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Auszug aus dem Buch »Mythen der Ökonomie«: Anleitung zur geistigen Selbstverteidigung in Wirtschaftsfragen

SCHWERPUNKT VERTEILUNG

Mythos »Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut«1): »Was den Unternehmen nützt, ist auch im Allgemeininteresse, denn die Unternehmen schaffen Wohlstand, der der gesamten Gesellschaft zugute kommt. Forderungen nach wirtschaftspolitischer Begünstigung von Unternehmen sind daher legitim, während Unternehmen durch Forderungen der Gesellschaft nicht überstrapaziert werden dürfen.«

Mit diesem Argument wird zunächst wirtschaftlicher Wohlstand zum wesentlichen Maßstab für Wohlbefinden erklärt. Im Allgemeinen verbinden wir Lebensqualität mit einer guten Ausbildung, weitgehender Gesundheit, einem angemessenen Verhältnis von Arbeit und Freizeit und einem Leben in einer angenehmen und sicheren Umgebung. Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt geben darüber nur beschränkt Auskunft: Obwohl etwa die Bevölkerung der USA ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als die Bevölkerung der EU hat, weisen andere Indikatoren auf eine höhere Lebensqualität in der EU hin. Die Menschen arbeiten hier weniger, haben einen längeren Urlaubsanspruch, die allgemeine Gesundheitsversorgung ist breiter zugänglich, die Kindersterblichkeit ist geringer, die Zahl der Morde und der Inhaftierten ist im Schnitt geringer.2)

Auch Umfrageergebnisse und theoretische Modelle im Bereich der so genannten Glücksforschung zeigen, dass sich das Wachstum der Wirtschaft nicht (bzw. nicht notwendigerweise) in einer Steigerung des subjektiven Wohlbefindens der Menschen niederschlägt. Zum Beispiel hat sich in den Industriestaaten das Bruttoinlandsprodukt seit 1950 vervielfacht, das aus Befragungen hervorgehende subjektive Wohlbefinden der Bevölkerung ist aber seit dieser Zeit immer ziemlich konstant.3)

Seit Jahrzehnten wird kritisiert, dass das Bruttoinlandsprodukt als zentrale Messgröße des wirtschaftlichen Wohlstandes wenig aussagekräftig ist. Schließlich wirken in dieser Sammelgröße sämtlicher wirtschaftlicher Aktivitäten eines Jahres auch die Folgekosten von Umweltverschmutzung, die Gesundheits- und Materialkosten nach Unfällen und andere Ausgaben mit zweifelhaftem gesellschaftlichen Nutzen wachstumserhöhend. Unter diesem Gesichtspunkt ist klar, dass Wirtschaftswachstum nicht automatisch Erhöhung von Wohlstand und Lebensqualität bedeutet, ja erhöhtes Wachstum auch mit einer Verschlechterung der Wohlfahrt einhergehen kann. Andererseits werden wirtschaftliche Aktivitäten von hohem Wert, die aber nicht bezahlt werden (z. B. unbezahlte Hausarbeit), im BIP nicht mitgerechnet.

Ausgeblendete Interessengegensätze und Verteilungsfragen

Der Kapitalismus ist seit seinen Anfängen vom Konflikt zwischen Kapital und Arbeit dominiert. Im Lauf seiner Geschichte wurden verschiedene gesellschaftliche Kompromisse und politische Regulationen ausgehandelt, um mit diesem fundamentalen Interessengegensatz umzugehen. In den westlichen Industriestaaten der Nachkriegszeit etwa dominierte der Versuch, den Konflikt dadurch zu befrieden, dass die Beschäftigten am Wirtschaftswachstum über Lohnerhöhungen, Sozialleistungen und wohlfahrtsstaatliche Absicherungen beteiligt wurden. »Dabei erhielt die Umverteilung eines Teils des erwirtschafteten Reichtums zugunsten des Faktors Arbeit die Funktion, die Gesamtnachfrage zu stützen, mithin eine an die Entwicklung der Produktivkräfte angepasste Ausdehnung des Marktes zu ermöglichen.«4) So wurde der Konflikt um die Macht zwischen Kapital und Arbeit aus der Sphäre der Produktion, die dem Kommando der Unternehmen überlassen wurde, auf die Ebene von Verteilung und Konsum verschoben. Dort gab es Zugeständnisse an die Beschäftigten, sodass zumindest den Beschäftigten in den Großbetrieben plausibel gemacht wurde, dass was der Wirtschaft nütze, auch in ihrem eigenen Interesse sei.

In den letzten Jahrzehnten ist jedoch zunehmend deutlich geworden, dass die Unternehmen bestrebt sind, diesen Kompromiss zu ihren Gunsten zu verschieben bzw. aufzukündigen. Erhöhung der Gewinne auf Kosten der Löhne, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Entlassungen, Widerstand der Unternehmen gegen Besteuerung und wohlfahrtsstaatliche Leistungen machen die Behauptung, was im Interesse der Wirtschaft sei, liege auch im Allgemeininteresse, zunehmend unplausibel.

Steuersenkung bedeutet Ausgabenkürzung

Was für das Verhältnis von Kapital und Arbeit im Betrieb gilt, trifft auch für die Beurteilung staatlicher Gesetze und wirtschaftspolitischer Maßnahmen zu. Von wirtschaftlichen Ereignissen oder wirtschaftspolitischen Maßnahmen sind nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen. Zum Beispiel bedeutet eine Steuersenkung für die Unternehmen, dass die entgangenen Steuereinnahmen des Staates entweder durch höhere Steuern von anderen Gruppen (z. B. Lohnsteuern) aufgebracht werden müssen oder dass staatliche Ausgaben gekürzt werden müssen, die anderen zugute kommen. Werden Auflagen und Regulierungen für Unternehmen gesenkt oder abgeschafft, tragen diejenigen einen Schaden davon, die bislang von diesen Regeln profitierten: Lockerung des Kündigungsschutzes entlastet zwar die Unternehmen, aber erhöht den Druck und die Unsicherheit für Lohnabhängige. Zu behaupten, alle Reformen, die der Wirtschaft nützen, seien im Allgemeininteresse, blendet solche Verteilungsfragen aus.

Zweifelhafter Nutzen

Gegen den Hinweis auf Verteilungsfragen wird oft eingewandt, unternehmensbegünstigende Maßnahmen hätten gesamtwirtschaftlich positive Auswirkungen, die größer seien als der Schaden für einzelne negativ Betroffene - es zahle sich also für die Gesellschaft insgesamt aus, diese Lasten in Kauf zu nehmen. Entlastungen für Unternehmen, die zu höheren Gewinnen für Unternehmen führen, sind demnach gut, weil Gewinne für Investitionen verwendet werden, die Arbeitsplätze schaffen. Auch wenn also Begünstigungen für Unternehmen (Steuersenkungen, Regulierungsabbau, Förderungen etc.) anderen Bevölkerungsgruppen schaden, würde über den Umweg positiver Arbeitsplatzeffekte dieser Schaden mehr als kompensiert.

Positive Unternehmensgewinne?

Wenn das so wäre, dann müssten sich hohe Unternehmensgewinne immer positiv auf die Gesamtwirtschaft auswirken. Das ist aber nicht der Fall. Obwohl die Profite der Unternehmen in den Industriestaaten nach einem Rückgang in den 1970er-Jahren in den letzten Jahren wieder sehr hoch sind, sind ihre Investitionen anhaltend niedrig. Es kann also vorkommen, dass höhere Gewinne in die Taschen der EigentümerInnen wandern statt in Investitionen.5) Auch die Tatsache, dass die Bekanntgabe von steigenden Arbeitslosenzahlen bzw. Entlassungen häufig für steigende Kurse an den Börsen sorgt, ist ein Hinweis darauf, dass die widersprüchlichen Einzelinteressen keinen Anlass haben, zugunsten eines vermeintlichen Allgemeininteresses in den Hintergrund zu treten.6)

Auch für die häufig aufgestellte Behauptung, zu viel Umverteilung schade der wirtschaftlichen Dynamik, wohingegen Einkommensungleichheiten wegen ihrer Wirkung als Leistungsanreiz positiv wirken würden, gibt es keine Belege. Im Gegenteil kann Umverteilung zu ärmeren Bevölkerungsgruppen das Wachstum sogar erhöhen, weil diese dadurch zu Kaufkraft gelangen, die dem Wirtschaftskreislauf zugute kommt, und weil damit die gesellschaftlichen Kosten durch Kriminalität, auf die eine verarmte Unterklasse verwiesen sein könnte, gesenkt werden.7)

 

Eine Sammlung von 30 der wichtigsten ökonomischen Irrlehren. Diese Mythen werden in den einzelnen Beiträgen kurz vorgestellt und mit ökonomischen Argumenten widerlegt.

Die öffentliche Debatte über Wirtschaft und Wirtschaftspolitik ist dominiert von der Sachzwang-Logik. In der Diskussion um wirtschaftliche Reformen spielen Wünsche, Interessen und Ziele gesellschaftlicher Gruppen keine Rolle. Alles dreht sich um die Frage, welchem Anpassungsdruck durch neueste Entwicklungen (Globalisierung, Arbeitslosigkeit, Konjunkturflaute, ausufernde Steuerbelastung) wieder Folge zu leisten ist. Der ökonomischen Expertise kommt bei der Plausibilisierung entsprechender Reformmaßnahmen eine wichtige Rolle zu: Wirtschaftswissenschafter, Unternehmensverbände und Wirtschaftspolitiker haben die Aura des besseren Wissens und begründen mit Expertenwissen zu treffende Maßnahmen.

Dieser Zustand ist aus zwei Gründen problematisch:

  1. Viele Zusammenhänge und Empfehlungen sind in den Wirtschaftswissenschaften selbst umstritten. Es gibt nicht die eine Expertise, sondern auch unter Experten Streit darum, was »wirtschaftlich vernünftig« ist.
  2. Die Dominanz von Expertenmeinungen, die nicht das ganze Für und Wider zu jeder Frage darlegen, sondern einseitige Stellungnahmen als Expertise ausgeben, verhindern, was einer Demokratie angemessen ist: eine breite wirtschaftliche Bildung der Bevölkerung und ihre Einbindung in wirtschaftspolitische Debatten und Entscheidungen.

Die AutorInnen liefern ein kompaktes Nachschlagewerk und ein Argumentarium für ökonomiekritische Debatten in beinahe jeder Lage: Kneipe, Talkshow, Bundestag etc. Ihre Themen reichen von »Die Überalterung macht den Wohlfahrtsstaat unfinanzierbar« bis »Börse dominiert die Wirtschaft«, von »Private Pensionsvorsorge ist besser« über »Regulierungen schaden der Wirtschaft« bis »Nur Fleiß und Leistung machen ein Land reich«.

Obiger Text ist ein Abdruck aus dem soeben erschienen Buch »Mythen der Ökonomie. Anleitung zur geistigen Selbstverteidigung in Wirtschaftsfragen« des Beirats für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM), VSA Verlag, 166 Seiten, EUR 14, ISBN 3-89965-119-7
www.beigewum.at

1) Dieser Slogan wurde vom österreichischen Unternehmensverband Wirtschaftskammer im Jahr 2004 lanciert.
2) Jeremy Rifkin: Glückliches Europa, in: Die Zeit 43/2004
3) Subtract rows, add sex, in: The Economist 25. 7. 2002; Richard Layard: Die glückliche Gesellschaft, Frankfurt am Main 2005
4) Birgit Mahnkopf: Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit. Zur Neuinterpretation der sozialen Frage im globalen Kapitalismus, in: Prokla 121/30 (2000)
5) Engelbert Stockhammer: Krise oder postfordistisches Akkumulationsregime?, in: Kurswechsel 4/2000
6) John H. Boyd/Ravi Jagannathan/Jian Hu: The Stock Market‘s -Reaction to Unemployment News: Why Bad News is Usually Good for Stocks, NBER Working Paper No. W8092 (2001)
7) Markus Knell: Einkommensungleichheit und Wachstum, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 4 (1998)

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