Arbeitslosengeld: Prozentsatz, den das Arbeitslosengeld im Vergleich zum vorherigen Nettolohn, nach dem es bemessen wurde, ausmacht.

Aktive Arbeitsmarktpolitik: Darunter werden Arbeitsvermittlung, Beratungsleistungen des AMS und vor allem die Arbeitsmarktförderung (z. B. Finanzierung von Kursen) verstanden.

2. "Verantwortlichkeitsprinzip« als Handlungsvorgabe für Arbeitnehmer, Arbeitgeber und öffentliche Hand

Wir alle haben schon von der schnellen Lösung dieser Probleme gehört: Angeblich bedarf es nur der »Modernisierung«, der »Flexibilisierung«, einer Lohn(neben)kostensenkung und manchmal auch des »Mutes zur Konfliktgesellschaft« statt der ewigen »Konsenssuche« aus den Zeiten der gut funktionierenden Sozialpartnerschaft. Nur, wer definiert, was das heißt, und wer bestimmt, wie die Lasten und wie der Nutzen bei dieser Vorgangsweise verteilt werden? Tragfähige Lösungen können jedenfalls nur erarbeitet werden, wenn alle beteiligten Gruppen dabei mitwirken und wenn Lasten und Nutzen gleichmäßig verteilt werden. Das gilt auch für die notwendige Arbeitsmarktreform: Sowohl AN als auch AG und die öffentliche Hand haben ihren Teil der Verantwortung zu tragen und dürfen nicht einseitig einer Gruppe, z. B. den AN, »Modernisierung« oder »Flexibilisierung« vorschreiben und dabei selbst im Trockenen bleiben. Dieses neue Verantwortlichkeitsprinzip aller drei Arbeitsmarktpartner muss nachweisbarer Handlungsleitfaden für eine Arbeitsmarktreform sein. Nachweisbar heißt, dass Nutzen- und Kostentragung transparent zu machen sind und deren gleichmäßige Verteilung belegbar sein muss.

BEGRIFFE

Umstrukturierungen, Strukturverschiebungen, Strukturprobleme: Wesentliche Änderungen im Wirtschaftsgefüge mit dem Effekt, dass bestimmte Ausbildungen weniger oder gar nicht mehr gebraucht werden und andere Ausbildungsinhalte an Bedeutung gewinnen oder neu entstehen. Dies führt oft zu Kündigungen von AN mit »veralteten« Qualifikationen und einem unter Umständen parallel dazu auftretenden »Fachkräftemangel«, bezogen auf neue Ausbildungsinhalte, weil es (noch) nicht genügend AN mit den neu nachgefragten Qualifikationen gibt. Abhilfe kann nur durch rechtzeitige Qualifikationsmaßnahmen geschaffen werden.

Frühwarnsystem: Die EU-Richtlinie betreffend »Massenkündigungen« und das österreichische Arbeitsmarktförderungsgesetz schreiben die Einrichtung eines »Frühwarnsystems« vor.

Demnach muss es dem AMS gemeldet werden, wenn ein Unternehmen (in Österreich ab einer Betriebsgröße von 20 AN) eine bestimmte Anzahl von Kündigungen (in Österreich je nach Betriebsgröße mindestens 5 bis mindestens 30 Kündigungen) innerhalb eines definierten Zeitraums (in Österreich innerhalb von 30 Tagen) plant.

Unterlässt der AG diese Meldung, so sind die Kündigungen nach österreichischem Recht rechtsunwirksam. In manchen EU-Ländern gibt es noch weitergehende Sanktionen für diesen Fall (Strafe für den AG oder Zahlung einer zusätzlichen Kündigungsentschädigung).

Ersatzrate beim Arbeitslosengeld: Prozentsatz, den das Arbeitslosengeld im Vergleich zum vorherigen Nettolohn, nach dem es bemessen wurde, ausmacht.

Ausgleichszulagenrichtsatz: »Armutsgrenze« in der Pensionsversicherung. Liegt eine ASVG-Pension versicherungsmathematisch unter dem Grenzwert des »Ausgleichszulagenrichtsatzes«, wird eine Ausgleichszulage bis zum Erreichen dieses Wertes bezahlt, weil dieser als »Armutsschwellwert« angenommen wird.

Der Ausgleichszulagenrichtsatz für Alleinstehende beträgt 2003: 643,54 Euro monatlich.

3. Vorbeugung, Qualifikation, Integration und existenzielle Sicherheit als Leitbild der Arbeitsmarktpolitik

»Vermittlung geht vor Qualifikation« ist - verkürzt dargestellt - die aktuelle Handlungsrichtschnur der Arbeitsmarktpolitik. Auch die Qualifikation stellt vorwiegend auf Billigmaßnahmen ab. Sie ist auf das absolut Notwendige zur raschen Wiedervermittlung reduziert und beabsichtigt nicht die nachhaltige Erweiterung des Qualifikationsprofils der Arbeit Suchenden.

Diese Orientierung hatte ihre guten Gründe, denn die Erlangung eines Arbeitsplatzes ist ja im Prinzip das, worauf es ankommt. Hinter diesem Prinzip steht aber letztlich auch die Vorstellung, das AMS könnte durch rasche Vermittlungsaktionen nahezu im Alleingang die Arbeitsmarktstatistik sanieren. Wohlgemerkt - nicht den Arbeitsmarkt, nur die Statistik. Denn der Arbeitsmarkt, der wie die Analyse Mitters klar macht, wie ein sich rasch drehendes Karussell funktioniert, ist durch Arbeitsvermittlung nicht zu sanieren. Zunächst führt die aufgezeigte hohe Dynamik des österreichischen Arbeitsmarktes ja dazu, dass bei einem Großteil der Arbeit Suchenden die Selbstvermittlung - sehr effizient unterstützt durch die Dienste und Infrastruktur des AMS - bestens funktioniert. Dann aber ist schon der permanente Strukturwandel der entscheidende Knackpunkt (neben anderen - z. B. konjunkturellen - Ereignissen, die nicht über das AMS beeinflusst werden können). Hier muss es aber primär darum gehen, den Arbeit Suchenden das nötige fachliche Rüstzeug mitzugeben, damit sie möglichst gut auf die Arbeitsmarkterfordernisse eingestellt sind. Und das ist ohne genaue Einzelfallanamnese und in vielen Fällen ohne hochwertige Qualifikationsmaßnahmen eben nicht zu leisten.

Eine Ausrichtung auf nachhaltige Maßnahmen macht aber auch eine vorausschauende Handlungsweise zunehmend wichtig, da der Zeitfaktor an Bedeutung gewinnt, wenn es weniger darum geht, einfach nur das Arbeitsmarktkarussell am Laufen zu halten, sondern eine dauerhaftere und qualitativ anspruchsvollere Integration in den Arbeitsmarkt zu fördern. Eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik ist letztlich auch wirtschaftlicher und daher für die öffentlichen Kassen günstiger als eine, die nur auf den schnellen Statistikeffekt abzielt. Und schließlich ist eine auf Nachhaltigkeit gerichtete Arbeitsmarktpolitik ein entscheidender Beitrag zur Weiterentwicklung des Qualifikationsniveaus der österreichischen AN und somit ein wesentlicher Faktor für die Standortqualität im internationalen Wettbewerb. Wird daher unter den Bedingungen eines sehr dynamischen Arbeitsmarktgeschehens, das zunehmend überlagert ist von ständigen strukturellen Veränderungen der bisherige Ansatz »Vermittlung geht vor Qualifikation« unverändert beibehalten, so leiden darunter die Qualität der Einzelfallanalyse, die Qualität der Beratungsdienstleistung und die Qualität der Schulungen, die angeboten werden. Das Ergebnis sind Fehlvermittlungen zur Unzufriedenheit von AG und AN, Ressourceneinsatz für Ziele, die zu sehr dem Schein dienen und das Versäumnis, den Arbeit Suchenden das für den Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt erforderliche Rüstzeug mitzuliefern. Was wir brauchen, ist daher eine Kurskorrektur in der Arbeitsmarktpolitik, die dem tatsächlichen Arbeitsmarktgeschehen gerecht wird und die Interessen von AN, AG und die der öffentlichen Kassen am besten unter einen Hut bringt. Eine Kurskorrektur dieser Art muss Prävention, Qualifikation, nachhaltige Integration und Existenzsicherung zum Inhalt haben.

»Praktisch muss jeder dritte Arbeitnehmer eine gewisse Zeit im Jahr seinen Lebensunterhalt vom Arbeitslosengeld bestreiten.«

BEGRIFFE

Notstandshilfe: Leistung der Arbeitslosenversicherung, wenn die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ausgeschöpft ist und weiterhin Arbeitslosigkeit vorliegt. Die Notstandshilfe beträgt grundsätzlich 92% des Arbeitslosengeldes.

Es erfolgt jedoch eine Einkommensanrechnung: Demnach wird die Notstandshilfe gekürzt - abhängig von der Höhe des Einkommens von Ehepartner, Lebensgefährten oder des eigenen Einkommens, z. B. aus Vermietung; die Notstandshilfe kann durch die Einkommensanrechnung auch zur Gänze wegfallen.

Aktive Arbeitsmarktpolitik: Darunter werden Arbeitsvermittlung, Beratungsleistungen des AMS und vor allem die Arbeitsmarktförderung (z. B. Finanzierung von Kursen) verstanden.

Passive Arbeitsmarktpolitik: Unterstützungszahlungen aus der Arbeitslosenversicherung, wie vor allem Arbeitslosengeld und Notstandshilfe.

Pensionsersatzzeiten: Zeiten des Arbeitslosengeld- und des Notstandshilfebezugs gelten als »Ersatzzeiten« in der Pension, d. h., sie wirken anspruchsbegründend in der Pensionsversicherung und haben eine positive Auswirkung auf die Pensionshöhe.

Nachdem dadurch der Pensionsversicherung Kosten entstehen - ohne Beitragszahlung als Gegenleistung -, muss die Arbeitslosenversicherung eine jährliche Ausgleichszahlung an die Pensionsversicherung leisten.

Zumutbarkeit: Arbeitswilligkeit ist eine der Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld und Notstandshilfe. Die Arbeitswilligkeit ist durch Bereitschaft zur Annahme einer »zumutbaren« Beschäftigung nachzuweisen.

Als »zumutbar« gilt eine Beschäftigung, die »angemessen« (d. h., in Höhe des kollektivvertraglichen Mindesttarifs) entlohnt ist, die Gesundheit und Sittlichkeit des Arbeitslosen nicht gefährdet, seinen körperlichen Fähigkeiten entspricht und seine künftige Verwendung im erlernten Beruf nicht wesentlich erschwert.

4. Neuausrichtung der österreichischen Arbeitsmarktpolitik

Schaffung einer vorbeugenden Arbeitsmarktpolitik: In der Regel setzt die arbeitsmarktpolitische Intervention heute viel zu spät an. Erst wenn Arbeitslosigkeit schon eingetreten ist, wird gehandelt. Dabei könnte durch eine systematisch vorausschauende Arbeitsmarktpolitik viel Schaden vermieden werden. Dazu gibt es erfolgreiche europäische Beispiele, auf die hier aber im Einzelnen nicht eingegangen werden kann. Voraussetzung für die Umstellung auf eine präventive Arbeitsmarktpolitik ist aber, dass alle drei Arbeitsmarktakteure ihr bisheriges Verhalten teilweise anpassen. So ist es nicht sehr zweckmäßig, wenn Firmen zwar dem AMS geplante Kündigungen nach dem Frühwarnsystem melden (weil sie das müssen), gemeinsame Beratungen, was dagegen getan werden könnte, jedoch verweigern (im Widerspruch übrigens zur Europarechtslage).

Als Erstes müsste daher das österreichische Frühwarnsystem den europarechtlichen Erfordernissen angepasst werden, und es sollten gute europäische Praktiken übernommen werden. Demnach wäre bei Massenkündigungen sowohl Kündigungsabsicht als auch tatsächlicher Kündigungsausspruch gegenüber dem AMS meldepflichtig zu machen und das verbindliche Einleiten von Gesprächen über Vorbeugemaßnahmen festzulegen.

Zu überlegen wäre auch, ob diese Verpflichtung so wie in Dänemark, Schweden, Finnland und Belgien mit Geldstrafen oder der Verpflichtung zu einer zusätzlichen Kündigungsentschädigungszahlung durch den AG unterstützt werden sollte, da das grundlose Verhindern von frühzeitigem Gegensteuern durch den AG zu zusätzlicher Arbeitslosigkeit und daher zusätzlicher Belastung der Solidargemeinschaft führt.
Ein weiterer wichtiger Faktor für eine präventive Arbeitsmarktpolitik wäre das Erstellen von Beschäftigungsbilanzen durch die Betriebe, die mit dem AMS kooperieren. Darin wären wesentliche Elemente wie Anzahl und Qualifikationsstruktur der Beschäftigten, deren Alter und Geschlecht, die Beschäftigungsdauer u. Ä. festzuhalten. Dadurch würde es dem AMS möglich, sein eigenes Dienstleistungsangebot gegenüber Betrieb und AN zielsicherer zu gestalten, und es erhielte genauere Informationen über den regionalen und fachlichen Arbeitsmarkt. Als Anreiz könnten diesen Betrieben zusätzliche Beratungs- und Personaldienstleistungen angeboten werden. Eine schrittweise in diese vorausschauende Richtung weiterentwickelte Arbeitsmarktpolitik kommt zwangsläufig sehr viel näher an die wirklichen Fragen des Arbeitsmarktes heran als unser aktuelles hinterhereilendes Politikmuster.

Schaffung des Rechts auf Qualifikation: Die ständige Verbesserung der Arbeitsmarktausbildung der AN ist von entscheidender Bedeutung für einen funktionierenden Arbeitsmarkt. Zwar kann ein konjunkturell bedingtes Arbeitsplatzdefizit nicht durch Schulungen behoben werden, aber durch Schulungen erfolgt die zeitgerechte Qualifikationsanpassung der AN, die im nächsten Aufschwung benötigt wird. Sonst kann der Aufschwung in der Folge nicht voll genützt werden, weil dafür wieder einmal die Fachkräfte fehlen. Unterstützt werden könnte eine solche Neuausrichtung durch das Verankern eines Rechtsanspruchs auf Qualifikation für Arbeit Suchende, die nach dreimonatiger Arbeitssuche weder erfolgreich vermittelt wurden noch ein Schulungsangebot vom AMS erhalten haben.

Umstieg auf nachhaltige Arbeitsmarktintegration statt raschem Vermittlungskarussell: Die bisherige Orientierung der Arbeitsmarktpolitik auf »Vermittlung geht vor Qualifikation« hat auch einen unerwünschten und für die Öffentlichkeit teuren Nebeneffekt: Sie begünstigt eine Personalpolitik, wonach AN nur gerade für den nächsten Auftrag eingestellt und bis zum nächsten Mal beim AMS auf öffentliche Kosten »zwischengeparkt« werden.

Das AMS als Arbeitskräftepool der Unternehmen: Das mag den Wunsch nach Kostenreduktion einzelner Betriebe treffen, die öffentlichen Kassen und die AN kommt diese Orientierung aber teuer. Sinnvoll ist dagegen die nachhaltige Integration auf dem Arbeitsmarkt. Dies bedeutet in unserer Zeit realistischerweise nicht nur das Erlangen eines »Lebensarbeitsplatzes«, sondern auch das Fitwerden durch Erwerb von fachlichen und anderen Qualifikationen, durch die AN für einen möglichst breiten Bereich auf dem Arbeitsmarkt qualifiziert werden und nicht nur von Arbeitsuchphase zu Arbeitsuchphase für den jeweils nächsten Kurzzeitjob die allernötigste betriebsspezifische Schulungsanpassung erhalten. Hier schließt sich der Kreis zur großen Bedeutung einer auf Qualifikation ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik. Allerdings sind nicht alle in der gleichen Situation: Es sind vor allem Junge, Ältere, Frauen und Migranten, die ein besonders hohes Risiko tragen, aus den attraktiven Arbeitsmarktbereichen herauszufallen oder gar nicht erst in diese hineinzugelangen (siehe Beitrag von G. Mitter auf Seite 18). Eine auf nachhaltige Integration ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik muss daher in den nächsten Jahren den Schwerpunkt auf diese Personengruppen richten und für diese neue Programme entwickeln.

BEGRIFFE

Solidar(itäts)prinzip und Versicherungsprinzip: Alle Sozialversicherungszweige sind in Österreich im Gegensatz zu kommerziellen Versicherungen nach einer Mischform von Solidar- und Versicherungsprinzip konstruiert. Das Versicherungsprinzip besagt, dass allen Versicherungsleistungen im Prinzip eine Beitragszahlung gegenüberstehen muss. Das Solidarprinzip lässt im Hinblick auf den angestrebten sozialen Ausgleich Ausnahmen von diesem Prinzip zu. So werden z. B. Zeiten des Präsenz- oder des Zivildienstes unter gewissen Umständen als anspruchsbegründend für das Arbeitslosengeld gewertet. Dies widerspricht dem reinen Versicherungsprinzip, da Präsenz-/Zivildiener keine Arbeitslosenversicherungsbeiträge bezahlen. Es entspricht aber dem Solidarprinzip, weil der Präsenz/
Zivildienst eine gesetzlich vorgeschriebene Staatsbürgerpflicht für Männer darstellt, die oft in zumindest kurzfristige Arbeitslosigkeit mündet; dieses Risiko wird von der Solidargemeinschaft aller Versicherten abgedeckt.

Non-Profit-Organisation (NPO): Bezeichnung für Unternehmen, deren Geschäftszweck nicht das Erzielen von wirtschaftlichem Gewinn, sondern das Erbringen einer gesellschaftlich wichtigen Dienstleistung, vor allem im Sozialbereich, darstellt. NPOs sind zumeist in der Rechtsform eines Vereins oder einer Stiftung organisiert. Im Arbeitsmarktbereich gibt es eine Vielzahl von NPOs, die in der Regel im Auftrag des AMS Beratungs- und Schulungsleistungen für Arbeitslose anbieten. Häufig verwendet, wenn auch inhaltlich nicht völlig deckungsgleich, wird der Begriff »NGO« (Non-Government-Organisation). NGOs sind in der Regel auch NPOs, d. h., sie arbeiten nicht gewinnorientiert, der Begriff der »NGO« bezeichnet vor allem Organisationen, deren Dienstleistung in einem deutlich politischen Zusammenhang steht, wobei der private zivile Charakter der Organisation im Gegensatz zum Staat betont werden soll (der NPO-Begriff betont dagegen die Abgrenzung zu kommerziellen Organisationen).

Controlling: Instrument der Unternehmenssteuerung, wobei durch das regelmäßige Beobachten bestimmter Kennzahlen das Einhalten vorgegebener Unternehmensziele beurteilt werden soll. Wird ein Abweichen von den Sollwerten festgestellt, so kann rechtzeitig gezielt gegengesteuert werden.

Existenzsicherung während der Arbeitsuche: Das österreichische System der Arbeitslosenversicherung erfüllt nur noch mangelhaft seine Aufgaben: Es bietet eine der niedrigsten Ersatzraten Europas, nur 55% des vorangegangenen Nettolohns werden abgedeckt, selbst in Deutschland sind es 66%. Zwei Drittel der Arbeitslosengeldansprüche liegen unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz, bei den Frauen sind es sogar 80%. Die Notstandshilfe ist sozial extrem unausgewogen. Und zu allem Überfluss steht die Arbeitslosenversicherung mitunter im Widerspruch zu den Zielen der aktiven Arbeitsmarktpolitik: Zum Beispiel wird die Teilnahme an Schulungen aus Eigeninitiative bestraft, selbst wenn vom AMS keine Alternative angeboten werden kann. Dennoch muss die Arbeitslosenversicherung die gesamte aktive Arbeitsmarktpolitik mitfinanzieren und auch noch einen hohen Ausgleich an das Pensionssystem für die Pensionsersatzzeiten leisten. Der nüchterne Befund lautet: Jede Detailkorrektur führt zu neuen Ungleichgewichten. Notwendig ist eine Totalreform mit dem Ziel der Integration von aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik: Bezugshöhe und Bezugsdauer, das Verhältnis von Solidaritäts- zu Versicherungsprinzip, das Verhältnis von Leistungsbezug zu Schulungsteilnahme, die Zumutbarkeit und die Notstandshilfe müssen schlicht neu konstruiert werden. Und nicht zuletzt muss auch das Finanzierungs- und Leistungsmodell, vor allem im Zusammenspiel Arbeitslosenversicherung, Arbeitsmarktförderung und Sozialhilfe, neu gestaltet werden. Modelle und gute Praktiken als Grundlage für ein österreichisches Reformkonzept gibt es. Sie sind aufzugreifen und an unsere Verhältnisse anzupassen.

Gender Mainstreaming als übergreifendes Politikprinzip: Noch ein Punkt kann bei einer Bewertung des Arbeitsmarktes nicht übergangen werden: Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt weiterhin systematisch benachteiligt. In gehobenen Positionen sind sie unter-, in schlecht bezahlten dagegen überrepräsentiert. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Es wird auch schon seit einiger Zeit im Rahmen des Gender Mainstreaming gegengesteuert. Damit soll systematisch die generelle Geschlechterbenachteiligung transparent gemacht und ausgeglichen werden. Dieses Prinzip ist weiter aufzuwerten und als durchgängige Vorgabe für alle Aktivitäten im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zu verankern und zu evaluieren.

Neupositionierung des AMS auf dreifacher Basis: Eine Bewältigung dieser neu ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik erfordert auch eine Anpassung der AMS-Positionierung, da die Ressourcen neu fokussiert werden müssen. Es bietet sich eine Einteilung nach drei Arbeitsmarktsegmenten und die strategische Kooperation mit Non-Profit-Organisationen (NPOs) und kommerziellen Partnern nach neuem Muster an.

Arbeitsmarktsegment mit dem höchsten Anforderungsprofil (Führungskräfte und Spitzenfachleute): Das AMS benötigt hier zwar eigenes Know-how, jedoch primär, um kompetent mit kommerziellen Privaten zu kooperieren. Dieses Segment sollte in erster Linie von privaten Profitdienstleistern bearbeitet werden, in Kooperation und auf Basis von Leistungsverträgen mit dem AMS. Hier handelt es sich in der Regel um Mangelberufe mit sehr guter Entlohnung und aufgrund der Nachfragesituation geringerem Schutzinteresse der AN (die auch häufig selbst AG-Funktion auszuüben haben). Dieses Segment eignet sich daher für die kommerzielle Bearbeitung am besten, denn hier gibt es bei Privaten auch bereits sehr gutes Know-how. Es wäre daher ressourcensparend, diesen Bereich auszulagern.

Arbeitsmarktsegment mit hohem und durchschnittlichem Anforderungsprofil: Dieser Bereich stellt den Kernsektor des österreichischen Arbeitsmarktes dar und sollte daher auch zum Kernbereich des operativen AMS-Geschäfts gemacht werden, auf den der Großteil der eigenen Beratungs- und Vermittlungsressourcen zu konzentrieren ist. Beratung, Vermittlung und Schulungspläne sind vom AMS selbst durchzuführen.

Arbeitsmarktsegment mit geringem fachlichem Anforderungsprofil und Arbeit Suchende mit so grundlegend entwerteten Qualifikationen, dass sie nur über dieses Segment neu einsteigen können: Hier hat die Praxis gezeigt, dass NPOs, die oft auf einzelne Teilsegmente dieses Arbeitsmarktes spezialisiert sind, die besten Erfolgsquoten vorweisen können und auch über ein entwickeltes Know-how für diese Zielgruppen verfügen. Eine weitgehende Auslagerung zu darauf spezialisierte NPOs wäre daher wirksam und wirtschaftlich.

Schaffung eines Arbeitsmarktcontrolling zur Beurteilung der Arbeitsmarktpolitik und der Sicherung des Sozialstaates: Es kommt nicht nur auf die Arbeitslosenstatistik an, wenn der Zustand des Arbeitsmarktes danach beurteilt werden soll, ob er im optimierten Interesse der AN, der AG und der öffentlichen Hand funktioniert oder nicht. Er funktioniert in diesem Sinne nur, wenn nicht nur die Zahl der Arbeit Suchenden möglichst niedrig ist, sondern wenn außerdem die Beschäftigten eine produktive, gut bezahlte, sozialversicherte Arbeit haben, zu Bedingungen, die nicht gesundheitsschädlich sind. Trifft dies weitgehend zu, so leistet der Arbeitsmarkt auch den bestmöglichen Beitrag zur Erhaltung des Sozialstaates und der Finanzierbarkeit der öffentlichen Leistungen. Es liegt daher nahe, ein öffentliches Controllingsystem einzurichten, das den Zustand des Arbeitsmarktgeschehens nach diesen Kriterien ständig beobachtbar macht. Dadurch könnten raschestmöglich die richtigen Anpassungsmaßnahmen gesetzt werden. Außerdem lässt sich dann leichter beurteilen, wer gerade eher die Lasten eines im Ungleichgewicht befindlichen Arbeitsmarktes trägt, und wer daraus eher Nutzen zieht. Ein solches System einzurichten heißt, die Lohnentwicklung gegliedert nach Teilmärkten und Gruppen, die Vollversicherungsquote der Beschäftigten unter Einschluss der neuen Selbständigen, die Quote der auf Dauer oder auf eine lange Frist gerichteten Arbeitsverträge und die Arbeitsbedingungen zu beobachten. Die Beurteilung der Arbeitsbedingungen kann anhand eigener Kriterien wie etwa faktische Arbeitszeit, Quote der Arbeitsunfälle und der Krankenstände
u. Ä. vorgenommen werden. Die Ergebnisse dieses Controllingsystems sind regelmäßig zu veröffentlichen und von den zuständigen Stellen, dem BMWA, dem AMS, den AN- und den AG-Vertretungen zum Anlass zu nehmen, ihre arbeitsmarktbezogene Politik zu reflektieren, wobei das BMWA und das AMS eine Verpflichtung tragen, ihre Arbeitsprogramme in Bezug zum Controllingergebnis zu stellen.

RESÜMEE

Der Arbeitsmarkt und die österreichische Arbeitsmarktpolitik sind an einem Scheideweg angelangt. Wird weiter gewirtschaftet wie zuletzt, so laufen wir Gefahr, dass wir aus einer wirtschafts- und sozialpolitischen Spitzenposition zu den Absteigern in Europa abrutschen. Es besteht aber vor allem die Gefahr, dass die dauerhafte Sicherung unseres Sozialstaats durch einen nicht funktionierenden Arbeitsmarkt verhindert wird. Notwendig geworden ist daher eine grundlegende Arbeitsmarktreform, die nachvollziehbar und ausgewogen die Interessen der AN, der AG und die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Kassen berücksichtigt.

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(C) AK und ÖGB

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