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Sascha Lobo Sascha Lobo: »Wenn ver.di Servicestellen für Freiberufler in innerstädtischen Lokalen anbieten sollte, würden wir sicher vorbeischauen«
Buchtipp | Wir nennen es Arbeit

Die digitale Bohème

Hintergrund

Immer mehr Menschen arbeiten selbstständig und haben Freude daran. Mit sozialrechtlicher Absicherung sogar noch mehr.

Wir haben in dem Buch schon ein wenig durch die rosa Brille geguckt«, sagt der Berliner Sascha Lobo, Co-Autor des Werkes »Die digitale Bohème: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung«. An sich ist es reizvoll, Mitglied einer Gruppe zu sein, die es soziologisch bisher nicht zu einer Definition gebracht hat: Denn »so amorph wie ihr Lebenskonzept ist auch ihre Zugehörigkeit und Überschneidung mit den statistisch erfassten Größen der Existenzgründer, Kleinselbständigen, Ich-AGs, Künstler und anderen Kreativen«. In Deutschland kommen Angehörige der Hartz-IV-Empfänger dazu, in Österreich die als erwerbsarbeitslos gemeldeten Personen.

Kreative Nutzung
Wir gehen von der Annahme aus, dass der Mensch ein Idealfall ist und die Vorteile, die die Technik bietet, kreativ zu nutzen versteht. Er gehört dann zur digitalen Bohème und sitzt mit seinem Apple Laptop in Wien im Museumsquartier, in Deutschland in einem Berliner Café. Normalerweise ist er eher jung, zwischen 20 und 40, ab und zu infiltriert sich auch ein 50-Jähriger. Der ist vorwiegend männlich und schielt, so sagt Sascha Lobo bei seinem Vortrag im 30. Stockwerk des Wiener Floridotowers zur Tagung der Fachgruppe Unternehmensberatung und Informationstechnologie durchaus zu den jungen Frauen hinüber, die neben ihm in ihr Notebook tippen.
Den Idealtypus des digitalen Bohème gibt es nicht, doch hat Honorè de Balzac die damals noch analoge Bohème schon im 18. Jahrhundert mit dem Satz beschrieben: »Die Bohème hat nichts und lebt von dem, was sie hat. Die Hoffnung ist ihre Religion, der Glaube an sich ist ihr Gesetzbuch, die Wohlfahrt gilt ihr als Budget. Alle diese jungen Menschen sind größer als ihr Unglück, sie befinden sich unterhalb des Reichtums, aber stehen immer über ihrem Geschick.«

Gewerkschaften
Das Verhältnis zu den Gewerkschaften scheint naturgemäß gespalten. »Unklar ist«, so heißt es in dem Buch des 1975 in Deutschland geborenen Sascha Lobo, »ob die Gewerkschaften Teil des Problems oder Teil der Lösung sind und welche Rolle sie, allen voran ver.di, in Zukunft für die digitale Bohème spielen könnten.« Die Gewerkschaften hätten zwar ein unvollständiges Verständnis von Arbeit, meinen VertreterInnen der Generation der neuen FreiberuflerInnen in Deutschland, sie sind aber durchaus zur Kooperation mit ihnen bereit: »Wenn ver.di wie geplant Servicestellen auch für Freiberufler in innerstädtischen Lokalen anbieten sollte, würden wir sicher einmal vorbeischauen.«
Das klingt cool im Buch, geht sich aber in der Realität nicht aus. Was ist, wenn ein/e FreiberuflerIn krank wird oder sich etwa ein Bein bricht? Was ist, wenn einem kreativen Menschen nichts mehr einfällt? Er/sie kann, wenn das Digitale gut beherrscht wird, die Situation ins Internet stellen: »Bin eine super Leiche«, illustrierte ein US-Amerikaner mit zahlreichen Fotos und ist seither, so geht die Mär in der digitalen Community, die gefragteste Filmleiche Hollywoods.
Da ist der österreichische Weg um einiges besser. Denn für die freien DienstnehmerInnen ändert sich per 1. Jänner 2008 die Unsicherheit ihrer Lage grundlegend: Sie sind nunmehr arbeitslosenversichert und werden sowohl in die Abfertigung Neu als auch in den Insolvenzfonds einbezogen. Sogar der bis zuletzt strittige Punkt des Krankengeldes konnte in ihrem Interesse gelöst werden. Sie erhalten nunmehr einkommensabhängiges Krankengeld von der Gebietskrankenkasse ab dem vierten Tag der Krankmeldung. »Ein Meilenstein für die Gleichstellung aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen«, erklärte ÖGB-Präsident Rudolf Hundstorfer, der sich für die große Gruppe der atypisch Beschäftigten weiterhin einsetzen will.

Mit großer Freude
Den Weg der größten Freude will die am Buch »Die digitale Bohème« beteiligte Gruppe gehen. Besonders bei der Arbeit. Die Vorgeschichte datiert mit 2001 als die »New Economy« und ihre Produktion digitaler Güter für alle gerade wieder zusammenbrach. Über das Internet-Forum hoeflichepaparazzi.de lernte sich die Gruppe kennen und gründete die Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA), die als Parodie eines richtigen Unternehmens gedacht war. Auch eine ironische Firma braucht ein Produkt und so ist die Lebenseinstellung der kreativen Selbstständigen in Buchform nachzulesen. Ihre Definition: »So arbeiten, wie man leben will und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen. Das Ganze ermöglicht und befördert durch das Internet, auch in Bereichen, die vorerst nichts mit dem Netz zu tun haben.« Wie etwa jene junge Frau, die Renaissancedekorkleber für Lichtschalter im Netz offerierte. Einmal analog in der Wohnung begann sie innenarchitektonische Ratschläge zu erteilen: ihr nunmehriger Hauptberuf.
Das Credo der Generation um die 30 lautet, »es gibt Alternativen zur fest angestellten Erwerbsarbeit«. Im Buch - ausnahmsweise - eher wissenschaftlich formuliert: »Die Individualisierung, die der wichtigste gesellschaftliche Trend des 20. Jahrhunderts war, könnte im 21. ihre eigentliche Qualität zeigen: Indem Individuen ihre Individualität nicht nur über den Konsum entfalten, sondern darüber, was, wann und wie sie arbeiten.« War die analoge Bohème noch zwangsläufig dazu verurteilt, am Existenzminimum zu leben, wenn sie sich schon nicht den Strukturen fügte, so kann die digitale Bohème durchaus fettes Geld verdienen. Dienlich dazu ist es, eine Mischung mehrer Projekte vorrätig zu halten.

Glückstreffer
So wie das Team Chad Hurley und Steve Chen, die unter ihren vielfältigen Vorhaben auch You Tube ausbrüteten. Im Oktober 2006 wurde das Videoportal schließlich zu einem Preis von über einer Milliarde Euro von Google gekauft. Der Dritte im Bund, Jawed Karim, der ausgestiegen war, um sich dem Studium zu widmen, erhielt dennoch einen Anerkennungsbetrag von den Ex-Partnern. Digitale Bohéme ist also nicht gleichbedeutend mit Einzelkämpfertum und Egoismus. »Es geht nicht darum, die Ellbogen auszufahren und eine atomisierte Gesellschaft abzubilden«, meint Sascha Lobo, der gerne von einer Renaissance der Zusammenarbeit spricht.
Ähnliches stellen auch Charles Leadbeater und Kate Oakley in ihrem Buch »The Independants: Britain’s new cultural entrepreneurs« fest. Die Unabhängigen »verbinden individualistische Wertvorstellungen mit einer hochgradig  kollaborativen Arbeitspraxis«, meinen die beiden AutorInnen. Die vorrangig auf Teams beruhende Projektarbeit brächte es mit sich, dass die Menschen lernen, schnell Vertrauen zu fassen. Das erprobte Vertrauen in die Fähigkeiten und Qualitäten sporadischer ProjektpartnerInnen könne sogar zur Bildung von Solidargemeinschaften führen, die »in ihren Funktionen einer Großfamilie nicht nachstehen müssen.« Auch in Deutschland gelten die kreativen Selbstständigen mittler-weile als prototypisch. Zukunftsforscher Matthias Horx sieht in ihnen nicht nur eine Antwort auf die Beschäftigungskrise, sondern gar »eine kommende Stütze der Gesellschaft«.

Motivation
»Der größte Vorteil der Selbstständigen ist ihre Motivation«, meint Friedrich Kofler, Obmann der Fachgruppe Unternehmensberatung und Informationstechnologie, UBIT, Mitglied der Wirtschaftskammer. Über 80 Prozent der etwa 14.000 Betriebe sind Einpersonenunternehmen (EPU), jede/jeder Dritte arbeitet selbstständig. »Die Menschen wollen was sie gut können auch beruflich umsetzen. Betriebe haben es schwer, hoch spezialisiertes Wissen auf Dauer im Unternehmen zu halten«, nennt Kofler zwei Gründe der Selbstständigkeit.
Einen hohen Männeranteil stellte Reinhard Raml bei einer IFES-Umfrage zum Thema »Arbeiten am IT-Standort Wien« im Oktober 2007 fest. »Es gibt Rahmenbedingungen, die es Frauen erschweren, selbstständig zu werden. Aber auch emotionale Gründe, Selbstständigkeit nicht als Ziel anzustreben.« Im Schnitt, so stellte Raml fest, sind Selbstständige in 3,5 Arbeitsgebieten tätig und das rund 50 Stunden die Woche.
Auch unter prekären Bedingungen würden viele ihre eigenen Projekte nicht gegen eine feste Anstellung tauschen wollen, behauptet Sascha Lobo. Denn die Glücksforschung habe festgestellt, dass der Mensch die meisten Glückshormone weder beim Schokoladeessen noch beim Sex produziert, sondern bei der Arbeit. Vorausgesetzt, sie ist selbst gewählt, schwierig, aber lösbar. Gabriele Müller

INFO&NEWS
Das Buch handelt davon, so heißt es auf der Webseite, »wie eine neue Klasse von Selbstständigen mit Hilfe digitaler Technologien dem alten Traum vom selbstbestimmten Arbeiten in selbstgewählten Kollektivstrukturen ein gutes Stück näherkommt«. Es gibt Einblick in das Lebensgefühl der Generation um die 30, ist aber auch für die Leserschaft von 50+ zu empfehlen. Auf der Website können Sie das Buch in Papierform oder als Hörbuch bestellen. Das Blog schreibt das Buch fort und gibt Updates zu den einzelnen Kapiteln.
www.wirnennenesarbeit.de
ist die Website und das Blog zum Buch.
 G. M.


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