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Antisemitismus heute

HINTERGRUND

Wie sollte heutzutage die Auseinandersetzung mit Antisemitismus aussehen? Warum fehlt die Auseinandersetzung der Politik damit nach wie vor? Sollte das Thema Antisemitismus nicht längst erledigt sein?

In der »Kronen-Zeitung« vom 3. Mai 1998 findet sich in der Gesellschaftsspalte ein Artikel mit dem Titel »Kein Judenhass in Österreich!« Darin heißt es, Marcel Prawy, »unser beliebter Opernführer (…) formulierte dieser Tage im New Yorker Columbus-Club, dem Treffpunkt der elitären Kunst-, Finanz-, Journalisten-, Film- und Theaterszene (…) laut und deutlich: In meiner Heimat, in Österreich, gibt es keinen Antisemitismus mehr, der Judenhass ist tot!«

Im Gegensatz dazu ein Zitat der Filmemacherin Ruth Beckermann aus ihrem Buch »Unzugehörig« von 1989:

»In diesem Land wurde nach 1945 weder die Verstrickung der Österreicher in den Nationalsozialismus noch die Problematik eines Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden nach Auschwitz diskutiert. Die österreichische Schuldverleugnung seit der so genannten Stunde Null wurde auch in der nächsten Generation nicht grundlegend hinterfragt. Daran änderte auch die Studentenbewegung nichts. Die Vernichtung der Juden taucht spärlich in der linken Publizistik der Siebzigerjahre auf. Eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus selbst fehlt in dieser Bewegung ganz. Von der Beziehung zwischen den Österreichern und Juden spricht man nicht«
(Seite 18).

»In Österreich fällt das Wort Jude in den Bereich der Schimpfwörter. Es wird fast immer in antisemitischem Kontext verwendet. Auch wohlmeinenden Bürgern kommt es schwer über die Lippen. Sie weichen meist auf das Adjektiv aus und sprechen von jüdischen Mitbürgern oder gar von jüdischen Freunden« (S 20).

Wer ist Jude?

An dieser Stelle muss zuerst der Begriff Jude eine Definition finden, derer es drei gibt:

  1. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz besagt, dass Jude der ist, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde.
  2. Spricht man von der »jüdischen Glaubensgemeinschaft«, worin auch die Konvertiten zum Judentum enthalten sind.
  3. Spricht man von der »Schicksalsgemeinschaft der Juden«, diese umfasst all jene, die entweder als Juden geboren wurden, denen ihre Religion aber nichts bedeutet, oder die sich nicht dem Stress des Jude-Seins aussetzen wollen - aber auch jene mit christlichem Bekenntnis, die das Judentum als Teil ihres Ichs empfinden, z. B. weil ein Familienmitglied diesem angehörte bzw. Opfer der Schoa wurde. In dieser Gruppe ist der Spruch verbreitet: »Zum Juden hat mich erst der Antisemitismus gemacht.«

Antisemitismus beginnt dort, wo Juden als verschworene Gruppe und nicht als Individuen gesehen werden. Es gibt gläubige und ungläubige, gescheite und dumme, reiche und arme, linke und rechte genauso wie es dicke und dünne Juden gibt - und all das über die ganze Welt verstreut. Es gibt Genies und es gibt Verbrecher, die durch den Zufall der Geburt Juden sind.

Christlichsozialer Antisemitismus

Die älteste Form ist der christliche Antisemitismus. Im Mittelalter wurden seitens der Kirche der Judenhass gepredigt und grausame Bekehrungsmethoden wie Scheiterhaufen, Folter und Zwangstaufen eingesetzt. Gerüchte über Ritualmorde und Brunnenvergiftungen führten immer wieder zu Raub und Mord, also zu Pogromen, oder sollten diese nachträglich rechtfertigen.

Bis 1945 war Antisemitismus politisch salonfähig. So schrieb 1932 der spätere Wiener Bürgermeister Richard Schmitz in den Erläuterungen zum christlichsozialen Parteiprogramm: »Echt deutsche Art ist von gut christlichem Wesen nicht zu trennen. (…) Der Antisemitismus ist seit den Uranfängen der Bewegung ein Stück christlichsozialen Wesens. Kein bloßes Agitationsmittel, sondern ein Teil des Programms, des geistigen Inhalts der Partei (…)« (Seiten 62 und 67).

Erst in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils von vor knapp 40 Jahren werden die Juden nicht mehr kollektiv als »Christusmörder« bezeichnet. Aber noch in meiner Kindheit hörte ich sagen »Die Juden haben unseren Heiland ans Kreuz geschlagen.«

Wahnbilder

In der Neuzeit wurden alte Wahnbilder durch wirtschaftliche, politische und biologistische Konstrukte ersetzt bzw. ergänzt: Juden wurden als »Volksschädling«, »Kulturzersetzer«, »Weltverschwörer« und »Untermenschen« bezeichnet. Hier machte sich ein »ökonomischer Antisemitismus« breit: Das älteste antisemitische Klischee ist das vom geldgierigen Juden, doch die Grundlage dafür setzte die Kirche bereits im Mittelalter, denn ausschließlich Juden durften Zins- bzw. Pfandleihgeschäfte führen. Rechtlich unterstanden sie direkt dem Fürsten, der für das Aufenthaltsrecht horrende Summen kassierte. In der Steiermark herrschte bis weit ins 19. Jahrhundert ein generelles Siedlungsverbot für Juden. Selbst unter Josef II. musste für die »Toleranz« noch teuer bezahlt werden. Erst seit dem Revolutionsjahr von 1848 dürfen sich Juden in Österreich steuerfrei ansiedeln, erst seit 1867 genießen Juden in Österreich vollwertige Rechte als Staatsbürger.

Weltverschwörer

Der »Rassen-Antisemitismus« ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, unter Hitler wurde er zur Staatsreligion. Die Nazis stellten die Juden u. a. als Weltverschwörer, bolschewistische Mörder, geile Verführer »arischer« Mädchen oder auch gleich als Ungeziefer dar.

Selbstverständlich gibt es auch einen linken Antisemitismus, doch er ist ambivalent: während einerseits Juden höchste Parteiämter besetzen konnten, wurde in der Propaganda gegen »jüdische Kapitalisten« gewettert. Josef Stalin entwickelte einen »pragmatischen Antisemitismus«, er gebrauchte Juden etwa als Botschafter in Washington, aber nach getaner Arbeit ließ er sie und zigtausend andere liquidieren.

Doch warum in die Ferne schweifen, wenn es auch vor der eigenen Haustüre viel zu entdecken gibt: Gehen wir über den Karmelitermarkt, so sehen wir im Völkergemisch eine stattliche Anzahl jüdischer Läden und sogar orthodoxe Juden, die so gekleidet sind, wie wir es nur von alten Fotografien kennen. Es gibt zwei jüdische Schulen, einen Kindergarten, ein Altersheim, kleine Sportvereine und Zeitschriften - aber gibt es auch eine jüdische Renaissance? 1938 hatte die Israelitische Kultusgemeinde an die 206.000 Mitglieder, heute sind es knapp 7000, Tendenz sinkend.

Lösung Auswanderung?

Als Ariel Muzicant im Zuge der Waldheim-Affäre gegenüber Israel Singer, dem Präsidenten des Jewish World Congress über den steigenden Antisemitismus klagte, meinte dieser: » Na dann wandert aus!« Dies allerdings wäre der ultimative Sieg der Antisemiten in Österreich gewesen.

In einem gängigen Reiseführer werden wir das alles nicht lesen, doch wer durch die Gassen der Leopoldstadt wandelt, wird dabei über manchen Stein stolpern. Und Steine können bekanntlich sprechen! Sie erzählen ihre Geschichten aber nur jenen, die sie auch hören wollen: Gehen wir durch die Tempelgasse, so sehen wir dort im Hof der religiösen Schule kleine Buben mit Kippa und wehenden Bajkeles Fußball spielen - bis 1938 stand dort die größte Synagoge Wiens mit Platz für dreieinhalbtausend Menschen, insgesamt gab es bis dahin um die 50 Synagogen in Wien.

In der Großen Pfarrgasse steht die Barockkirche St. Leopold, ihr Portal trägt die Inschrift: »Synagoga perversa in ecclesia conversa«, denn im Jahr 1670 wurden alle 3000 Juden von Leopold I. aus Wien ausgewiesen. Nichtsdestotrotz war bereits 1683 Hoffaktor Samuel Oppenheim für den Nachschub im Krieg gegen die Türken verantwortlich, was heute als Rettung des Abendlandes gefeiert wird.

Pogromort Judenplatz

Eine sehr alte Geschichte flüstern die Steine am Wiener Judenplatz. Im dortigen Museum liegen die Grundmauern der mittelalterlichen Synagoge, die im Zuge eines Pogroms 1421 niedergebrannt wurden - die ansässigen Juden wurden ermordet, verbrannt oder auf Flößen den Tücken des Donaustroms ausgesetzt. Danach gab es über 200 Jahre keine Juden mehr in Wien. Hoch über den Blicken allzu eiliger Wanderer hängt im 2. Stock des Jordanhauses aus dieser Zeit eine kunstvolle Tafel mit lateinischem Text, worin es heißt: »So erhob sich 1421 die Flamme des Hasses, wütete durch die ganze Stadt und sühnte die furchtbaren Verbrechen der Hebräerhunde. Wie seinerzeit durch die Sintflut gereinigt wurde, so sind durch das Wüten des Feuers alle Strafen gebüßt.«

Seit dem Jahr 2000 steht auf dem Judenplatz das Mahnmal von Rachel Whiteread für die 65.000 österreichischen Opfer der Schoa, das weithin Akzeptanz gefunden hat. Es wurde auf Anregung von Simon Wiesenthal erbaut, denn die von Alfred Hrdlicka behauenen Marmor- und Granitblöcke, das Mahnmal gegen Krieg und Faschismus am Albertinaplatz, sind unter den Juden Wiens auf massive Kritik gestoßen: Durch die Figur des »straßenwaschenden Juden« werden die Demütigungen von 1938 in der Gegenwart perpetuiert, während die Judenvernichtung in der gewählten Symbolik keine Entsprechung findet.

Antisemitismus seit 1945

Was hat sich geändert seit 1945? Gibt es einen »Antisemitismus nach Auschwitz«? Die Antwort ist Ja, er ist aber nur schwer fassbar, denn er versteckt sich hinter Spießgesellen wie generellem Unwissen und Desinteresse am Judentum auf der einen, sowie Gleichgültigkeit gegenüber jüdischen Anliegen und Bedürfnissen auf der anderen Seite. Er äußert sich auch nicht gewalttätig, sondern ausschließlich verbal. Das immerhin ist ein Fortschritt.

Nach 1945 manifestierte sich Antisemitismus nicht mehr mit »offenem Visier« auf der politischen Vorderbühne, aber er hat zu anderen Orten zurückgefunden: Wohn- und Gasthaushinterzimmer, Hörsäle kleinerer Universitäten, Fußballstadien, Amtsstuben oder auch die hinteren Sitzreihen des Parlaments.

Der große Unterschied: Die Sprache ist codiert. Man sagt »Ostküste« oder »gewisse Kreise« - und jeder weiß, wer gemeint ist. Über die Judenvernichtung wird mitunter gelacht, doch es sind Witze für Eingeweihte: So meinte ein Kärntner Lokalpolitiker 1990, »der Simon Wiesenthal habe im Pfeifenkopf seines Landhauptmanns Platz«.

Anderes Beispiel: Vor einigen Jahren spielte der FC Ried im Fußball-Europacup gegen Maccabi Haifa, woraufhin in Oberösterreich folgendes kursierte: Frage eines israelischen Schlachtenbummlers: »Wo liegt eigentlich Ried?« Antwort: »Zwischen Braunau und Mauthausen.«

Antisemitische Sprache

Wenn jemand sagt: »Hier wird geschachert wie bei den Juden«, dann ist das antisemitisch. Wenn jemand sagt, »… bis zur Vergasung«, dann spricht er nicht vom Konzentrationslager, sondern von einer als langweilig erlebten, endlos andauernden Handlung. Ist er also unbewusst antisemitisch?

Man spricht heute vom »Antisemitismus ohne Juden« - denn es gibt ja fast keine mehr. Ein weiteres Phänomen ist der »Antisemitismus ohne Antisemiten«. Wie oft haben wir dieses Medien-Ritual verfolgt: Wird eine einschlägige Äußerung publik, so muss zuerst Konsens gefunden werden, ob es sich tatsächlich um Antisemitismus handelt. Der Beschuldigte wird sagen: »Ich ein Antisemit? Ich bitt’ Sie, ich hab doch jüdische Freunde …« - oder er wird leugnen, oder es heißt, er sei falsch zitiert bzw. falsch verstanden, oder es sei ihm gar eine Falle gestellt worden. Die Folge: Eine inkriminierte Äußerung kann gar nicht antisemitisch gemeint sein, weil der Sprecher kein Antisemit ist. Diese Erklärung hat in Österreich noch immer genügt. Ein niederösterreichischer FPÖ-Funktionär verkündete auf seinem Parteitag »Unsere Ehre heißt Treue«, aber da er nach 1945 geboren wurde, konnte er ja nicht wissen, dass dies einmal der Wahlspruch der SS war. Wohltuend ist da ein Blick nach Deutschland, wo eine andere Kultur des öffentlichen Diskurses waltet und Inhaber öffentlicher Ämter schon bei geringeren Äußerungen zurücktreten mussten.

Antisemitische Politiker

Insofern lohnt es sich, einige Ereignisse der Zweiten Republik genauer zu betrachten, die Spitzen des Eisbergs: Bereits ab 1945 gab es erneut antisemitische Äußerungen in Politik, Medien und Bevölkerung. Sie richteten sich vor allem gegen angebliche Privilegien der KZ-Überlebenden und der zigtausend Flüchtlinge aus Osteuropa, der »Displaced Persons«. Insbesondere der frühere christlichsoziale Politiker Leopold Kunschak, der 1945 die ÖVP mitbegründete, soll sich hier hervorgetan haben. Traurige Berühmtheit erlangte der Halbsatz des damaligen sozialistischen Innenministers Oskar Helmer, man solle »die Sache in die Länge ziehen«. Gemeint war eine Restitution des in der NS-Zeit geraubten jüdischen Eigentums. Aufregung gab es 1964 um den kürzlich von der Republik geehrten SPÖ-Politiker Franz Olah, der in seinem Wahlkampf mit antisemitischen Andeutungen seine Anhänger aufstachelte, und bei dem ÖVP-Politiker Alois Scheibenreif, der im Wahlkampf 1966 Bruno Kreisky einen »Saujuden« nannte.

Einen Knackpunkt bildete die Affäre um Taras Borodajkewycz, ein Wirtschafts-Professor, dessen Vorlesungen zum Sammelbecken von Neonazis wurden. Die Verhinderung seiner Abberufung seitens des zuständigen Ministers führte zu Demonstrationen, bei denen »Hoch Auschwitz« und »Juden raus« gerufen wurde, und es kam zu Gegendemonstrationen und Schlägereien. Am 31. März 1965 versetzte der Chemiestudent Gunther Kümel dem ehemaligen KZ-Häftling Ernst Kirchweger einen wohltrainierten Boxhieb. Kirchweger starb drei Tage später, Kümel wurde zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, aber nicht etwa wegen Totschlags, sondern »wegen Vergehen gegen die Sicherheit des Lebens mit tödlichem Ausgang«.

Halbwahrheiten und Verdrehungen

1974 verfasste Viktor Reimann für die »Kronen Zeitung« eine fünfzigteilige Serie mit Titel »Die Juden in Österreich!« voller Halbwahrheiten und Verdrehungen. Hieraus folgendes Zitat: »Der erste Zionistenkongress fand 1897 in Basel statt. Was hier alles geredet oder in Reden interpretiert oder erfunden wurde, bildet die Grundlage zur Abfassung der ›Protokolle der Weisen von Zion‹, die für die Entwicklung des Antisemitismus eine wichtige Rolle spielen werden.« Ein ähnlich gelagerter Fall erschütterte 1997 die Illustrierte »Wiener«, da ging es allerdings bereits um «Shoa-Business«, eines der neuesten Schlagworte.

Ein weiterer Knackpunkt war die Waldheim-Affäre, einerseits weil erstmals in Österreich auf breiter Ebene die eigene Verstrickung in die NS-Verbrechen und die Bedeutung des Begriffes »Pflichterfüllung« diskutiert wurde. Mit Michael Graff trat ein hochrangiger Politiker zurück.

Andererseits kam es zu einer deutlichen Zunahme antisemitischer Äußerungen im Alltagsbereich. Doron Rabinovici schrieb damals: »Der Antisemitismus in Österreich ist nicht die Ausnahme, kein Verstoß gegen die Ordnung, sondern konsensträchtige Normalität. (...) Der Antisemitismus zieht sich heute durch alle Parteien.

Er ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Er umfasst die Linke wie die Rechte. (...) Vor dem Waldheim-Wahlkampf wurde mir oft vorgeworfen, dass ich als Jude hypersensibel sei. Sicher bin ich bei diesen Belangen sensibler als etwa ein tirolerischer Holzfäller.«

Positive Ausnahmen

Es soll aber auch kein einseitiges Bild entstehen: In der Zwischenkriegszeit gab es mit Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi und Irene Harand zwei exponierte Vertreter des christlichen Lagers, die Schriften gegen den Antisemitismus verfassten. Wien hat seit 1945 eine international beachtete Rolle als Transitstation für Juden aus Osteuropa gespielt.

Es wird vor allem in den Schulen sehr viel über den Nationalsozialismus und die Schoa gesprochen, und zahlreiche öffentliche Institutionen haben begonnen, ihre Geschichte während der NS-Zeit zu erforschen und Restitutionen einzuleiten. Doch immer wieder wird auch der Ruf laut: »Es muss endlich einmal Schluss sein mit der Debatte.«

Doch wo es keine Grabsteine gibt, sind Namen und Worte oft die einzige Erinnerung - und Erinnerung ist einer der höchsten Werte im Judentum.

Problematische Judenfreunde

Andererseits gibt es das Phänomen des Philosemitismus, der ebenso pauschal und undifferenziert ist wie sein Widerpart. Er steigert sich zu einem »philosemitischen Habitus«: Juden werden mit einer »Rollenerwartung« konfrontiert, die sie als Zumutung empfinden. Danach ist jeder Jude ein Experte für jüdische Religion, für die Geschichte des Nationalsozialismus und der Schoa, und - er ist für die Politik Israels zumindest auskunftspflichtig, während darüber hinaus von ihm erwartet wird, dass er das moralische Gewissen schlechthin verkörpere. Wer viel gelitten hat, müsse unendlich geläutert und weise sein und daher alles verzeihen.

Es gibt auch so etwas wie eine »Antisemitismus-Paranoia«. Ein Beispiel: Bei Freunden in Israel traf ich auf einen Schmuck-Designer, der bei einer Jury in Europa schon in der Vorrunde durchgefallen war, er sagte: »Na ja, Pech gehabt, vielleicht war es auch Antisemitismus.« Persönliche Misserfolge oder Unzulänglichkeiten werden als Folge einer feindlichen Außenwelt interpretiert. Hätte es sich nicht um einen Juden gehandelt, so wären wahlweise die Regierung, die Opposition, die Globalisierung oder die Freimaurer an allem Schuld gewesen.

Andererseits sollte uns diese Paranoia zu denken geben, denn auch wir sehen die Zeichen an der Wand: Da hat jemand ein Hakenkreuz in der U-Bahn geschmiert, dort ein anderer »Juden raus«. Zur traurigen Gewohnheit geworden sind Meldungen über die Schändung jüdischer Friedhöfe und KZ-Gedenkstätten in Europa. In Russland, Ungarn und Polen ist derzeit ein deutlicher Anstieg an offenem Antisemitismus in Politik und Medien zu verzeichnen.

Antisemitismus als Baromenter

Entscheidend bleibt: Der Antisemitismus ist ein Barometer der politischen Kultur und der ökonomischen Verhältnisse. Erst trifft es die Juden, dann auch andere Außenseitergruppen.

Noch zwei persönliche Erlebnisse, sozusagen vice versa: Ich war in Israel viel mit einem dort lebenden Deutschen unterwegs, man trifft Leute, man stellt sich vor - die Reaktion junger Israelis: »Germany, Siemens, Mercedes, very good!« - Das hat mich überrascht.

Szenenwechsel. - Eine ähnliche Situation in einem ägyptischen Bazar, ein zehnjähringer arabischen Bub sagt voll jungendlicher Unbefangenheit: »Germany, Adolf Hitler, very good!« Auf unsere perplexe Frage nach dem Warum kam eine frappierende Antwort. »Because he killed the Jews!« - Danach hat mich nichts mehr gewundert, aber ich hatte sehr viel über den Nahostkonflikt gelernt.

Dieser kann hier nicht diskutiert werden, doch vor einiger Zeit entflammte eine Diskussion über einen »neuen Antisemitismus«, der im Gewand des Antizionismus daher kommt. Die Schuldabwehr funktioniert nach altbekanntem Muster mit dem Hinweis: »Die Anderen tun’s auch«, oder im konkreten Fall: »Die Israelis sind doch auch nicht besser als die Nazis.« Dies trifft im Zuge des Irak-Kriegs auf Anti-Amerikanismus, und es kommt zu seltsamen Wortgleichheiten zwischen linken Intellektuellen, alten Nazis und jungen Moslems. Die europäische Antisemitismus-Konferenz im April 2004 in Berlin brachte viel Konsens, doch auch den Streitpunkt, ob Kritik an Israel tendenziell Antisemitismus sei.

Sinnlose Aufrechnung

Generell wird in öffentlichen Diskussionen in Österreich gerne auf Stellvertreter-Konflikte aufmerksam gemacht. Wenn es darum geht, die eigene NS-Vergangenheit zu thematisieren, wird etwa auf den Bombenkrieg der westlichen Alliierten oder auf die Verbrechen des Stalinismus verwiesen.

Doch eine Aufrechnung von Opfern ist historisch gesehen unredlich und sinnlos. Es geht auch an der eigentlichen Frage vorbei: Die Österreicher hat in erster Linie zu interessieren, was sie selbst von 1938 bis 1945 in ihren Straßen und Häusern gemacht haben, durch die sie heute noch gehen und in denen sie heute noch wohnen.

Es soll niemandem verwehrt werden, die Opfer seiner Familie im Zweiten Weltkrieg zu betrauern, doch es muss immer auch dazu gesagt werden, wer diesen Krieg begonnen hat und damit die Verantwortung für diese Opfer trägt.

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(C) AK und ÖGB

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