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Zehn Jahre freies Südafrika

HINTERGRUND

Erste Erfolge im Kampf um Gleichberechtigung: Welche Perspektiven zeigen sich für dieses Land? Wie steht es um die Wirtschaft, um den Prozess der gesellschaftlichen Umgestaltung?

Es war einer jener Tage, die einem immer in Erinnerung bleiben. Vor Sonnenaufgang hatten wir ausländische Ehrengäste uns an einem Treffpunkt nahe dem großflächig abgesperrten Regierungsbezirk in Pretoria einzufinden. Es war noch finster und kalt. Mit Bussen wurden wir in den halbrunden, zum Park hin offenen Ehrenhof von Union Buildings gebracht, dem Sitz der südafrikanischen Regierung.

Als wir ankamen, ging gerade die Sonne auf, und es wurde ein ziemlich heißer Tag. Staatsgäste aus aller Welt waren gekommen, von Hillary Clinton bis Fidel Castro, um an der Angelobung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Südafrikas teilzunehmen. Und - so wie ich - Vertreter/innen von Anti-Apartheid-Bewegungen, die seit Jahrzehnten den Kampf der unterdrückten Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung um volle Bürgerrechte unterstützt hatten. Gegen Mittag an diesem 10. Mai 1994 legte der ehemalige Staatsfeind Nr. 1 seinen Amtseid ab: Nelson Rohlihlala Mandela.

Einen Tag später gab er die Zusammensetzung seiner Regierung bekannt, verfassungskonform aus Persönlichkeiten aller Parteien mit mehr als 10% Wählerstimmenanteil gebildet: African National Congress (der ehemaligen Befreiungsbewegung, die allein mehr als 63% der Stimmen erhalten hatte), Nasionale Party und Inkatha Freedom Party. Damit begann vor 10 Jahren das antirassistische Experiment Südafrika.

Geschichte der Diskriminierung

Eine Geschichte der Diskriminierung hatte in den Jahrhunderten zuvor der Geschichte Südafrikas ihren Stempel aufgedrückt: Ab 1652 hatten Einwanderer/innen aus Holland am Kap der Guten Hoffnung ein System der Leibeigenschaft und Sklaverei errichtet. Ab dem beginnenden 19. Jahrhundert und vor allem seit der Entdeckung der großen Diamanten- und Goldlagerstätten nach 1870, hatte Großbritannien begonnen, die einheimische Bevölkerung durch hohe Geldsteuern und Absiedlung in Reservate zur Annahme kaum bezahlter Lohnarbeit in den Bergwerken zu zwingen. Und ab 1948 hatte die von ideologischem Rassismus geprägte Nationalpartei all diese vorhandenen Mechanismen der Diskriminierung in ein System der so genannten Apartheid (»Getrenntheit«) kodifiziert, dessen Verwandtschaft mit den Nürnberger Rassegesetzen des Nationalsozialismus nicht zu leugnen ist: Klassifizierung aller Menschen Südafrikas in drei gesetzlich definierte Rassengruppen, Europäer, Afrikaner und Asiaten; Reservierung allen fruchtbaren Landes, qualifizierte Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten ausschließlich für »Europäer«; zwangsweise Umsiedlung von »Afrikanern« in entlegene, meist unfruchtbare Gebiete; Aberkennung politischer Mitspracherechte für »Nicht-Europäer« - kein Wahlrecht, keine politischen Parteien, teilweise auch ihre Gewerkschaften verboten. Diskriminierung war Grundgesetz im damaligen Südafrika. Durch den beharrlichen Widerstand der Bevölkerung und durch internationale Solidarität aber war dieses System Anfang der 1990er-Jahre zusammengebrochen, Verhandlungen mit dem aus »lebenslänglicher« Haft entlassenen Mandela und der von ihm geführten Befreiungsbewegung hatten die ersten demokratischen Wahlen vom April 1994 ermöglicht. Mit Spannung wurden nun die ersten Schritte der neuen Regierung erwartet.

Rückblickend ist heute zu sagen, dass dieses erste Jahrzehnt der demokratischen gesellschaftlichen Transformation Südafrika in wesentlichen Bereichen verändert hat. Hier läuft ein Projekt des Aufbaus einer nicht-diskriminierenden Gesellschaft, zu welchem in anderen Ländern kaum etwas Vergleichbares existiert und das in vieler Hinsicht Lehrbuchcharakter auch für die industrialisierten Länder des Nordens - inklusive die Europäische Union - besitzt: Wie gehen wir um mit Rassismus und Vergangenheitsbewältigung, wie und durch welche Wirtschaftspolitik können soziale Grundrechte verwirklicht werden? Die Bilanz dieser ersten zehn Jahre des Abbaus rassistischer Strukturen und ausbeuterischer Verhältnisse in Südafrika seit 1994 kann sich durchaus sehen lassen.

Auf staatlicher Ebene wurden stabile demokratische Institutionen geschaffen, die sich der Verwirklichung des verfassungsrechtlich verankerten Nichtdiskriminierungsgebots widmen; die politische Gewalttätigkeit der letzten Jahre des Apartheidregimes wurde beseitigt, Todesstrafe und Folter abgeschafft, rechtstaatliche Verhältnisse im Justizwesen geschaffen. Die kulturelle und religiöse Vielfalt des Landes und seiner Bevölkerung wird nicht nur respektiert, sondern aktiv gefördert - was nicht zuletzt in der Anerkennung von elf (!) Amtssprachen zum Ausdruck kommt. Ein Prozess aktiver Vergangenheitsbewältigung wurde in Angriff genommen. Menschenrechtsverbrechen der Apartheidzeit (wie die systematische Folter und Ermordung politisch Andersdenkender, die medizinischen Experimente an »Schwarzen«, die Mitverantwortung von Konzernen, Medien und Kirchen an der Apartheid) wurden nicht unter den Teppich gekehrt, sondern in einem jahrelangen, in voller Öffentlichkeit stattfindenden Prozess aufgearbeitet und bewertet. Wichtigstes Element dabei war die vom früheren anglikanischen Erzbischof von Kapstadt und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu geleitetete Wahrheits- und Versöhnungskommission - eine Einrichtung ohne Parallele in der deutschen und österreichischen Geschichte nach 1945.

Restitution und Umverteilung

Aufgehoben wurden die wirtschaftlich unterentwickelten Reservate (»Homelands«) und damit die gesetzlich festgelegte Teilung in »europäischen« und »nicht-europäischen« Grundbesitz (87% der Fläche Südafrikas waren zuvor für die »weiße« Bevölkerungsminderheit reserviert gewesen); neun neue Provinzen sowie zahlreiche neue Gemeinden wurden geschaffen, um bisher nach Rassen getrennte und somit unterschiedlich geförderte Zonen in integrierte Entwickungsregionen zu verwandeln. Eine einheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik für das ganze Land wurde konzipiert - angesichts der südafrikanischen Geschichte keineswegs eine Selbstverständlichkeit.

Ein breit angelegter Prozess der Restitution von apartheid-enteignetem Grund und Boden samt Landreform wurde gestartet, in dessem Rahmen bis heute etwa drei Millionen Hektar Land umverteilt oder entschädigt wurden; das entspricht etwa einem Drittel der Fläche Österreichs. Dieser (im Gegensatz zum benachbarten Zimbabwe) transparent und daher nur langsam vor sich gehende Restitutionsprozess, in dessem Rahmen fast siebzigtausend (Sammel-)Anträge zu behandeln sind, soll nach den Vorstellungen der Regierung in den kommenden Jahren abgeschlossen werden; die spektakulärsten Fälle von Zwangsumsiedlung unter dem Apartheidregime (wie jene aus dem District Six in Kapstadt, die der Makululeke aus dem Kruger-Nationalpark oder des Dorfes Mogopa im westlichen Gauteng) wurden bereits durch die Übergabe von Besitzurkunden an die Nachkommen der seinerzeit vertriebenen Familien abgeschlossen.

Volle Gewerkschaftsfreiheit

Mit der Garantierung voller demokratischer Rechte für die gesamte Bevölkerung ging auch die Herstellung voller Gewerkschaftsfreiheit Hand in Hand. Drei große Gewerkschaftsverbände - der dem ANC nahestehende Congress of South African Trade Unions (COSATU), die Federation of Unions of South Africa (FEDUSA) sowie der National Council of Trade Unions (NACTU) - vertreten heute die Interessen der Beschäftigten; alle drei Organisationen gehören wie der ÖGB dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) an. Ein neues Arbeitsrecht wurde seit 1994 geschaffen, Grundlagen eines funktionsfähigen sozialen Dialoges zwischen Regierung, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und wichtigen Nichtregierungsorganisationen (etwa den Jugendverbänden) wurden gelegt. Durch die Verstaatlichung der Mineralienreserven des Landes und Konzessionserteilung nur an Firmen mit einem Mindestanteil an »schwarzen« Aktionären wurden darüber hinaus auch erste Schritte zur Umgestaltung der einseitig von »Europäern« dominierten Besitzverhältnisse an Produktionsmitteln getätigt.

Katastrophale soziale Hinterlassenschaft

Welchen Einfluss hatten all diese Reformen auf die konkrete Lebenssituation der Bevölkerung? Von Anfang an hatte sich die Regierung Mandela mit einer katastrophalen sozialen Hinterlassenschaft der Apartheidära konfrontiert gesehen. Etwa ein Viertel der Bevölkerung war obdachlos oder lebte in unzureichenden Wohnverhältnissen (in Zelten oder Wellblechhütten), zwei Drittel hatten keinen Zugang zu elektrischer Energie oder sauberem Wasser, etwa die Hälfte der Bevölkerung im wirtschaftlich potentesten Land Afrikas war unterernährt. Und: Armut betraf ausschließlich Menschen »schwarzer« Hautfarbe - ein deutlicher Ausdruck der entlang der »Rassengrenze« wirksam gewesenen Umverteilungspolitik des Apartheidsystems.

Zwar kann von einem endgültigen Durchbruch bei der Armutsbekämpfung in diesem ersten Jahrzehnt seit der Befreiung noch keine Rede sein. Erfolgen in einzelnen Bereichen, die im übrigen auch in einer merkbaren Verbesserung des so genannten Gini-Koeffizienten zum Ausdruck kommen, mit dem die Verteilungsgerechtigkeit einer Gesellschaft gemessen wird, steht die bisher ungelöste Schwierigkeit einer nachhaltigen Finanzierung sozial- und gesundheitspolitischer Maßnahmen gegenüber.

Essen und Gesundheit

Schon in den ersten Wochen seiner Amtszeit hatte Mandela die Bereitstellung einer täglichen kostenlosen Mahlzeit für Schulkinder sowie kostenlose Gesundheitsversorgung für schwangere Frauen und Kinder bis zum fünften Lebensjahr angeordnet; finanziert wird dieses Programm aus dem vorwiegend durch Spenden südafrikanischer Unternehmer und ausländischer Entwicklungshilfe gespeisten Mandela-Kinderfonds.

Aus Budgetmitteln wurde ein massives Programm zur Armutsbekämpfung gestartet, in dessen Rahmen unter anderem bisher vernachlässigte städtische und ländliche Regionen mit Elektrizität, sauberem Trinkwasser etc. versorgt wurden - eine fühlbare Verbesserung der alltäglichen Lebensqualität; 3,8 Millionen Haushalte wurden im Rahmen dieses Programms an Elektrizität und sauberes Trinkwasser angeschlossen. Seit 1994 wurden in den ländlichen Regionen des Landes 486 neue Gesundheitsstationen errichtet, täglich werden 4,5 Millionen Gratismahlzeiten an Schulkinder abgegeben, etwa eine Million neuer Wohneinheiten wurde errichtet (was allerdings wesentlich unter dem geschätzten Bedarf von etwa 10 Millionen liegt) etc.

Wiederintegrierung in die Weltwirtschaft

Diesen nicht zu unterschätzenden Erfolgen im Sozialbereich stehen allerdings wirtschaftspolitische Schwierigkeiten gegenüber, die eine nachhaltige Sicherung und Ausweitung dieser sozialen Transformation bisher behindert haben. Nach Jahren außenwirtschaftlicher Isolation infolge der von der internationalen Gemeinschaft aus Protest gegen die Apartheid verhängten Sanktionen stand Südafrika 1994 vor der Notwendigkeit einer Wiederintegrierung in die Weltwirtschaft. Damit waren das Land und die weitreichenden Transformationspläne seiner neugewählten und von gewaltigen Erwartungen begleiteten Regierung allerdings auch mit dem neoliberalen Zeitgeist der Globalisierung konfrontiert: Privatisierungen der verstaatlichen Wirtschaft waren schon in den letzten Jahren der Apartheid eingeleitet worden, die Belastung der südafrikanischen Volkswirtschaft durch Auslandsschulden (zu deren Rückzahlung sich die neue Regierung bekannte) war hoch, und nun kamen noch die Herausforderungen einer Liberalisierung des Außenhandels gemäß den Spielregeln der neu errichteten Welthandelsorganisation (WTO) hinzu.

Arbeitslosigkeit und Aids

Südafrikas wohl zu rasche Akzeptanz dieses globalen Rahmens ließ eine von vielen unterschätzte Auslandsabhängigkeit seiner Volkswirtschaft erkennen. Hatte schon die Amtsübernahme Mandelas dazu geführt, dass Milliarden US-Dollar offenbar aus politischen Gründen aus dem »neuen« Südafrika abgezogen wurden, so gab die Berufung des ersten Zentralbankgouverneurs »schwarzer« Hautfarbe im Sommer 1998 Anlass zu Devisenspekulationen und zu einem schlagartigen Währungsverfall von 20 Prozent. Ökonomisch erwies sich die südafrikanische Exportwirtschaft in vielen Bereichen als entweder zu wenig konkurrenzfähig oder als dem europäischen Protektionismus im Agrarbereich nicht gewachsen. Der seitens der Europäischen Gemeinschaft mit großer Propaganda angekündigte Freihandelsvertrag fiel für die südafrikanische Wirtschaft enttäuschend aus, Investitionsanreize der Regierung führten zwar zu einem Anstieg der kurzfristigen, kaum aber zu langfristigen und beschäftigungsrelevanten Investitionen. Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit (um die 40 Prozent) hat sich somit nicht verringert. Gleichzeitig brachte die verheerende HIV/Aids-Epidemie, die erst in den letzten Jahren in ihren vollen Tragweite zum Bewusstsein kam, auch eine schwere Belastung der staatlichen Gesundheitsausgaben mit sich - von den humanitären und bevölkerungspolitischen Konsequenzen gar nicht zu reden.

Neuer Wirtschaftskurs

Mandelas Nachfolger als Staatspräsident, Thabo Mbeki, hat daher in den letzten Monaten die Weichen wieder zugunsten eines keyesianistischen wirtschaftspolitischen Kurses gestellt.

Begünstigt durch die merklich gesunkene Auslandsverschuldung und angesichts einer international zunehmenden Erkenntnis des offensichtlichen Scheiterns der neoliberalen Wirtschaftsmodelle Großbritanniens und der Vereinigten Staaten sollen nun das Tempo der Privatisierung gebremst und die Außenhandelsbeziehungen mit anderen Ländern der Dritten Welt (etwa Brasilien, Indien oder China) stärker ausgebaut werden.

Ein gewaltiges Programm öffentlicher Arbeitsbeschaffung soll in den kommenden Jahren eine Million neuer Arbeitsplätze schaffen, die Infrastruktur (auch im Bahnbereich) soll ausgebaut, die Ausgaben aus dem Budget für Bildung, Soziales und Gesundheit sollen erhöht und durch eine verstärkte Einbeziehung von NGOs effizienter eingesetzt werden.

Rückbesinnung auf die eigenen ökonomischen Kräfte anstatt des ergebnislosen Hoffens auf ausländische Investoren scheint nun die Devise.

 
R E S Ü M E E

Südafrika wird nicht nur in Bezug auf die Bewältigung von Rassismus und der enormen menschenrechtlichen Belastung der Vergangenheit, sondern auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht zu einem »Laboratorium«, dessen Bedeutung über das Land selbst und seinen afrikanischen Kontext weit hinausreicht. Ob sich Wirtschaftspolitik an der Verwirklichung sozialer Grundrechte oder an kurzfristigen Gewinninteressen orientierten sollte (und welche wirtschaftspolitische Strategie der Erreichung welches dieser beiden Ziele angemessen ist), ist heute eine Frage von globaler Relevanz - nicht zuletzt für die internationale Gewerkschaftsbewegung. Daher müssen auch wir an einem Erfolg des Modells »Neues Südafrika« interessiert sein. Daher verdient der Prozess der gesellschaftlichen Umgestaltung Südafrikas, wie er an jenem erinnerungswürdigen Tag des Jahres 1994 seinen Anfang genommen hat, auch weiterhin unsere Solidarität und Unterstützung.

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(C) AK und ÖGB

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