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Die Zukunft der sozialen Demokratie

HINTERGRUND

Der Sozialstaat soll zwar umgebaut und etwa analog den skandinavischen Modellen stärker über Steuern finanziert werden, aber in seiner Substanz erhalten bleiben.

Der Konflikt miteinander konkurrierender, gegensätzlicher politischer Systeme scheint längst Geschichte geworden zu sein. Ob dieser, wie seit Mitte der 1990er Jahre mit steigender Zustimmung behauptet wird, von einem »Kampf der Kulturen« (Samuel Huntington) abgelöst wurde, ist strittig. Auch wenn es eine Reihe nicht zu übersehender Anzeichen gibt, ist die Gefahr, damit einem ideologisch motivierten, vereinfachenden Erklärungsmodell anzuhängen, nicht gering. Wesentlich weniger Beachtung als dieser »Kampf der Kulturen« hat bisher jedoch ein Konflikt gefunden, der sich innerhalb der demokratischen und »kapitalistischen« Staatenwelt selbst abspielt: jener zwischen sozialer und libertärer Demokratie.

Was genau ist mit diesen beiden Demokratieformen gemeint? Und wie unterscheiden sich diese? Da ist zum einen jenes Modell, das Demokratie im Wesentlichen mit Gewaltentrennung, Grundrechten, freien Wahlen und Marktwirtschaft gleichsetzt. Der Staat erfüllt darin nur die Funktion, die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs zwischen Individuen, Gruppen und Unternehmen sicherzustellen. Eine darüber hinaus gehende Rolle wird ihm nicht zugebilligt, im Gegenteil: Staatliche Interventionen und Regulierungen erscheinen als Funktionsprobleme einer »freien« Gesellschaft, die bekämpft werden müssen. Dieses Demokratiemodell harmoniert mit dem Neoliberalismus, wie in seine führenden Ideologen, August von Hayek und Milton Friedman, formuliert hatten.

Dem steht eine andere Vorstellung von Demokratie gegenüber, in der das politische Grundverständnis im engeren Sinn eigentlich dasselbe ist. Auch hier soll der freie demokratische Wettbewerb über die politischen Kräfteverhältnisse im Staat entscheiden, sollen grundlegende individuelle Rechte gesichert und rechtsstaatliche Grundprinzipien gewährleistet sein. Der Unterschied zwischen den beiden Konzepten liegt darin, dass für das zweite Modell dies erst die Basis ist, auf der eine soziale Demokratie errichtet werden muss. Nicht nur Individualismus und Wettbewerb, sondern Gemeinschaft und Solidarität, nicht nur Freiheit, sondern auch Gerechtigkeit und Gleichheit sind Zielvorstellungen einer »sozialen Demokratie«, deren Ursprünge rund ein Jahrhundert in die Geschichte zurückführen.

Klare Grundausrichtung

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa in deutschen Arbeiter-Gesellen-Vereinen oder im Werk des Staatsrechtlers und Ökonomen Lorenz von Stein, tauchte der Begriff »soziale Demokratie« schon auf. Zu einem wesentlichen Bestandteil der theoretischen und programmatischen Debatten sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien wurde das politische Modell aber erst einige Jahrzehnte später. Auch wenn die verschiedenen unter diesem Begriff in Erscheinung tretenden Konzepte nicht in allen Punkten immer identisch waren, war doch die Grundausrichtung klar: Soziale Demokratie sollte eine Weiterentwicklung der bürgerlichen bzw. politischen Demokratie bedeuten. Nicht nur »formelle« Rechte und Freiheiten, sondern soziale Gerechtigkeit, gleiche Teilhabe und gleiche Chancen waren ihre Zielpunkte. In Schriften wie Eduard Bernsteins »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« (1899) - ein wesentlicher Text der Begründung des sozialdemokratischen Revisionismus - oder Max Adlers »Politische oder soziale Demokratie« (1926) sind bestimmte Grundgedanken sozialer Demokratie formuliert worden.

Hermann Heller, der Staatsrechtler und Gegenspieler Carl Schmitts (Heller verteidigte die Weimarer Republik, die der reaktionäre Schmitt verachtete), war der Ansicht, dass für das Funktionieren von Demokratien nicht nur Institutionen, Verfahren und Grundrechte notwendig seien. Wesentliche Merkmale sozialer Demokratie wie gesellschaftliche Partizipation, Mitbestimmung und sozialer Ausgleich, stellte er ins Zentrum der Debatte. Nur die soziale Demokratie bot seiner Ansicht nach die Gewähr dafür, dass die notwendigen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft nachhaltig erfüllt und gesichert werden können.

Auf Hermann Heller stützt sich auch Thomas Meyer in seiner »Theorie der Sozialen Demokratie«.1) Der Dortmunder Politikwissenschaftler und wissenschaftliche Leiter der deutschen Friedrich Ebert-Stiftung hat ein voluminöses Werk vorgelegt, das die Idee der sozialen Demokratie mit einer Fülle politischer und wissenschaftlicher Argumente versorgt. Warum ist seiner Ansicht nach die soziale Demokratie das geeignete Konzept? Insbesondere in der deutschen Sozialdemokratie wurde der demokratische Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg zum entscheidenden Bezugspunkt, nicht die soziale Demokratie. Dieser sollte einen dritten Weg jenseits des (oder zwischen) Sowjetkommunismus und (Konkurrenz) Kapitalismus weisen. Im immer noch gültigen Parteiprogramm der SPD von 1989 ist diesem Konzept ein eigenes Kapitel gewidmet. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Realsozialismus, aber auch durch den Druck, der durch die Globalisierung und die Öffnung der Märkte entstanden ist, geriet das politische Modell des demokratischen Sozialismus unter Druck. Thomas Meyer empfiehlt nun, die Konzeption des demokratischen Sozialismus aufzugeben und soziale Demokratie als neues Orientierungsbild der Sozialdemokratien zu verwenden.

Drei grundlegende Modelle

In der »Theorie der Sozialen Demokratie« unterscheidet Thomas Meyer zwischen drei grundlegenden demokratischen Modellen: Die liberale Demokratie ist die rechtsstaatlich-pluralistische, auf die Geltung von Menschenrechten gestützte Demokratie. Sie setzt einen Rahmen, der sowohl der libertären als auch der sozialen Demokratie Raum bietet. Libertäre Demokratie ist durch ihre Begrenzung auf den politischen Bereich gekennzeichnet. Eigentumsfreiheit und sich selbstregulierender Markt sind für sie die Entsprechungen der politischen Demokratie im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Anders die soziale Demokratie: Sie ist untrennbar mit einem Rechtsanspruch auf soziale Sicherung und dem an den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit orientierten Staat verbunden, dessen Politik regulative und distributive (verteilende) Komponenten hat. Als normative Basis dienen die Pakte der Vereinten Nationen von 1966, in denen bürgerliche, politische, wirtschaftliche und soziale Grundrechte verankert und ratifiziert worden sind.

Ein wesentlicher Unterschied der beiden konkurrierenden Demokratiekonzepte liegt im Verständnis von Freiheit begründet. Während der Freiheitsbegriff der libertären Demokratie negativ definiert ist, ist jener der sozialen Demokratie positiv orientiert. Ein positiver Freiheitsbegriff bedeutet, dass Staat und Gesellschaft aktiv für gleiche Chancen und Gleichberechtigung eintreten. Freiheit bedeutet nicht nur den Schutz bestimmter Rechte (z. B. vor staatlicher Willkür), sondern auch positive Handlungsermöglichung. Die sozial-ökonomische Gesellschaftssphäre darf also nicht (wie in der liberalen Demokratietheorie) einfach ausgegrenzt werden. Sieht die libertäre Demokratie die beiden Freiheitsbegriffe als Widersprüche an, so sind sie für die soziale Demokratie komplementär (wechselseitig ergänzend).

Ein wesentliches Anliegen der sozialen Demokratie ist, die »formalen« Prinzipien der liberalen Demokratie um die Aspekte sozialer Gerechtigkeit und politischer Teilhabe zu erweitern. Soziale Demokratie basiert auf der Gültigkeit und dem Bestand universeller Grundrechte. Es geht darum, die sozialen Risiken, die einzelne Individuen oder Gruppen von der Inanspruchnahme oder Realisierung ihrer Grundrechte abhalten, zu identifizieren und zu entschärfen bzw. zu bekämpfen (wie etwa Arbeitslosigkeit, ungenügende Bildung, Krankheit etc.). Die soziale Demokratie hat zwar den Wohlfahrtsstaat zur Voraussetzung, geht aber über diesen hinaus. Ihre Wirksamkeit erstreckt sich über die wesentlichen Bereiche von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Programmatisches Selbstverständnis

Im Gegensatz zur SPD hat die österreichische Sozialdemokratie dieses Konzept ins Zentrum ihres programmatischen Selbstverständnisses gestellt. Vor allem das Grundsatzprogramm von 1978, aber auch noch das aktuell gültige von 1998 räumen der sozialen Demokratie eine Schlüsselrolle ein. Inwieweit das Modell in stärkerem Ausmaß zu einem programmatischen Orientierungspunkt für die praktische Politik werden kann, muss sich erst zeigen. Genau betrachtet berührt die soziale Demokratie aber eine ganze Reihe von Kernpunkten, von »Zukunftsfragen« schlechthin. Dazu zählen die Konzeption und Reichweite des Sozialstaates und die Sicherung des Einzelnen vor den (wieder deutlich gestiegenen) Risiken genau so wie die Gestaltung transnationaler Bündnisse und Gemeinschaften sowie der internationalen Beziehungen und der Nord-Süd-Verhältnisse.

Gegensätzliche Konzepte

Es zeigt sich: Der Unterschied der Konzepte, der Gegensatz zwischen libertärer und sozialer Demokratie, ist als politisch, ökonomisch und kulturell zu definieren. Umfassende Mitbestimmung, die »Durchflutung« aller Bereiche, einschließlich der Wirtschaft, mit Demokratie ist das Ziel der sozialen Demokratie. Sie lehnt den pauschal geforderten Rückzug des Staates entschieden ab. Der Sozialstaat ist untrennbar mit ihr verbunden. Dieser soll zwar umgebaut (z. B. analog den skandinavischen Modellen stärker über Steuern finanziert werden), aber in seiner Substanz erhalten bleiben. Trotz der Anerkennung der zentralen Bedeutung individueller Rechte, soll nicht der Individualismus, sondern Solidarität und Gerechtigkeit - deren Bedeutung freilich diskutiert werden muss - zu den Orientierungspunkten zählen.

Die soziale Demokratie ist keine Utopie, sondern ein zumindest zum Teil - etwa in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten - existierendes Modell. Sie stellt einerseits eine Art Rückeroberung verlorener Rechte dar. Andererseits bemüht sich gerade der Politikwissenschaftler Thomas Meyer, diesen nostalgischen Beigeschmack nicht zum entscheidenden Merkmal werden zu lassen. Denn es geht auch um eine neue Begründung ihrer Plausibilität unter den aktuellen Verhältnissen, die sich angesichts der Globalisierung, des verschärften Wettbewerbs und des teilweisen Rückzugs der Politik wesentlich von jenen unterscheiden, die ein Bernstein oder Adler vorfand. Ein auf Veränderung gerichtetes politisches Handeln, um die große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen, erfordern sie aber allemal.

1) Thomas Meyer: Theorie der Sozialen Demokratie. Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2005, 678 Seiten, EUR 39,90

 

 

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