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Hier wäre jeder Streik gerechtfertigt |
Siegfried Sorz spricht mit Franz Bittner

SCHWERPUNKT

Wir müssen uns entscheiden, sagt Franz Bittner, Obmann der Wiener Gebietskrankenkassa und Vorsitzender der Gewerkschaft Druck, Journalismus, Papier: Wollen wir weiter in einem Wohlfahrtsstaat leben?

Arbeit&Wirtschaft: Kollege Franz Bittner, ich frage dich als Obmann der Wiener Gebietskrankenkassa. Wie ist das mit der Gesundheitsreform, die ja im Jänner 2006 und teilweise schon 2005 in Kraft treten soll? Die Inhalte sind ja bekannt. Zum Beispiel Brillen werden nicht mehr bezahlt. Oder nur in Ausnahmefällen. Das trifft ja wirklich alle und das ist angeblich die größte Leistungskürzung seit 1945?
Franz Bittner: Grundsätzlich, was die Brillen betrifft, ist es die größte Leistungskürzung seit 1945. Aber das gesamte Paket, das die Bundesregierung als »Gesundheitsreform« bezeichnet, ist im Großen und Ganzen eine Mogelpackung. Die Bundesregierung hat versucht, über den Finanzausgleich 300 Millionen Euro zusätzlich in das System zu bringen. Es wurde angedacht, diese 300 Millionen zu teilen: 150 für die Länder und damit für die Spitäler und 150 für die Krankenversicherung. Herausgekommen ist dann, dass die Länder 160 Millionen bekommen und die Krankenversicherungen 130. Diese 130 Millionen sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Weil die Krankenversicherung spätestens 2006 insgesamt einen Abgang von rund 600 Millionen Euro haben wird. Und das ist nicht kumuliert. Kumuliert wäre der Betrag wesentlich höher.

Wäre es dann nicht gerechter, wenn man eine Erhöhung des Beitrags überhaupt machen würde, statt diese Selbstbehalte?
Gehen wir das einmal im Detail durch. Die Bundesregierung hat einen richtigen Schritt in die richtige Richtung gesetzt. Nämlich die Erhöhung des Beitrages um ein Zehntelprozent. Der zweite richtige Schritt, aber gänzlich ungenügend, ist die Erhöhung der Höchstbeitragsgrundlage um 90 Euro. Ich hätte mir vorgestellt, dass man hier die Höchstbeitragsgrundlage wesentlich mehr erhöhen könnte. Meine Vorstellungswelt liegt bei 4000 Euro und nicht bei 3540.

Wie derzeit?
Wie derzeit, mit der Erhöhung inkludiert. Das würde ein zusätzliches Einnahmenpotential von über 180 Millionen Euro bringen und würde nur die sechs Prozent der Topverdiener in Österreich betreffen. Das hätte dazu geführt, dass die unteren Einkommensschichten, der Mittelstand, aber vor allem die Unternehmungen nicht zusätzlich belastet worden wären. Der dritte Bereich wäre eine Senkung der Rezeptgebühr bei den Generika. Das hat man wieder verworfen. Hat die Rezeptgebühr nur valorisiert und hat sich dann, man kann es fast als Bösartigkeit bezeichnen, etwas einfallen lassen und hat gesagt, 35 Millionen Euro von den 130 Millionen, das sind 27 Prozent der Gesamtsumme, müssen in etwa 470.000 Versicherte - das sind 6% aller Krankenversicherten - aufbringen. Das ist nämlich genau die Zahl jener Österreicherinnen und Österreicher, die aufgrund einer Augenerkrankung den medizinischen Behelf einer Brille oder Kontaktlinsen benötigen.

Was ist so eine Augenkrankheit?
Zum Beispiel Menschen, die an einem grauen Star erkrankt sind, oder eine Makuladegeneration haben. Menschen, die Augenfehler haben. Also Personen die aus medizinischen Gründen eine Bifokalbrille oder Brillen mit besonders hoher Dioptrienzahl oder Kontaktlinsen benötigen. Diese Menschen sollten jetzt, wenn es nach der Bundesregierung geht, sämtliche Kosten von Brillen, Fassungen und Kontaktlinsen tragen. Und das ist natürlich eine extreme Schwächung der Sozialversicherung allgemein. Weil grundsätzlich zahlt der Versicherte einen Versicherungsbeitrag, damit er, wenn er erkrankt, die notwendige medizinische Versorgung bekommt, sei das die Rehabilitation, sei das die Wiederherstellung der Gesundheit in einem Krankenhaus oder beim niedergelassenen Arzt. So muss man die Brille betrachten.

Ich habe gehört, dass Regierungsmitglieder nur irgendwas von Designerbrillen gesagt haben. Aber die sind ja sowieso nie bezahlt worden?
Die Designerbrille ist eine absolut dumme Worthülse von Menschen, die anscheinend sehr weit abgehoben sind von den normalen Bedürfnissen der Bevölkerung. Was sind das für Menschen? Man kann davon ausgehen, nehmen wir eine Arbeiterin mit 600 Euro Durchschnitts-pension, die jetzt eine Bifokalbrille benötigt. Die braucht die Bifokalbrille alle drei Jahre. Eine Bifokalbrille kostet in etwa mit einer Krankenkassenfassung 116 Euro, und derzeit zahlt die Krankenkassa aufgrund der gesetzlichen Bestimmung in etwa 96 Euro hinzu. Also weit über 86% der Gesamtkosten. Jetzt kann man sich dann in etwa vorstellen, wie es Menschen geht, die einen Betrag von 20% ihres Monatseinkommens für eine Brille ausgeben müssen, wo vorher die Krankenversicherung 86% der Kosten getragen hat. Bei der Brille muss man noch folgendes bedenken: Es sollen 35 Millionen Euro von 6% der Versicherten aufgebracht werden, indem man praktisch diesen Versicherten eine Leistung der Krankenversicherung nicht mehr bezahlt. Das ist, in der Verhältnismäßigkeit gedacht, extrem ungerecht.

So ungerecht wie die Besteuerung der Unfallrentner.
Fast noch mehr. Wir haben eine Studie, das ist vielleicht nicht uninteressant, vom Prof. Clemens Vass von der Universitätsklinik in Wien. Der errechnet hat, wenn nur zehn Prozent der Personen mit grünem Star nicht mehr zum Augenarzt gehen, weil sie der Meinung sind, ich bekomm sowieso keine Leistung und ich geh zum Optiker und lass mir eine neue Brille anmessen, dann bedeutet das, dass es innerhalb von zehn Jahren zusätzlich 1000 Erblindungen geben wird. Plus zusätzlich 3000 schwerst sehbehinderte Menschen. Wir haben es hier also mit einem gänzlichen gesundheitspolitischen Fehlverhalten dieser Bundesregierung zu tun. Einerseits sagt die Bundesregierung zu Recht, wir wollen in den Gesundenuntersuchungen Menschen ab 65 regelmäßig auf Augenerkrankungen untersuchen. Und andererseits verhindert die Bundesregierung mit dieser Maßnahme, dass Menschen in dem Alter oder auch davor zum Augenarzt gehen. Das ist ein Widerspruch in sich.

Ich spare schon. Weil wenn meine Mutter Brillen braucht, werde ich sie zahlen müssen …
Das Problem ist, dass ja viele Menschen, weil sie eine neue Brille benötigen, den Augenarzt aufsuchen. Und wenn die nicht mehr den Augenarzt aufsuchen, sondern gleich den Optiker, kann der Optiker unter Umständen nicht feststellen, dass bereits Erkrankungen vorliegen, die der Betroffene nicht erkennt. Viele Augenkrankheiten schmerzen nicht. Der Augenarzt erkennt in der Untersuchung Folge- und Begleiterkrankungen: Glaukom, Diabetes etc. Optiker können das nicht diagnostizieren, weil ihnen die Ausbildung dazu fehlt. Das ist eines der großen Probleme, die wir haben. Daher sind die Ärztekammern und die Sozialversicherung, aus medizinischen Gründen, aus sozialen Gründen und aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gegen diese Maßnahme.

Was die finanzielle Situation betrifft: Wie ist das jetzt mit den Beitragsrückständen der Unternehmer? Sind das billige Darlehen, die sie da kriegen? Könnte man das nicht von der Seite aus anpacken?
Teilweise sind das billige Darlehen. Wobei man sagen muss, die billigen Darlehen werden irgendwann bezahlt. Da könnte man den Prozentsatz erhöhen. Damit es praktisch zu keinem billigen Darlehen kommt. Viel problematischer ist in der Zwischenzeit eine organisierte Kriminalität im Bereich von Hinterziehung von Sozialversicherungsabgaben. In einem großen Ausmaß im Baugewerbe und in einem geringeren Ausmaß in der Gastronomie.

Schwarzarbeit!
Die Schwarzarbeit. Hier haben wir es zum Teil mit organisierter Kriminalität zu tun. Wo ganz bewusst kriminelle Machenschaften eingesetzt werden, um Sozialversicherungsbeiträge von Mitarbeitern zu hinterziehen.

Es sind ja nicht die Schwarzarbeiter, die sind Opfer, es sind die Schwarzunternehmer. Es hat den Anschein, man will überhaupt systematisch die Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung zerschlagen. Weils um diesen riesigen Kuchen geht für die Privatwirtschaft: Das Geschäft mit der Gesundheit.
Man kann jetzt schon festhalten, dass die gesamten Gesundheitskosten in Österreich zwischen 7,6 und 7,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Wenn man sich das im Detail ansieht, dann sieht man, dass die öffentlichen Ausgaben in etwa 5,4 Prozent ausmachen und die Differenz auf 7,6 der private Bereich ist. Der private Bereich steigt seit über zehn Jahren. Das heißt, der öffentliche Bereich finanziert von den gesamten Gesundheitsausgaben der Österreicherinnen und Österreicher immer weniger und der private Anteil steigt. Die Bundesregierung versucht ja auch, öffentliche Gesundheitsdienstleister den Privaten rüber zu schieben. Da denkt man an die Diskussion »Public Private Partnership«. Nicht, dass ich grundsätzlich dagegen wäre, aber es sind Bereiche, wo man zum Beispiel die Meinung vertritt, ein Privater, der ein Rehabzentrum betreibt, würde grundsätzlich kostengünstiger sein. Also das würde ich einmal bestreiten. Da wir als Non-Profit-Organisationen ja keine Gewinne machen müssen und dürfen.

Würde man heute die Rehabeinrichtungen der Unfallversicherungsanstalt oder der Pensionsversicherungsanstalt privatisieren, bin ich überzeugt, dass die Leistung und die Qualität der Rehabeinrichtungen für den Betroffenen abnimmt, weil die Privaten logischerweise Gewinne machen müssen.

Die Sozialversicherung hat nur drei Prozent Verwaltungsaufwand?
Insgesamt haben wir in der Sozialversicherung drei Prozent Verwaltungsaufwand. Im Krankenversicherungsbereich liegen wir sogar darunter. Da liegen wir zwischen 2,6 und 2,8.

Letzten Endes frage ich dich ganz vertrauensvoll oder auch hilflos: Wie wird es weitergehen? Wie werden unsere Rückzugsgefechte da weiter stattfinden?
Man muss schon optimistisch sein! Ich gehe einmal davon aus, dass die Österreicherinnen und Österreicher sich das auf Dauer nicht gefallen lassen, dass es so tiefe Einschnitte gibt in das Sozialsystem, seien das jetzt die so genannten »Pensionsharmonisierungen« oder die Kürzungen im Gesundheitswesen. Es wird irgendwann auch einen Wahltag geben, wo sich die Österreicherinnen und Österreicher entscheiden müssen: Wollen sie weiter in einem Wohlfahrtsstaat leben - und soll er auch zukünftig fair und gerecht finanziert werden? In Österreich haben wir eine Situation wo die Reichen reicher werden und die Ärmeren ärmer. Inzwischen wird auch der Mittelstand ärmer. Also das ist eine Auseinandersetzung, die bei Wahlen stattfindet. Man kann nur hoffen, dass eine so neoliberale Regierung wie die derzeitige bei den Wahlen einen Denkzettel bekommt. Das Finanzierungsproblem liegt nicht innerhalb des Gesundheitswesens, sondern außerhalb. Die Arbeitsmarktlage verändert sich so rasant, dass die Menschen bei gleicher Tätigkeit weniger verdienen. Denken wir nur an die ganze Flexibilisierungsdebatte, die wir derzeit haben. Die Menschen sollen die gleiche Leistung erbringen mit Überstunden. Aber die Überstunden möchte man ihnen nicht mehr bezahlen. Das bedeutet schlussendlich, dass weniger Geld in die Sozialversicherung kommt. All das führt zur Aushöhlung des Wohlfahrtsstaates. Das müssen wir den Menschen auch mitteilen können.

Was ist das mit dem Arbeitszeitgesetz, wo sie die KVs irgendwie aushebeln wollen?
Die Diskussion, die jetzt in Österreich beginnt, von Seiten der Wirtschaft wie auch der Politik, ist die, dass im derzeitigen Arbeitszeitgesetz ein Durchrechnungszeitrum von 52 Wochen möglich ist. Aber immer nur dann, wenn der zuständige Kollektivvertrag das auch vorsieht.
Wenn die Bundesregierung ein Gesetz beschließt, in dem der Passus, dass der Kollektivvertrag das auch vorsehen muss, rausfällt, dann haben wir die Diskussion am Arbeitsplatz. Das bedeutet, dass die Unternehmungen oder die Geschäftsführer, die Vorstände, direkt mit ihren Betriebsräten Arbeitszeitvereinbarungen abschließen können. Mit 52 Wochen Durchrechnungszeitraum.

Das wollen sie! Das wäre eine extreme Schwächung!
So ist es. Die Bundesregierung ist am besten Weg dorthin, das auch umzusetzen. Die Signale, die wir bekommen, gehen in diese Richtung. Und das bedeutet schlussendlich einen massiven Eingriff in das Kerngeschäft der Gewerkschaften selbst.
Das können sich Gewerkschaften ganz einfach nicht gefallen lassen. Hier wäre aus meiner Sicht jeder Streik und jede Länge eines Streiks gerechtfertigt.

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