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Neue Probleme, neue Chancen

SCHWERPUNKT

Wenn sich alles ändert, muss sich auch die Gewerkschaft ändern. Doch Angst vor der Zukunft braucht sie nicht zu haben. Dies ist das Ergebnis unseres »Runden Tisches«.

Annemarie Kramser: Anlass dieses Gesprächs ist der Bundeskongress, bei dem die Weichen für die kommenden vier Jahre gestellt werden.

Siegfried Sorz: Dieser »Runde Tisch« soll Anstöße von außen und Korrektive bringen, kritische Anmerkungen, Anregungen. Professor Ferdinand Karlhofer ist unter anderem Mitarbeiter von A&W. 1997 stellte er in unserer Zeitung die Frage: »Abschied von der großen Zahl?« Er beschäftigte sich mit der Steigerung des Beschäftigtenstandes und dem Sinken der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften, womit man, wie er meinte, rechnen muss. Wie schaut das nun sieben Jahre später aus?

Ferdinand Karlhofer: In der Tendenz habe ich recht behalten. Wobei diese prognostische Leistung nicht besonders beeindruckend war. Die Gewerkschaft hat als Massenorganisation, wie man sie in der Vergangenheit kannte, heute nicht mehr diese Anziehungskraft und bindet nicht mehr sozusagen automatisch Mitglieder. Das ist ein Trend. Doch die Gewerkschaften werden schon seit 20 Jahren totgesagt und haben es überlebt. Auch in Österreich hat sich irgendwann eine Schere geöffnet zwischen Beschäftigtenentwicklung und gewerkschaftlicher Mitgliederzahl. Den Hauptmechanismus kann man im grundlegenden Wandel der Arbeitsgesellschaft sehen. Man könnte sagen, dass das atypische Beschäftigungsverhältnis beinahe schon zum Standard wird. Etwa im Gastgewerbe oder in einer ganzen Reihe anderer Branchen. Dazu kommt eine gewisse Organisationsskepsis, wie wir sie ja aus der Meinungsforschung kennen. Gerade junge Menschen sind weniger leicht zu einer Bindung über dauerhafte Mitgliedschaft zu bewegen. Das bedeutet eine Distanz, die durchaus von Sympathie unterlegt sein kann, vor allem sporadischer oder punktueller Sympathie für gewisse gewerkschaftliche Aktionen und Themen. Sie ist aber nicht automatisch mit einer Beitrittsbereitschaft verbunden. Dies bedeutet aber nicht, dass die Gewerkschaft sukzessive ihrem Untergang entgegen geht. Es wird so sein, dass sie unterschiedliche Klientelen vertritt, also bestimmte Schichten, die Altkerngruppe der Gewerkschaft wird bleiben. Dazu kommt ein fluktuierendes Segment, das den Organisationsverantwortlichen besonderes Kopfzerbrechen bereitet. Aber die Aktionen im Juli dieses Jahres, die Protestaktionen gegen die Regierung zeigen, dass eine Mobilisierungsbereitschaft oder ein Aktivierungspotential über die Mitgliederschaft hinaus vorhanden ist. Sie muss Bündnisse eingehen. Die Gewerkschaft muss Gruppen erschließen, die nach Aktionen, selbst wenn sie ein Erfolg sind, nicht unbedingt alle bleiben, aber offen sind für die gewerkschaftlichen Anliegen.

Sorz: Günther Ogris von SORA hat als Meinungsforscher ein Ohr für unsere Probleme, weil er für uns direkt gearbeitet hat, auch in den Betrieben und bei den Betriebsräten, und weil er auch die Veränderungen in der Gesellschaft und den veränderten Stellenwert der Sozialpartnerschaft kennt.

Günther Ogris: Die Sozialpartnerschaft war ziemlich unter Kritik, sie hatte in der Bevölkerung oft negative Imagebilder. Jetzt gibt es einen Gegentrend. Einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Die Beschäftigten haben das Gefühl, das ist eine einseitige Regierung zugunsten der Unternehmer. Sie haben auf einmal das Gefühl, ja, es braucht eine starke Gewerkschaft, es braucht starke Arbeiterkammern, um ein Gegengewicht zu etablieren. Die Gewerkschaft hat sehr viel Sympathie gewonnen. Die Frage ist: Kann sie damit etwas anfangen? Es geht ja vor allem um die jüngeren Arbeitnehmer, die nicht traditionell Mitglied wurden.

Es sind vor allem die kleinen Betriebe mit den jüngeren Mitarbeitern, die gewerkschaftlich schwächer organisiert sind. Wenn man in Wien 50 Prozent der Arbeitnehmer über die Betriebe erreichen will, braucht man nicht mehr eintausend, sondern 1500 Betriebe. Gleichzeitig gibt es den Anstieg der Frauenbeschäftigtenquote, und es gibt eine starke Fluktuation zwischen den Branchen. Die Beschäftigungsverhältnisse werden kürzer. Eine andere Frage ist die Betreuung höher qualifizierter Beschäftigter. Die Ansprüche an die Qualität der Beratung steigen. Es kann leicht passieren, dass jemand austritt, weil er zu lange warten muss. Auch die Tatsache, dass die Betriebsräte immer stärker über Namenslisten geführt werden, erfordert neue Formen der Kooperation. Die meisten Betriebsräte sympathisieren vielleicht mit einer Fraktion, deklarieren sich aber nicht, haben nicht denselben Vorteil, wenn sie Mitglieder rekrutieren, weil es für ihre Karrierewege nicht so wichtig ist. Aber der Vormarsch des Kapitalismus und die Liberalisierung lassen das Gefühl, zu kurz zu kommen, immer stärker werden. Es gibt das Problem der raschen Dequalifizierung auf allen Qualifikationsstufen. Wir haben extrem viele Menschen mit Facharbeiterausbildung, die als Hilfsarbeiter arbeiten und sehr viele Akademiker, die in Nichtakademikerjobs arbeiten. Und wir haben in vielen akademischen Berufen so etwas wie eine Proletarisierung durch Standardisierung. In der Medizin zum Beispiel. Die Selbstständigen im Handel werden immer weniger. Die großen Ketten schaffen sozusagen Proletariat. Und schließlich gibt es die Prognose, dass ab 2010 etwa der Arbeitsmarkt entspannt wird, weil nicht so viele junge Leute nachwachsen und die Alten in Pension gehen. Wenn die Arbeitslosigkeit zurückgeht, müssen die Firmen ihre Mitarbeiter halten. Dann wird es für die Gewerkschaft wieder leichter, etwas für die Mitarbeiter zu erreichen.

Sorz: Nun zu Rudi Kaske, dem Vorsitzenden einer Gewerkschaft mit besonders vielen atypischen Verhältnissen, die für ihre überraschenden Aktionen bekannt ist. Wenn man sich in Innsbruck einfach in Lokale hineinsetzt, ist das ja auch eine Art Streik. Zwei Diskutanten haben den Strukturwandel aufgezeigt. Du bist einer, der darauf reagieren muss. Deine Gewerkschaft war eine der ersten, die einen Zusammenschluss vollzogen hat, mit dem persönlichen Dienst, und die auch jetzt in einer dieser drei Gruppen drinnen ist.

Kaske: Auch ich glaube, dass wir zwar nicht Abschied von der großen Zahl, aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich die Arbeitswelt dramatisch verändert hat. Wir leben im Denken einer Industriegesellschaft und in Wahrheit sind wir schon lange eine Dienstleistungsgesellschaft. Ich war als Mitglied des Verwaltungsrates des AMS selber erstaunt, dass das durchschnittliche Arbeitsverhältnis knapp 600 Tage dauert. Was heißt das für die Gewerkschaften? Man sieht, wie mobil die Menschen geworden sind, beziehungsweise wie mobil die Betriebe sie gemacht haben. Das muss man dazu sagen. Die Bindungsfähigkeit ist natürlich in Großbetrieben eine ganz andere. Aber wo haben atypische Arbeitsverhältnisse oder neue Selbstständige ihre Heimat? In der Gewerkschaftsbewegung? Oder sind sie Unternehmer? Natürlich haben sie eher ihre Heimat in der Gewerkschaftsbewegung. Wenn man über den Tag hinaus denkt, sehe ich die Klein- und Kleinstunternehmer eher bei uns angesiedelt als auf der Arbeitgeberseite und in der Wirtschaftskammer.

Ogris: Der Kleinunternehmer ist ja kein Arbeitgeber.

»Der Vormarsch des Kapitalismus und die Liberalisierung lassen das Gefühl, zu kurz zu kommen, immer stärker werden.«

Kaske: Eben. Wie schaffen wie es, dass diese arbeitenden Menschen »ein Stück des Weges mit dieser Organisation gehen« und mit der Gewerkschaft Projekte zu verwirklichen suchen. Wobei ich die Zusammenarbeit mit den NGOs hier ansprechen möchte, oder auch mit anderen Organisationen. Auf der einen Seite ist es wichtig, den Besitzstand zu wahren, auf der anderen Seite die Entwicklung mitzugestalten. Regierungen kommen und gehen, Gewerkschaften gibt es seit mehr als hundert Jahren. Ich glaube, dass das 21. Jahrhundert ein starkes gewerkschaftliches zweites Jahrhundert sein wird, wenn auch die Voraussetzungen andere sein werden. Wir müssen bei der Organisationsreform weitere Schritte setzen, wobei wir jetzt bei der ersten Stufe stehen. Das sind die so genannten Gewerkschaftszusammenschlüsse, aber auch die losen Interessengemeinschaften, wenn man so will. Zusammenschlüsse, die in der Wirtschaft quasi auf Knopfdruck geschehen, sind auch nicht immer die besten. Bei uns bedarf es manchmal langer Diskussionen, aber dann ist alles wohl überlegt und geht in die gewollte Richtung.

Zweiter Schritt: Ich halte es für sinnvoll, wenn wir einen weiteren Schritt setzen im Hinblick auf die Vertretungsfähigkeit in den einzelnen Bereichen, wo wir uns ja widerspiegeln mit der Wirtschaft. Stichwort Industrie, Dienstleistung, Verkehr, wo auch immer. Dann müssen wir noch einen dritten Schritt draufsetzen und zu europäischen Gesamtkonzepten kommen. Stichwort Kollektivverträge. Die Unternehmer sind seit Jahren und Jahrzehnten weltweit organisiert. Dieser Schritt steht auch für die Gewerkschaften an.

Sorz: Nach diesen Einleitungsstatements folgt die Frage, was die Anderen dazu sagen. Was davon können Sie so akzeptieren, wo gibt es Widerspruch?

Karlhofer: Ein paar kleine Dinge. Organisationsreform des ÖGB. Gut durchdacht, lang überlegt, was lange währt, wird endlich gut. Ganz so war es aber nicht. Wie man weiß, gibt es in Organisationen das Gesetz der Beharrung. Bestehende Organisationen leisten Widerstand, auch wenn es sinnvoll wäre, sich irgendwo anzugliedern und neue Strukturen zu schaffen. Das hat es auch beim ÖGB gegeben. Es war auch der Grund, warum seit 1994 lange Zeit nicht wirklich etwas weitergegangen ist. Der Ausschuss für Organisationsreform kam einfach zum Stillstand. Dann ging es zurück, dann kam das Dreisäulenmodell, das eigentlich vom DGB entlehnt war, und jetzt haben wir ein Dreigruppen- oder Dreiblöckemodell. Was tun also die Chemiearbeiter bei diesem Block, wo sie ursprünglich mit den Metallarbeitern hätten fusionieren sollen. Wir wissen, es gab persönliche Animositäten, die das verhindert haben. Dann hat der Paukenschlag von GPA und Metallergewerkschaft Bewegung reingebracht und die Kleinen mussten auch rasch reagieren, um nicht unter die Räder zu kommen. Es sind nicht unbedingt organisch gewachsene, logisch zusammenhängende Cluster oder Blöcke, die da entstanden sind oder im Entstehen sind. Viel ist eben auch zu erklären mit diesen organisatorischen Eigeninteressen. Dann gibt es immer noch das Problem des öffentlichen Dienstes. Gemeindearbeiter, öffentlicher Dienst, das ist einfach aus fraktionellen und damit politischen Gründen nicht realisierbar. Was aber nicht heißen muss, dass am Ende nicht doch sehr wohl etwas herauskommt, das durchaus arbeitsfähig ist.

Sorz: Kollege Haberzettl sagte mir, jedes Mal, wenn in Österreich über Verkehr geredet wird, müssen vier Gewerkschaften hingehen. Sein Wunsch und das dringende Bedürfnis heißen Zusammenschluss.

Karlhofer: Mit den drei Blöcken werden neue Stärkefelder im ÖGB entstehen. Eine Organisation von, sagen wir, selber 500.000 bis 600.000 Mitgliedern ist nicht wirklich auf die integrative Kraft des Dachverbandes angewiesen. Sie wird bestrebt sein, vieles selbst zu regeln. Es wird also ein Autonomisierungsschub stattfinden, der auf Kosten des Dachverbands geht. Das war jetzt, würde ich sagen, gerade eben noch überlagert durch die Aktualität der Protestmaßnahmen gegen die Regierung, wobei das Dach sehr stark aufgewertet und vieles an Autoritätsverlust zumindest vorübergehend kompensiert wurde.

Aber ich gehe davon aus, dass sich am Ende bei allen die Gesamtgewerkschaft betreffenden Fragen die drei Präsidenten oder vielleicht auch Präsidentinnen leicht koordinieren können und nicht unbedingt den Gesamtverband brauchen. Eine Art »DGBisierung«, wie ich es nennen würde. In ÖGB-Ohren ungewohnt, aber ich glaube, dass auch jeder spürt, in diese Richtung wird es irgendwie gehen.

Kaske: Ein paar Schlaglichter. Als einer, der selbst manchmal zu seinem eigenem Leid ungeduldig ist. Nicht nur in der Frage der Organisationsreform weiß ich, wie schwierig es oft ist, Geduld zu bewahren. Wir waren ja die erste Gewerkschaft der Zweiten Republik, die sich fusioniert hat, mit Gastgewerbe und persönlichem Dienst. Daher weiß ich auch, dass die Ungeduld auf der einen Seite zwar angebracht ist, aber auf der anderen Seite wir es nicht mit Maschinen, sondern mit Menschen zu tun haben und es daher eine Generation gebraucht hat, so zusammenzuwachsen. Ich glaube aber, und das unterscheidet uns von einem Betrieb, dass diejenigen, welche die Arbeitnehmerinteressen vertreten, nicht das Gefühl haben dürfen, über den Tisch gezogen zu werden. Entscheidend ist, was am Ende rauskommt.

Die Gründungsväter des ÖGB haben sich schon sehr viel überlegt, wie sie gesagt haben, wir wollen nicht ein Modell Deutschland, nicht ein Modell Italien oder Frankreich, nicht starke Einzelgewerkschaften und schwache Gesamtorganisation, sondern eine Organisation mit damals 16 Gewerkschaften, jetzt 13 und in Zukunft weniger. Ich glaube, dass wir dieses Erfolgsmodell fortsetzen sollten, nach außen mit einer Zunge zu sprechen. Starke Gruppenpräsidenten mögen wichtig sein für die innere Organisation. Das ist völlig in Ordnung. Aber nach außen hat die Interessen des ÖGB, wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft, der Präsident oder die Präsidentin des ÖGB zu vertreten. Ich warne davor, die Gruppeninteressen vor Gesamtinteressen zu stellen, wenn es um die Gesamtinteressen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen dieses Landes geht.

Kramser: Eine Frage an den Kollegen Ogris, die indirekt auch mit der Organisationsreform zu tun hat. Sie haben gesagt, ab 2010 erwarte man wieder eine Verknappung der Arbeitskräfte und haben gemeint, dann wäre es wieder leichter, etwas zu erreichen. Ob das tatsächlich so einfach geht? Es hat doch eine generelle Veränderung der Einstellung gegeben. Ich denke an die »Ich-AG«, überall dieses ich, ich, ich. Jeder denkt nur an sich selbst. Spielt das nicht auch eine Rolle bei der Bereitschaft, sich zu organisieren, sich für andere zu engagieren?

»Margret Thatcher hatte keinen Fritz Neugebauer, auf den sie Rücksicht nehmen musste.«

Ogris: Eine wesentliche Rolle. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass wir gerade bei den jüngeren, höher qualifizierten Frauen einen schlechten Organisationsgrad haben. Aber das Verständnis dafür, dass gemeinsame Lösungen effizienter sind, wächst. Weil die Karriere sowieso den Männern leichter fällt als den Frauen. Frauen haben auch ein stärkeres soziales Bewusstsein, was das Gesundheitswesen und die Pensionsversicherung betrifft. Die Gewerkschaft ist aber traditionell eine Männerorganisation und vermittelt als Organisationsimage nicht den Eindruck nach außen, dass es hier für junge, engagierte Frauen leicht ist, integriert zu werden. Dies ist eines der zentralen Probleme, mit dem Anstieg der Frauenbeschäftigung vor allem in Berufen mit viel Sozialkontakt. Also in der Medizin, in den sozial aktiven Berufen. Hier ist ein großes Potential für jede Form von gewerkschaftlicher Organisationstätigkeit. Man sieht das in den Städten. Das Wort Präsidentin fällt immer öfter. Tatsache ist ja, dass der öffentliche Dienst den höchsten Organisationsgrad hat, den größten Anteil an höher qualifizierten Frauen.

Wenn Österreich den Weg eines Billiglohnlandes geht, kommt es zu einer noch viel stärkeren politischen Krise. Der richtige Weg kann nur zu mehr und besserer Ausbildung, höherer Qualifikation und damit auch stabileren Arbeitsverhältnissen führen. Wenn Österreich diesen Weg geht, gibt es natürlich auch zahlreiche Funktionen für betriebsrätliche Tätigkeit, dann macht es Sinn, sich zu organisieren. Ich glaube, dass da auch noch der politische Umschwung kommt.

Kramser: Das heißt, wir müssten der Konterpart zu dieser Ich-Gesellschaft sein.

Ogris: Die Ich-Gesellschaft ist sowieso eine Illusion in einer Gesellschaft, die immer arbeitsteiliger wird.

Sorz: Viele Menschen sind gar nicht mehr lang genug in einer Firma, um überhaupt eine Betriebsratsperiode auszufüllen.

Kramser: Von bestimmten ideologischen Kräften wird gepredigt: Jeder schafft alles selbst, braucht keine Unterstützung. Bei den Beziehern mittlerer und höherer Einkommen wird auch ganz gezielt das Gefühl geschürt: Warum soll ich für andere mitzahlen? Auf der anderen Seite kommt man immer mit der Bürgergesellschaft und redet von Subsidiarität.

Ogris: Der Traum vom schnellen Reichwerden bei den Besserverdienern ist zusammengebrochen. Das heißt: Auch für diese hoch individualisierte Zielgruppe gilt es plötzlich politische Angebote, die interessant sind. Das muss man verständlich machen.

Sorz: Wir gehen zur Schlussrunde über.

Karlhofer: Ich möchte ganz kurz auf den Thatcherismus in Österreich kommen. Er wird zu einem neuen Rollenverständnis der Gewerkschaft als zumindest phasenweise konfliktbereiter oder zum Konflikt gezwungener Akteur führen.

Sorz: Was Margaret Thatcher mit dem Bergbau und den Eisenbahnen gemacht hat, das geschieht ja jetzt auch hier. Die Eisenbahner sind jetzt dran. Das Muster ist, glaube ich, ziemlich klar. Kollege Haberzettl hat sich darüber im letzten Heft dezidiert geäußert. Das Gefühl dafür, dass ein Konflikt da ist, den man austragen muss, fehlt aber noch.

Karlhofer: Was gerade in Österreich die Gewerkschaft immer wieder eingefordert hat, das angemessene Stück vom Kuchen, vom Produktivitätszuwachs, ist kein Thema mehr, nicht einmal in der Gewerkschaft. Wo kann heute Umverteilung ansetzen? Die Gewerkschaft hat ja zwei Hebel. Der eine ist die klassische Lohnpolitik, der Hauptmechanismus für organische Solidarität oder für eine Wir-Gemeinschaft. Der zweite Hebel waren die in Österreich besonders ausgeprägten Transferleistungen oder Transfereinkommen. Gerade unter Bruno Kreisky. Der Aufbau des Sozialstaats. Der Sozialminister war immer ein Gewerkschafter, bis zur politischen Wende. Heute sind Lohnerhöhungen viel schwieriger zu erreichen. Der Rückbau des Sozialstaates zwingt die Gewerkschaft in eine defensive Rolle. Nehmen wir die geringfügig Beschäftigten in den Supermärkten. Die sind im Regelfall nicht in der Gewerkschaft. Wie könnte die Gewerkschaft sie betreuen? Sie repräsentieren ja auch am wenigsten Einkommen, somit Finanzkraft. Man ist in einem strategischen Dilemma. Kerngruppe bleiben jene, die gar nicht schlecht verdienen. Noch vor zwei oder drei Jahren hätte ich mich dem Wort vom Thatcherismus nicht so ohne weiteres angeschlossen. Mittlerweile glaube ich, dass wir es tatsächlich mit einem Thatcherismus zu tun haben, doch der austriakische Thatcherismus ist ein unvollständiger, verschämter Thatcherismus. Offizielles Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft, in beiden Regierungsprogrammen, zugleich aber implizit oder versteckt alles, was eine thatcherische Politik ausmacht. Vollständige Privatisierung, Umbau der Sozialversicherungsträger, das Thema Arbeiterkammer, wer genau liest, der sieht, wenn es die Chance gibt, wird sie wegradiert. Doch Margret Thatcher hatte keinen Fritz Neugebauer, auf den sie Rücksicht nehmen musste. Bei der ÖVP ist da so etwas wie ein Bremsmechanismus eingebaut, der immer wieder Ambitionen etwas abfedert oder den Weg für die Regierung etwas länger macht. Aber am Ende tut sie, was sie vorhatte. Die überfallsartige Voest-Privatisierung. Einiges andere überfallsartig. Die Vorgangsweise im Parlament. Verkürzte Fristenläufe ersetzen Begutachtungsverfahren. Initiativanträge ersparen das gesamte Verfahren. Die Grundüberlegung, was auf jeden Fall das Ergebnis sein soll, ist, den Einfluss der Gewerkschaft zu reduzieren. Wo es nicht gelingt, baut man einfach um und schafft eine Institution ab. Daher nenne ich es einen verschämten Thatcherismus, der nicht zu offen auftreten kann, nicht mit der offenen Kampfansage, sondern durch gezielte Provokationen zum selben Ergebnis kommen will.

Dadurch wird die Gewerkschaft in ein neues Rollenverständnis gezwungen. Der ÖGB hat in der Vergangenheit im Zweifel stets das sozialpartnerschaftliche Element in den Vordergrund gerückt. Er hat sich vergleichsweise schwer getan mit dem Rollenschwenk. Es wurde ihm der Stuhl vor die Tür gesetzt. Die Mitgliederbefragung 2001 war ein Signal: Mit 500.000 wären wir heilfroh gewesen, 800.000 waren die absolute Überraschung - und als Mandat zu begreifen. Es bedurfte etwas später einer neuen Provokation, der Pensionsreform, die wieder abrupt ohne lange Vorbereitung ins Parlament kam. Ich denke, dass der ÖGB heute nicht mehr nur Sozialpartner ist, sondern auch Konfliktgegner, wobei er die Vorteile des Verhandlungsweges, des Grünen Tisches, nicht vergisst. Man kann aber gelegentlich Konflikte austragen, ohne dass gleich die Sozialpartnerschaft als solche gefährdet ist. Das scheint mir die passende Balance für die neue Rolle des ÖGB zu sein.

Sorz: Was sagt der Meinungsforscher dazu?

Ogris: Der Konflikt ist wichtig für die Profilierung in der Öffentlichkeit. Um verständlich zu machen, was die Ziele, wer die Gegner, was die Ziele der anderen sind. Das wird von den vielen organisatorisch nicht Eingebundenen nur wahrgenommen, wenn der Konflikt auch mit einer gewissen Emotionalisierung einhergeht. Der Konflikt ist eines der wichtigsten Mittel zur Profilierung und zur Erklärung der Wichtigkeit und der Funktion der Gewerkschaft. Wir haben auch die Tendenz, dass die jungen Leute in den Städten mit der höheren Qualifikation, den besseren Ausbildungschancen sich politisch mehr engagieren. Diesem sich politisierenden Milieu der jungen Städter müssen auch die Rolle und die Funktion der Gewerkschaften verständlich gemacht werden. Hier sind für uns große Chancen.

»Nach außen hat die Interessen des ÖGB auch in der Zukunft der Präsident oder die Präsidentin zu vertreten.«

Kaske: Zur vorhin erwähnten angeblichen Männerorganisation sage ich, das stimmt und stimmt nicht. Das spiegelt natürlich die Wirtschaftsbereiche wider. Aber wenn ich an meinen Bereich denke, sind wir eine Frauenorganisation und ich in der Minderheit. Wir haben 73 Prozent Frauenanteil und müssen engagierte Frauen verstärkt fördern. Frauen in Funktionen! Im ÖGB und den Gewerkschaften! Ich sage es mit dem Schlagwort »Galionsfiguren«, im besten Sinn gemeint. Dabei meine ich natürlich Männer wie Frauen, Menschen »zum Angreifen«, Menschen, die für Inhalte stehen, die emotional sind. Dieser Menschen bedarf es auch in Zukunft. Sie machen eine Organisation wie den ÖGB erlebbar. Die anonyme große Organisation, da werden vor allem jüngere Leute sich überhaupt nicht angesprochen fühlen. Die brauchen einfach Menschen, die für Ideen, für Inhalte, für Dinge stehen.

Ich höre immer wieder Leute, die mir sagen: »Wieso werde ich jetzt schon zum siebenten Mal gefragt, ob ich der Gewerkschaft beitreten will?« Dass das eine andere Gewerkschaft ist, weil jemand jetzt in einem anderen Betrieb ist, interessiert in Wahrheit die Leute nicht. Hier sind neue Techniken zu nützen, von der Onlinemitgliedschaft bis Schnuppermitgliedschaften und solche Dinge. Das sind ja nicht Erfindungen von mir, das praktizieren ja andere Organisationen schon seit längerer Zeit.

Das Tarifsystem funktioniert noch, aber in manchen Bereichen immer weniger. Deswegen sind wir aufgerufen und gefordert. Ich denke hier in Kategorien von zehn, 15 und 20 Jahren. Da geht es nicht nur ums Geld, sondern um Mantel-Tarifverträge, weil es unterschiedliche rechtliche Ausformungen gibt. Es wird uns nicht erspart bleiben, und das ist halt ein Schicksal, dass wir, weil wir Gott sei Dank, sag ich gleich dazu, auch eine Großorganisation sind, unterschiedlichste Einzelgruppeninteressen haben. Die werden wir auch in Zukunft haben. Von der Putzfrau bis zum Richter, vom Gendarmeriebeamten bis zum Koch. Die alle unter einen Hut zu bringen, ist nicht erst heute ein schwieriges Unterfangen. Letzter Punkt: Sozialpartnerschaft. Man soll auch nicht alten Zeiten nachweinen, wenn die Namen Sallinger und Benya fallen. Da drücken einige gleich die Tränen und sagen, wie toll das damals war. Wir haben eine ganz andere politische Situation und ich sehe auch die Sozialpartnerschaft als etwas, wo man durchaus auch eine gewisse Streitkultur haben kann und muss, um seinen Mitgliedern sichtbar zu machen, wofür man denn eigentlich steht. Wobei man aber auch den Punkt wieder findet. Das unterscheidet uns von anderen europäischen Ländern. Stichwort Italien, Frankreich, Deutschland. Wir sagen O. K., bis daher, aber weiter hat es keinen Sinn, diese Streikbewegung zu schüren, weil eben nun andere in diesem demokratischen System am Wort sind. Sprich das Parlament. Wir Gewerkschafter tun unsere Arbeit, egal, welche Regierung am Werk ist in unserem Land.

Sorz: Danke für dieses Gespräch!

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