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Wettbewerb nach unten

HINTERGRUND

Die Europäische Kommission hat im Feber 2004 einen Richtlinienvorschlag dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt, der Dienstleistungen im Binnenmarkt grundlegend neu regeln soll. Der Vorschlag birgt Sprengstoff für die Beschäftigten im Dienstleistungssektor, aber auch für die KonsumentInnen.

Die Richtlinie zielt darauf ab, unter anderem das Herkunftslandprinzip horizontal umzusetzen. Das unterläuft die jeweiligen nationalen Bestimmungen und fördert somit die Erosion verbindlicher Qualitätsstandards.

Ziele des Entwurfs

Die Richtlinie »Dienstleistungen im Binnenmarkt«1) will einen einheitlichen Markt für Dienstleistungen und damit - so argumentiert die EU-Kommission - mehr Wachstum schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die noch bestehenden nationalen Hindernisse im grenz-überschreitenden Dienstleistungsverkehr zu beseitigen. Alle in der Europäischen Union ansässigen Unternehmen sollen ihre Dienstleistungen gemeinschaftsweit anbieten und erbringen können, ohne die gesetzlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats erfüllen zu müssen. Dies soll zu stärkerem Wettbewerb und damit zu günstigeren Dienstleistungen führen. Die Empfänger der Dienstleistungen, dies sind Endverbraucher und Unternehmen, sollen sich uneingeschränkt aller Dienstleistungserbringer in der EU bedienen können. Schenkt man den Argumenten der Europäischen Kommission Glauben, so sind wir alle die Profiteure dieses uneingeschränkten Binnenmarktes. Eine kritische Analyse der möglichen Auswirkungen für ArbeitnehmerInnen und auch KonsumentInnen straft diese Behauptung aber Lügen.

Der Dienstleistungssektor in der EU

Um die Bedeutung der Richtlinie zu erfassen, hat man sich den Anwendungsbereich zu vergegenwärtigen. Generell sind alle wirtschaftlichen Dienstleistungen von der Richtlinie erfasst. Diese können gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten sein, die in der Regel gegen Entgelt verrichtet werden.
Der Dienstleistungssektor ist für Beschäftigung und Wertschöpfung von großer Bedeutung: Mehr als die Hälfte des Inlandproduktes entfällt auf private Dienstleistungen. Rund zwei Drittel der Beschäftigten arbeitet in Unternehmen dieser Branche, denen mehr als vier Fünftel der Unternehmen in der Europäischen Union zuzurechnen sind. Große Dienstleistungsbranchen wie die Telekommunikation und Versorgungswirtschaften, darunter etwa die Eisenbahnen, sind in den letzten Jahren durch sektorale Richtlinie EU-weit reguliert, oder besser gesagt dereguliert worden. Somit wurden diese Bereiche harmonisiert, d. h. für sie gelten EU-weit bereits die gleichen Regeln.

Der auf EU-Ebene noch nicht harmonisierte Bereich umfasst z. B. Groß- und Einzelhandel, Bauwirtschaft, Gastronomie, Gewerbe und Unternehmensdienstleistungen. Für diesen soll die neue Richtlinie gelten. Generell befürchten wir über die Dienstleistungsrichtlinie einen zusätzlichen Druck auf öffentliche Dienstleistungen, z. B. im Gesundheitsbereich.

Der (privat-)wirtschaftlich organisierte Dienstleistungsbereich beschäftigt über 60 Millionen ArbeitnehmerInnen und erwirtschaftete im Jahr 2000 rund drei Milliarden Euro. Aber auch in der Industrie wird ein erheblicher Teil der Wertschöpfung durch Dienstleistungen erbracht. Wir wissen allerdings nur sehr wenig über diese Branchen, da die statistischen Grundlagen teilweise fehlen. Die Kenntnisse über den Umfang des Dienstleistungshandels über die Grenzen der Mitgliedstaaten sind ebenfalls sehr begrenzt. Die Dienstleistungsrichtlinie soll für alle wirtschaftlichen Dienstleistungen gelten, die innerhalb der EU grenzüberschreitend erbracht werden. Darunter fällt zum Beispiel die Bautätigkeiten eines italienischen Bauunternehmen auf einer österreichischen Baustelle, aber auch häusliche Pflegedienste an einer inländischen Pflegebedürftigen durch eine beim tschechischen »Roten Kreuz« angestellten Krankenschwester.

Chaos der Rechtssysteme

Mit dem Herkunftslandprinzip - Herzstück der Dienstleistungsrichtlinie - kommt eine neue Qualität der Deregulierung im Binnenmarkt ins Spiel. Es stellt den Paradigmenwechsel in der Binnenmarktpolitik dar, da vom Prinzip der schrittweisen Annäherung der unterschiedlichen Normen durch europäische Mindeststandards (Harmonisierung) abgegangen wird. Das Herkunftslandprinzip regelt zwei Aspekte mit weitreichenden Folgen: Welches Recht hat das Dienstleistungsunternehmen anzuwenden? Und welche Behörde hat zu kontrollieren?

In der Dienstleistungsrichtlinie heißt es nach Artikel 16 Absatz 1: »Die Mitgliedstaaten haben dafür Sorge zu tragen, dass Dienstleistungserbringer lediglich den Bestimmungen ihres Herkunftsmitgliedsstaates unterfallen.« Und weiters: »Der Herkunftsmitgliedstaat ist dafür verantwortlich, den Dienstleistungserbringer und die von ihm erbrachten Dienstleistungen zu kontrollieren, auch wenn er diese in einem anderen Mitgliedstaat erbringt« (Artikel 16 Absatz 2).

Ersteres führt dazu, dass Dienstleister aus 25 Ländern unter alleiniger Beachtung ihrer jeweiligen heimatlichen Rechtsordnungen miteinander auf einem nationalen Markt in Wettbewerb treten. Derzeit bestehen zwischen den Mitgliedstaaten unterschiedliche Qualitätsstandards. Diese werden mit dem Herkunftslandprinzip auch auf die nationale Ebene verlagert.

Dies führt zwangsläufig zu einem - nach Aussagen der Kommissionsbeamten durchaus beabsichtigten - »Wettbewerb der Systeme«. Die gegenseitige Anerkennung der Standards fördert den Standortwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten um die niedrigsten Anforderungen an die Aufnahme und Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten und die kostengünstigsten Produktionsbedingungen. Für Unternehmen bringt es große Wettbewerbsvorteile, sich in dem Land anzusiedeln, wo Bestimmungen hinsichtlich Berufsqualifikation, Steuern und Abgaben, Sicherheitsvorschriften, Anstellung und Entgeld etc. niedrig sind, wenn es unter diesen Bedingungen im gesamten Binnenmarkt arbeiten kann. Ein neuer Wettbewerb nach unten hin zum kleinsten gemeinsamen Nenner ist unausweichlich.

Deregulierung zum Quadrat

Der Wettlauf nach unten wird durch den zweiten Aspekt des Herkunftslandprinzips nur verstärkt. Hinsichtlich der Umsetzung sagt die »Bolkestein«-Richtlinie - so wird der Entwurf auch genannt -, dass die Aufgabe der Kontrolle von Vorschriften einzig und allein dem Herkunftsland zukommt. Die Behörden im Land der Leistungserbringung dürfen de facto nur mehr Sachverhalte erheben, da ihnen untersagt ist, bei Verstößen Sanktionen zu verhängen. Letzteres dürfen lediglich die Behörden des Herkunftslandes, in dem sich unter Umständen auch nur ein Briefkasten des Unternehmens befinden kann, da Mitgliedstaaten keine Sitzlandpflichten vorsehen dürfen.

Aber welches Interesse sollte ein Herkunftsland haben, die Auslandsgeschäfte der bei ihm beheimateten Unternehmen zu kontrollieren? Warum sollte es ihnen Geschäftsmöglichkeiten verbauen, die sich positiv auf die Außenwirtschaftsbilanz niederschlagen und wo die Geschädigten nicht im eigenen Land leben? Verfügen die Behörden überhaupt über die finanziellen und personellen Möglichkeiten, um solche Zusatzaufgaben zu übernehmen? Und nicht zuletzt: Wie kann es zu einer effektiven Wirtschaftsaufsicht kommen, wenn die zu kontrollierende Behörde nicht die Befugnis hat, vor Ort im Zielland zu kontrollieren, sondern auf die Behördenkooperation angewiesen ist?

Solche, aber noch viele andere Fragen stellen sich uns unmittelbar, wollen wir die »Bolkestein«-Richtlinie bewerten.

Entsenderichtlinie ohne Kontrolle?

Entsprechend dem Richtlinienentwurf wird das Herkunftslandprinzip nicht bei zur Verrichtung von Tätigkeiten in ein anderes Mitgliedsland entsandten ArbeitnehmerInnen angewendet. In dem Fall gelten nach wie vor die Bestimmungen der Entsenderichtlinie, die besagt, dass die entsandten Arbeitskräfte »ortsüblich« - also nach den Bestimmungen im Staat, wo der Einsatz erfolgt - zu entlohnen sind. Doch - und dies ist die Krux - werden die Möglichkeiten der Kontrolle wesentlich eingeschränkt. Das wirft die wie bereits weiter oben gestellte Frage auf, ob eine effektive Überprüfung möglich ist? Der Mitgliedstaat, in das der Dienstleister seine Beschäftigten entsandt hat, ist verstärkt auf die Zusammenarbeit mit der Behörde im Herkunftsland angewiesen. Diese wird aber in der Regel kein Interesse an der Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen im so genannten Entsendemitgliedstaat und somit an einer guten Zusammenarbeit haben.

Zum Beispiel die Situation auf den Baustellen zeigt, dass bereits die derzeitigen Kontrollmöglichkeiten nicht ausreichen, um die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in den sensiblen Branchen zu schützen. Seit der EU-Erweiterung mit 1. 5. 2004 arbeiten zahlreiche Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedstaaten formell als selbständige Ein-Personen-Unternehmer auf österreichischen Baustellen. Allein in Wien hat die Landesinnung für das Bauhilfsgewerbe eine »Gründerwelle« von 900 Neugründungen seit der Erweiterung bei bis dahin 1500 Mitgliedern verzeichnet. Um die Übergangsbestimmungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu umgehen, bedarf es einer entsprechenden Unterstützung der neuen »Selbständigen« durch die Behörden in den neuen Mitgliedstaaten, welche die erforderlichen Dokumente bereitstellen. Aus der Sicht der slowakischen Behörde zum Beispiel ist es legitim, ihre Staatsbürger zu unterstützen, um im Ausland eine Beschäftigung zu finden. Ob dies auf Kosten ordnungsgemäßer Wettbewerbsbedingungen, des Arbeitsmarktes oder der ArbeitnehmerInnen des Gastlandes geht, liegt nicht in ihrem unmittelbaren Interesse. Mit eine guten Zusammenarbeit mit den Behörden des Herkunftslandes zur Aufdeckung von Umgehungspraktiken ist daher nicht zu rechnen. Die funktionierende Zusammenarbeit der Behörden ist aber eine der Grundlagen der Dienstleistungsrichtlinie.

Die KonsumentInnenen kennen in der Regel die Rechtsvorschriften im Sitzstaat des Anbieters nicht und können daher weit weniger beurteilen, ob dessen Verhalten rechtmäßig ist. Abgesehen von einem reinen Preisvergleich können KonsumentInnen häufig selbst eklatante Qualitätsunterschiede nicht feststellen. Sie erwarten sich vom nationalen wie EU-Gesetzgeber folgerichtig zuverlässigen Schutz durch einen hochwertigen Ausbildungsstand der Dienstleister und Ausübungsregeln, die vor Übervorteilung und eventuellen Schäden bewahren.

Der durch das Herkunftslandprinzip eingeleitete Wettbewerb um die geringsten Ausübungsvorschriften benachteiligt die VerbraucherInnen: Sie können sich nicht auf die Einhaltung von ihnen vertrauten Standards bzw. Mindestqualitätsniveaus verlassen. Darüber hinaus erhöht es das Auswahlrisiko. Wirbt der Dienstleister mit unlauteren Methoden, verstößt er gegen Ausübungsregeln oder verhält er sich gar strafrechtsrelevant, so ist der mühsame und wenig erfolgsversprechende Weg der Behördenkooperation zu beschreiten. Denn ein Einschreiten der Behörden im Wohnsitzland des Verbrauchers ist nur mehr im Ausnahmefall gestattet.

Am Ort der Ausführung der Arbeiten muss die konsequente Überwachung des rechtmäßigen Verhaltens von Dienstleistern und die rasche Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes bei Rechtsverletzungen durch die ortsansässigen Behörden weiterhin möglich sein, andernfalls verlieren VerbraucherInnen und Mitbewerber ihren Schutz vor unredlichen, schädigenden Verhaltensweisen im Geschäftsverkehr. Der in der Richtlinie vorgeschlagene Weg der Zusammenarbeit ist über alle Maßen umständlich und damit unpraktikabel.

Ist schon alles verloren?

Der Richtlinienentwurf der Kommission wird zur Zeit in einer Arbeitsgruppe des Rates im Detail diskutiert. Die BeamtInnen der Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, Vorbehalte zu den einzelnen Bestimmungen vorzubringen. Parallel dazu behandelt das Europäische Parlament die Dienstleistungsrichtlinie. Die »erste Lesung« ist für das Frühjahr 2005 geplant, wo Änderungsanträge eingearbeitet werden. Ein überarbeiteter Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie mit den Anmerkungen der einzelnen Mitgliedstaaten und den Änderungsvorstellungen des Europäischen Parlaments liegt voraussichtlich im Frühsommer 2005 vor.

Grundsätzlich ist aus Brüssel zu hören, das Herzstück der Richtlinien, nämlich das Herkunftslandprinzip, sei politisch »außer Streit« gestellt. Einzelne Berufsgruppen bzw. Bereiche wie die freien Berufe oder der Gesundheitsbereich versuchen, sich dem Herkunftslandprinzip in Form einer Ausnahmeregelung zu entziehen, doch wird der Grundsatz politisch nicht hinterfragt. Die Mitgliedsländer agieren nach dem Prinzip, ihre Schäflein, die politisches Gewicht haben, ins -Trockene zu bringen.

Vor diesem Hintergrund ist es um so wichtiger, die Inhalte der Dienstleistungsrichtlinie in einer breiten Öffentlichkeit zu diskutieren und die möglichen Auswirkungen klar aufzuzeigen.

1) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Dienstleistungen im Binnenmarkt, Brüssel 25. 2. 2004; KOM (2004) 2 endgültig/2

R E S Ü M E E

Wird das Herkunftslandprinzip in der vorliegenden Form umgesetzt, so verabschieden wir uns vom Ziel der Kohäsion und der schrittweisen Annäherung der einzelstaatlichen Arbeits-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards. Aus interessenspolitischer Sicht ist dies abzulehnen. Wir wollen weiterhin den Weg der EU-Harmonisierung in einzelnen Sektoren und Branchen beschreiten, die die unterschiedlichen Standards in der EU-25 mit Mindeststandards auf hohem Niveau absichern. Dies nimmt sicherlich mehr Zeit in Anspruch, doch kann nur so gewährleistet werden, dass auf nationale Besonderheiten und Interessenslagen Rücksicht genommen wird.

Ein »grenzenloser« Binnenmarkt nach den Vorstellungen der »Bolkestein«-Richtlinie leitet einen Wettbewerb nach unten ein. Das steht in diametralem Gegensatz zu den Zielen der EU, nämlich Vollbeschäftigung und sozialen Zusammenhalt zu erreichen, aber auch bis 2010 wettbewerbsfähigster Wirtschaftsraum zu werden.

AutorInnen:
Elisabeth Beer,
Abteilung EU & Internationales, AK-Wien
Walter Gagawczuk,
Abteilung Sozialpolitik, AK-Wien
Dorothea Herzele,
Abteilung Wirtschaftspolitik, AK-Wien
Valentin Wedl,
Abteilung EU & Internationales, AK-Wien
Daniela Zimmer,
Abteilung Konsumentenpolitik, AK-Wien

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