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Grundsicherung | Gegen die Erosion des sozialen Schutzes

SCHWERPUNKT

Patchworkfamilien und Lebensgemeinschaften haben den Traum von der ewig seligmachenden Keimzelle der Gesellschaft abgelöst. Ein zusätzliches Netz könnte vor Lücken im bestehenden System schützen.

Mit der sozialen Sicherheit ist es so eine Sache: Die Begrifflichkeit an sich kommt als Versprechen daher: »Bei uns gibt es soziale Sicherheit«. Wer genauer hinsieht, merkt schnell, dass dieses Versprechen oft nicht gehalten wird. Im Gegenteil: Immer mehr Menschen finden sich in Lebenssituationen wieder, in denen sie keinen ausreichenden sozialen Schutz vorfinden. Eine im Sozialbericht 2003/2004 veröffentlichte Statistik zeigt deutlich, welche Bevölkerungsgruppen keinen ausreichenden sozialen Schutz vorfinden: AlleinerzieherInnen (wobei das große I die Realität schon ein wenig verzerrt), arbeitslose Menschen, Menschen mit Migrations-Hintergrund (selbst dann, wenn sie längst die österreichische Staatsbürgerschaft haben), SozialhilfeempfängerInnen, Menschen mit Behinderungen ...1)

Doch damit nicht genug: Eine sich verändernde Berufswelt schafft neue Lebensrealitäten, die nur schwer Zugang zum System sozialer Sicherheit erlauben. Konnten Menschen noch in den Fünfzigern und Sechzigern mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf bauen, vom Berufseintritt bis zur Pension bei ein und demselben Betrieb beschäftigt zu sein, ermittelte das wifo 1999 eine durchschnittliche Dauer eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen 1,8 und 2,7 Jahren. Wer jetzt in das Berufsleben eintritt, darf mit einem wilden Hin und Her zwischen freien Dienstverträgen, Scheinselbständigkeit, Werkverträgen, Teilzeitbeschäftigung, geringfügiger Beschäftigung - und mit viel Glück irgendwann einmal mit einem auf ein, zwei Jahren befristetes »Normalarbeitsverhältnis« rechnen. Ein Leben voller Freiheit eben - insbesondere Freiheit vor sozialer Sicherheit.

Grund genug, sich auf die Suche nach Ursachen dieser zunehmenden Freiheit vor sozialer Sicherheit zu begeben. Und Grund genug, auch nach Antworten auf diese Erosion des sozialen Schutzes zu suchen.

Bei der Suche nach Ursachen wird Mensch schnell fündig: Das Sozialsystem wurde zu Beginn der Zweiten Republik für ein Gesellschaftsmodell entwickelt, das heute nicht mehr der Realität entspricht. Kontinuität war das Zauberwort. Soziale Sicherheit sollte es für Familien geben, in denen der Mann vollzeiterwerbstätig ist und die Frau den Haushalt führt. Sind die Kinder aus dem Haus, kann sie dazuverdienen. In diesem Modell waren Männer geschützt, wenn etwa der Betrieb geschlossen werden musste und sie vorübergehend den Job verloren, aber auch die Familie, wenn etwa der Mann erkrankte, einen Unfall erlitt oder Ähnliches passierte.

Phantasien der frühen Jahre

Die Phantasie von der glücklichen Familie, die alle Probleme gemeinsam meistert und ewig zusammenhält, war auch in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren nur in Ärzteromanen und Vorabendserien zu finden. Aber das soziale Sicherungssystem fragte nicht, ob die Familie wirklich glücklich ist, sondern begnügte sich mit dem Trauschein, der gemeinsamen Wohnadresse und der Eingliederung (des Mannes) im Berufsleben als Voraussetzung für soziale Absicherung.

Doch irgendwie scheint die Phantasie der angeblich immer glücklichen und zusammenhaltenden Familie nicht den Bedürfnissen ihrer Mitglieder an Romantik entsprechen: Patchworkfamilien, Lebensabschnittspartnerschaften, Wohngemeinschaften und Lebensgemeinschaften haben den Traum von der ewigseligmachenden Keimzelle der Gesellschaft abgelöst. Und zwar um den Preis sozialer Sicherheit: Der Arbeitslosenanspruch des Mannes hilft seiner Ex-Frau gar nichts mehr. Sie braucht einen eigenen. Und der muss auch ausreichend hoch sein.

Womit eine dritte Ursache von Lücken im Sozialsystem angesprochen ist: Seit gut 15 Jahren sinkt das Lohnniveau in Relation zur Kaufkraft. Immer kürzere Beschäftigungsverhältnisse in mehrfach wechselnden Rechtsformen (Scheinselbständigkeit, freier Dienstvertrag, etc.) in unterschiedlichem Ausmaß (geringfügige Beschäftigung, Teilzeit, Vollzeit) haben die Einkommensentwicklung im Verlauf eines Berufslebens nachhaltig verändert. Wer wiederholt mit Einstiegsgehältern auskommen muss, hat geringe Chancen, dauerhaft ein höheres Einkommen zu erreichen. Und da Leistungen wie Arbeitslosengeld, Krankengeld oder die Pension vom zuvor bezogenen Gehalt abhängen, resultiert aus niedrigen Einkommen kein ausreichender sozialer Schutz.

Für jedes komplizierte Problem, meinte einmal Umberto Eco, gäbe es auch eine einfache Lösung. Auch in der Debatte um den Sozialstaat und das System sozialer Sicherheit gibt es diese einfachen Lösungen: Sie beginnen bei der Rückwendung zu entzauberten Familienidyllen, reichen über die Forderung, eben auch zu niedrigeren Löhnen schlecht abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse zu akzeptieren bis hin zur Forderung, lohnarbeitslose Menschen mögen zu »gemeinnütziger« Arbeit herangezogen werden.

Umberto Eco fügte seiner Feststellung die Bemerkung an, dass einfache Lösungen immer falsch seien, und trifft damit den Nagel auf den Kopf: Wenn das soziale Sicherungssystem den Menschen in ihrer Lebensrealität nicht mehr schützt, ist das soziale Sicherungssystem zu adaptieren, nicht die Menschen.

Oder anders gesagt: Österreich ist das siebtreichste Land der Welt. Und es ist eine Schande, wenn es im siebtreichsten Land der Welt Armut gibt. Gibt es die?

Der Sozialbericht 2003/2004 gibt eine eindeutige Antwort: 1.044.000 Menschen in Österreich leben in Haushalten mit Nettoeinkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle. Über 475.000 davon, darunter 114.000 Kinder, leben unter Bedingungen »verfestigter Armut«. Sie leben in Familien, die sich auch essentielle Grundbedürfnisse nicht einfach erfüllen können. Das beginnt bei Ausgaben für Schulskikurse, beruflich oder schulisch benötigte PCs oder den Urlaub und geht hin bis zu Ausgaben für Miete, Heizung oder Kreditrückzahlungen, mit denen über 700.000 Menschen in Österreich Probleme haben.

Und um die Frage nach den einfachen Lösungen zu erledigen: Diese Probleme lösen sich auch nicht, wenn die Betroffenen schlechte und schlecht bezahlte Arbeit akzeptieren. Im Gegenteil: Über 235.000 Menschen leben in Haushalten, in denen alle erwachsenen Mitglieder das ganze Jahr über einer Lohnarbeit nachgehen, aber dennoch mit ihren Einkommen nicht über die Armutsgefährdungsschwelle kommen. 220.000 Menschen kommen über diese Schwelle nicht hinaus, obwohl sie einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen.

Recht auf Leben in Würde

Zu den weniger »einfachen« Lösungen für einige der sozialen Probleme der Gegenwart zählt Forderung nach Schaffung einer »Grundsicherung«, die in den letzten zwei Jahren die sozialpolitische Debatte prägt. Die Grundidee: Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben in Würde. Wo dies nicht möglich ist, muss es die Gesellschaft möglich machen.

Wer Grundsicherung fordert, verlangt nicht nach einem völligen Umbau des Sozialsystems, sondern nach einem zusätzlichen Netz, das vor den Lücken des bestehenden Systems schützt.Notstandshilfe erhält, wer sich in einem Notstand befindet, also in einem Haushalt mit niedrigem Einkommen lebt. Aber wie soll eine Notstandshilfeempfängerin, die ihre Notstandshilfe nur erhält, weil es kein ausreichendes Haushaltseinkommen gibt, mit der durchschnittlichen Notstandshilfe für Frauen in der Höhe von 480 Euro im Monat auskommen?

Oder vielleicht noch ein bisserl drastischer: Familienbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld sind an Kriterien geknüpft, die junge Menschen mit erst sehr kurzem Aufenthalt in Österreich nicht erfüllen können. In diesem Fall geht der Anspruch auf den berufstätigen Partner über - in der Regel auf den Mann. Wenn nun, und das passiert auch mehrmals im Jahr, eine junge Frau aus einer solchen Ehe mit ihrem Kind vor der Gewalt des Partners in ein Frauenhaus flieht, steht sie vor dem ökonomischen Nichts. Kindergeld und Familienbeihilfe gibt es nur, wenn ein gemeinsamer Haushalt mit dem Anspruchsberechtigten existiert, in diesem Fall dem gewalttätigen Ehemann. Geltendes österreichisches Recht zwingt die betroffenen Frauen, mit ihren Kindern in den gemeinsamen Haushalt zurückzukehren, wissend, dass beide dort abermals Opfer von Gewalt werden können.

Das wollen immer mehr Menschen und Organisationen nicht mehr einfach hinnehmen und erarbeiten Modelle der Grundsicherung für alle, die sie brauchen. Entsprechende Vorschläge kamen etwa bereits von der Armutskonferenz, der Caritas, der Diakonie und den Grünen. Auch die Gewerkschaft der Privatangestellten hat sich mit dem Thema Grundsicherung beschäftigt und wird mit ihrem Konzept in den nächsten Monaten verstärkt an die Öffentlichkeit treten.

Im Kern sind sich diese Grundsicherungskonzepte ähnlich: Wer weniger als die Armutsgefährdungsschwelle zur Verfügung hat, soll die Differenz als Grundsicherung erhalten.

Ein wichtiger erster Schritt, aber nicht ausreichend: Es geht schließlich nicht nur darum, Menschen ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit zu bieten, sondern auch darum, ihnen die Chance auf nachhaltige Verbesserung ihrer Lebenssituation zu eröffnen. Eine Grundsicherung, die ihren Namen verdient, muss daher auch entsprechende Rahmenbedingungen schaffen: einen Rechtsanspruch auf Ausbildung und Qualifikation, Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen (auch in ländlichen Regionen), öffentliche Verkehrsmittel, die soziale wie berufliche Mobilität erst ermöglichen, qualitativ hochwertige Kinderbetreuungseinrichtungen, die Frauen Chancen im Berufsleben eröffnen, und arbeitsrechtliche Bestimmungen, die Armut und Ausgrenzung aus sozialen Sicherungssystem unmöglich machen.

Klare Botschaft

Eine umfassend verstandene Grundsicherung schützt nicht nur vor Armut und Ausgrenzung, sie schafft auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten in Sozial- und Betreuungsberufen wie in der Infrastruktur. Und dabei gehen zumindest die Grünen sogar noch einen Schritt weiter: Über eine Grundsicherung ließen sich sogar berufliche Auszeiten finanzieren, die insbesondere für gesellschaftlich und beruflich gut abgesicherte Menschen interessant sind. Die Grünen fordern fünf Jahre für Aus- und Weiterbildung sowie zwei Jahre Sabbatical. Die Folgewirkung: Zusätzliche Arbeitsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten, zusätzliche Einnahmen aus Steuern und Beiträgen, zusätzliche Kaufkraft.

Die Botschaft ist klar: Soziale Sicherheit kostet nicht, sie macht sich bezahlt!
Wer jetzt das »richtige« Konzept der Grundsicherung hat, ist eine Frage des Standpunktes. Unübersehbar ist jedoch, dass die Debatte um die Grundsicherung zunehmend an Geschwindigkeit wie Intensität gewinnt. Unübersehbar ist letztlich auch, dass die nächste Regierung eine Mindestsicherung in der Arbeitslosenversicherung wie auch in der Sozialhilfe und die Absicherung unfreiwillig (Schein-)Selbständiger angehen wird müssen, so sie nicht soziale Konflikte riskieren will.

Lukas Wurz

1) BMSG: Armut in Österreich; in: Bericht über die soziale Lage in Österreich 2003/2004, Wien 2005

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