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Einer der Mythen der Ökonomie aus der »Anleitung zur geistigen Selbstverteidigung in Wirtschaftsfragen«: Die Überalterung der Gesellschaft macht den Wohlfahrtsstaat nicht mehr finanzierbar

BÜCHER

Die demografischen Prognosen für unsere Zukunft sehen düster aus. Der Wohlfahrtsstaat mit seinen Leistungen für Pensionen, Gesundheit und soziale Absicherung ist bald nicht mehr finanzierbar.

Diese Befürchtungen werden von zahlreichen Statistiken und Analysen genährt.1) Auf dieser Basis entstehen wiederum Medienberichte, gemäß denen etwa in Österreich bis zum Jahr 2050 nicht wie heute 4,23 Erwerbstätige, sondern nur mehr 1,85 eine(n) Pensionistin(en) finanzieren müssten.2)

Zunächst ist dagegen einzuwenden, dass demografische Prognosen mit einem zeitlichen Horizont von mehr als 50 Jahren mit höchster Vorsicht zu genießen sind, schließlich müssen sie bislang alle paar Jahre wegen unvorhersehbarer Veränderungen (z. B. zeitlich konzentrierte Einwanderungswellen, »Pillenknick« etc.) adaptiert werden.3)

Zweitens ist die Konzentration auf das zahlenmäßige Verhältnis von Jungen und Alten irreführend. In diesen Vergleichen wird nicht berücksichtigt, dass einerseits auch heute nicht alle Erwerbstätigen auch tatsächlich einer Lohnarbeit nachgehen und dass andererseits die sinkende Kinderzahl, die mit der Bevölkerungsalterung einhergeht, auch eine finanzielle Entlastung bedeutet: Während die Ausgaben für Pensionszahlungen aufgrund der zunehmenden Alterung steigen, sinken die relativen volkswirtschaftlichen Aufwendungen für Kinder, und mit den Arbeitslosen liegt momentan ein Potenzial an Beitragszahlungen für das öffentliche Pensionssystem brach.

Für die Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates kommt es weniger auf das zahlenmäßige Verhältnis von Jungen und Alten an, sondern darauf, ob in der Volkswirtschaft genügend Einkommen erzielt wird, um wohlfahrtsstaatliche Leistungen wie etwa Pensionen zu finanzieren.

In Deutschland sind derzeit etwa 55 der ca. 82 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Davon waren im Jahr 2001 etwa 36 Millionen Menschen tatsächlich erwerbstätig. Bleibt man in der Verhältnisrechnung, bedeutet das, dass die Einkommen dieses Bevölkerungsteils die deutlich größere Gruppe von 46 Millionen nicht Erwerbstätigen »mitversorgen«.4) In Österreich sind heute von den 5 Millionen Menschen im »erwerbsfähigen Alter« (15-60 Jahre) nur ca. 3,1 Millionen unselbstständig und ca. 300.000 selbstständig tätig. Die Einkommen dieser 3,4 Millionen Erwerbstätigen »erhalten« heute an die 4,6 Millionen Menschen, die keine Arbeitseinkommen beziehen.5) Bereits in den 1970er Jahren war das gleiche Verhältnis gegeben, mit dem Unterschied, dass damals der Anteil der Kinder an den Mitversorgten überwog.6) Prozesse der Bevölkerungsalterung gibt es schon lange, ohne dass das zu spürbaren negativen Auswirkungen geführt hätte.

Für die Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates kommt es also weniger auf das zahlenmäßige Verhältnis von Jungen und Alten an, sondern darauf, ob in der Volkswirtschaft genügend Einkommen erzielt wird, um wohlfahrtsstaatliche Leistungen wie etwa Pensionen zu finanzieren. Ob genügend Leute in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung stehen, ist dafür eine entscheidende Determinante.

Angesichts hoher Arbeitslosigkeit wird deutlich, dass es nicht an Menschen fehlt, die potenziell mehr Beiträge zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaates leisten könnten, wenn sie ein Lohneinkommen hätten. Alle alternden Gesellschaften Europas besitzen ein Potenzial an zukünftigen Arbeitskräften, das zurzeit ungenützt bleibt - ganz abgesehen von möglicher Zuwanderung.

Angesichts der steigenden Arbeitsnachfrage in den kommenden 30 bis
50 Jahren wird es aller Voraussicht nach zu einem vermehrten Arbeitseinsatz von Menschen kommen, die jetzt noch nicht am Erwerbsleben teilnehmen. Dies werden vor allem Frauen sein, die bislang noch weniger häufig bezahlte Arbeit verrichten als Männer. Obwohl die Eingliederung weiblicher Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt immer weiter voranschreitet, passen sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ungenügend daran an. Weder werden Frauen ausreichend von der traditionell von ihnen geleisteten unbezahlten Betreuungsarbeit für Kinder und Alte entlastet, noch gibt es in Deutschland und Österreich adäquate Betreuungseinrichtungen für Kinder. So sehen sich Frauen dem Dilemma der Entscheidung zwischen Arbeit und Kindern gegenüber, obwohl unter anderen Umständen die Vereinbarkeit möglich wäre. Denn in Ländern, in denen die Frauenerwerbsquote hoch ist, kommt es sogar zu überdurchschnittlichen Geburtsraten und umgekehrt (siehe Mythos »Staatliches Kindergeld bringt mehr Kinder«).

Veränderte Rahmenbedingungen könnten auch auf das Heben unausgeschöpfter Potenziale in der Beschäftigung von Älteren sowie von Behinderten zielen.
Des Weiteren ist der Anteil an Zuwanderungen aus dem Ausland zu betrachten. Würde eine erhöhte Zuwanderung erfolgen und diese Menschen auch auf dem legalen Arbeitsmarkt zugelassen werden, könnte die Erwerbstätigenquote auf einem stabilen Niveau bleiben, selbst ohne die »inländischen stillen Reserven« zu nutzen (im Fall von Deutschland bei 300.000 Zuwanderungen jährlich, in Österreich 25.000).

Dass ausreichend Menschen Arbeitseinkommen erwirtschaften, ist aber nicht der einzige Faktor, um die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates trotz alternder Bevölkerung zu sichern. Ein zweiter wichtiger Faktor ist, wie hoch ihre Einkommen sein werden. Die Entwicklung des Wohlstandes ist nicht bzw. nur sehr eingeschränkt von der Entwicklung der Bevölkerungszahlen abhängig. Wirtschaftsforscher prognostizieren, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland um ca. 90% in den nächsten 40 Jahren steigen wird, sollte die Situation so bleiben, wie sie ist, also selbst wenn es keine höheren Einwanderungszahlen, keine höheren Geburtenraten und keine längeren Arbeitszeiten geben wird. Wir können zunächst also feststellen, dass auch, wenn nichts passieren wird, sich unser BIP/Kopf mit aller Wahrscheinlichkeit erhöhen wird. Das liegt an den fortschreitenden Produktivitätssteigerungen, die sich in einer innovationsorientierten Wirtschaft laufend einstellen. Technischer Fortschritt und neue Arbeitsmethoden sorgen dafür, dass mit dem gleichen Arbeitseinsatz von Jahr zu Jahr mehr Wohlstand erwirtschaftet werden kann.7)

Es gibt zwar Befürchtungen, dass die zunehmende Verlagerung der Wirtschaftsaktivität zum Dienstleistungssektor produktivitätshemmend wirkt, weil Produktivitätssteigerungen bei Dienstleistungen schwieriger zu erzielen sind als bei der Güterproduktion. Bislang macht sich das jedenfalls - trotz seit Jahrzehnten fortschreitender Ausweitung der Dienstleistungen - in den Zahlen nicht bemerkbar, also dürfte sich der dämpfende Effekt auch in Zukunft in Grenzen halten. In den letzten Jahrzehnten ergab sich in Österreich eine gleichmäßige Steigerung der Produktivität um jährlich ca. 2%. Wird die Entstehung des BIP auf die drei Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen umgerechnet, beträgt der Anteil des Dienstleistungssektors im Jahr 1980 59,7% - im Jahr 2003 stieg er auf 67,5%. Trotz dieser Ausweitung konnten Produktivitätssteigerungsraten in konstanter Höhe erzielt werden.8)

Sofern die Lohnabhängigen diesen Produktivitätsfortschritt durch Lohnsteigerungen abgegolten bekommen, können sie Steuern und Abgaben leisten, die wohlfahrtsstaatliche Leistungen finanzieren, auch wenn der Bedarf an Pensionszahlungen aufgrund der höheren Anzahl in Zukunft älterer Menschen steigt und im vorherrschenden Umlageverfahren weiterhin durch höhere Pensionsbeiträge oder allgemeine Steuern finanziert wird. Für das Ansteigen der Löhne reicht aus wirtschaftlicher Sicht eine jährliche Produktivitätswachstumsrate zwischen 0,15 und 0,25%.9)

Ein erzwungener Wohlstandsverzicht aufgrund der Alterung ist somit auszuschließen, da ein Produktivitätsabfall nicht zu erwarten ist - im Gegenteil wird von Wirtschaftsforschern für die nächsten dreißig Jahre eine Produktivitätswachstumsrate von jährlich 1-2% erwartet.10) Ob die Anhebung der Löhne jedoch wirklich in diesem Ausmaß geschieht, ist eine Verteilungsfrage, keine Frage der Leistbarkeit. Auch stellt sich die Frage, ob nicht auch andere Quellen, allen voran Kapitalerträge, vermehrt zur Finanzierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen herangezogen werden sollten. In Pensionsreformdebatten wird deshalb auch immer wieder gefordert, etwa Pensionsbeiträge von der Wertschöpfung einzuheben, statt sie von den Löhnen abzuziehen.11)

Aus der »Überalterung« der Gesellschaft wird sich also keine Unfinanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates ergeben. Die Industrienationen sind reich und produktiv genug, um ein hohes Ausmaß wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zu finanzieren - es ist nur auszuhandeln, wer welche Kosten tatsächlich trägt. Die Konzentration auf demografische Argumente, insbesondere die Rede vom Kampf der Generationen, dient dagegen vor allem der Verschleierung wirtschaftlicher und sozialpolitischer Probleme.12)

  1. www.statistik.at/statistische_uebersichten/deutsch/pdf/k14t_1.pdf
  2. www.orf.at/040729-76865/index.html
  3. Gerd Bosbach: Demografische Entwicklung - kein Anlass zur Dramatik, 2004, www.memo.uni-bremen.de/docs/m0404.pdf
  4. Bernhard Gräf: Deutsches Wachstumspotenzial: Vor demografischer Herausforderung, in: Deutsche Bank Research, Nr. 277, 14. Juli 2003, Frankfurt am Main
  5. Lukas Wurz: Ungenützte Potenziale, in: Planet 32/2003
  6. Ulrike Herrmann: Nur keine Panik, in: taz Nr. 7140 vom 26. 8. 2003
  7. Norbert Reuter: Demografische Entwicklungen contra Sozialstaat?, in: Intervention 2/1(2004)
  8. Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum: Österreichs Wirtschaft im Überblick 2000/2001. Die österreichische Wirtschaft und ihre internationale Position in Grafiken, Tabellen und Kurzinformationen, Wien 2001
  9. Monika Bütler/Georg Kirchsteiger: Aging Anxiety. Much Ado About Nothing, Tilburg University, Center for Economic Research Discussion Paper 37 (1999),
    www.ideas.repec.org/p/dgr/kubcen/199937.html
  10. Gerd Bosbach: Demografische Entwicklung - kein Anlass zur Dramatik, 2004,
    www.memo.uni-bremen.de/docs/m0404.pdf, S.8
  11. Claudia Kwapil: Wertschöpfungsabgabe und Pensionsversicherung, in: Kurswechsel 3/1998
  12. Paul Krugman: America‘s Senior Moment: The New York Review of Books 52/4, 10.3.2005, www.nybooks.com/articles/17771
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