topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Buhlen um Gesündeste Kranke dürfen in den Niederlanden ganz legal Cannabis züchten.

Buhlen um Gesündeste

Schwerpunkt

Privatisiert, flexibilisiert, wettbewerbsorientiert: Wie effektiv die Krankenversicherungen der Schweiz und der Niederlande wirklich sind.

Der europäische Trend geht eindeutig Richtung »Mehr privat - weniger Staat«. Dass diese Entwicklung für viele Menschen mit großen Nachteilen verbunden ist, zeigen uns unter anderem die Beispiele Niederlande und Schweiz. Seit 2005 haben die NiederländerInnen ein rundum erneuertes Gesundheitssystem mit Kopfpauschalen, das in erster Linie auf den Markt und private Versicherungsunternehmen vertraut. In der Schweiz wurde heuer in einer Volksabstimmung die Einführung einer »Einheitsversicherung« mit klarer Mehrheit abgelehnt. Die SchweizerInnen votierten für die Beibehaltung eines Systems der Pflichtversicherung mit freier Entscheidung, in dem nicht weniger als 85 verschiedene Krankenversicherungen ihre Leistungen anbieten.
Beispiel Schweiz
»Die Schweiz, der ferne Nachbar«, titelte vergangenen März die deutsche »Ärzte Zeitung«. Gerade hatten zwei Drittel
der Eidgenossen/-genossinnen gegen die Umstellung auf ein solidarisches Gesundheitssystem gestimmt. Das von Gewerkschaften, SozialdemokratInnen und Grünen unterstützte Referendum zielte auf die Einführung einer Einheitsversicherung mit einem Beitragsmodell ab, bei dem jede/r entsprechend ihrem/seinem Einkommen Beiträge entrichten sollte. Sogar die Mehrheit der Hausärzte/ärztinnen hatte diesen Vorschlag unterstützt. Darüber hinaus äußerten sich viele MedizinerInnen besorgt über das stetige Ansteigen der Kopfpauschalen und die hohen Verwaltungskosten der über 80 Schweizer Kassen. Von den hohen Werbekosten, um im Kassenwettbewerb bestehen zu können, einmal ganz abgesehen.
Für die Menschen mit niedrigeren Einkommen, die mehrheitlich für den Vorschlag gestimmt hatten, könnte die Entscheidung für die Beibehaltung von Individualismus und freiem Gesundheits-Wettbewerb weitreichende Folgen haben.
Kopfpauschalen
Die zu bezahlenden Kopfpauschalen gelten für alle EinwohnerInnen ab einem Alter von 19 Jahren. Für Kinder gibt es reduzierte Sätze. Derzeit können die SchweizerInnen aus Grundversorgungsangeboten zwischen 160 Euro und 340 Euro pro Monat auswählen. Viele PensionistInnen müssen jedoch bereits ein Drittel ihrer Pension für die Krankenversicherungsbeiträge aufwenden. Hat man sich einmal für eine Kasse entschieden, wird es kompliziert: Es folgt nämlich die Wahl des individuellen Selbstbehaltes. Wird der niedrigste Selbstbehalt in der Höhe von 180 Euro ausgewählt, so müssen bis zu diesem Betrag Behandlungskosten und Medikamente selbst bezahlt werden. Darüber hinausgehend gilt dann eine generelle Selbstbeteiligung von zehn Prozent der Kosten.
Die Möglichkeit der freien Festsetzung des Freibetrages lässt viele SchweizerInnen mit ihrer Gesundheit pokern: So kann eine Selbstbeteiligungsvariante mit einem Freibetrag bis zu 1.500 Euro im Jahr gewählt werden. Das senkt die monatliche Prämie und schont, sofern man möglichst lange gesund bleibt, die Haushaltskasse. Wenn man nur »ein bisschen« krank ist, besteht Anreiz, auf eine Behandlung zu verzichten.
Arztrechnungen und Medikamente müssen generell zuerst selbst bezahlt werden, bevor um Rückzahlung durch die Kasse angesucht wird. Hat man eine Behandlung in Anspruch genommen, die im Leistungskatalog der gewählten Kasse nicht aufscheint, hat man Pech gehabt:  keine Rückzahlung.
Da der Grundleistungskatalog, zu dem jede/r Zugang hat, beschränkt ist, interessieren sich viele SchweizerInnen für Zusatzversicherungen. Wer eine Vorgeschichte hat, die krankheitsbelastet ist, oder gar eine chronische Krankheit hat, wird oft abgelehnt. Gesunde haben somit einen besseren Krankenversicherungsschutz als die Kranken. Eine zynische Logik, die wir leider auch vom österreichischen Versicherungsmarkt her sehr gut kennen.
Auf eine Leistung, die öffentliche Systeme für gewöhnlich anbieten, müssen unsere Schweizer NachbarInnen aber darüber hinaus verzichten - das Krankengeld. Auch diese Leistung ist nämlich »privatisiert«. Zwar gibt es nach drei Wartetagen eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Wer nach dem Auslaufen dieser ArbeitgeberInnen-Leistung Krankengeld beziehen möchte, muss aber rechtzeitig eine sogenannte »Krankengeldversicherung« abschließen. Das gilt auch bei Mutterschaft. Es ist kaum verwunderlich, dass auch der Abschluss dieser Versicherung weniger gesunden Menschen verweigert werden kann.
Trotzdem weist die Schweiz nach den USA, wo 16 Prozent der Bevölkerung überhaupt nicht versichert sind, die zweithöchsten Gesundheitsausgaben der Welt auf.
Beispiel Niederlande
Während das Schweizer Beispiel von den meisten europäischen PolitikerInnen noch weitgehend ignoriert wird, haben sie mit den Niederlanden ein neues Vorzeigemodell gefunden. Vor ein paar Jahren war das niederländische Gesundheitssystem im Ausland vor allem durch zwei Themen präsent: Sterbehilfe und Cannabis auf Krankenschein. Chronisch Kranke können Ausnahmeregelungen in Anspruch nehmen, unter denen sie legal Cannabispflanzen züchten dürfen. Niederländische MedizinerInnen betonen immer wieder die positive Wirkung bei Krankheiten wie Aids, Multipler Sklerose oder auch Krebs. Bei der Sterbehilfe ist es ihnen bei Einhaltung aller festgelegter Vorsichtsmaßnahmen wie Konsultation eines zweiten Arztes/einer zweiten Ärztin und wiederholtem Ersuchen des Patienten/der Patientin erlaubt, das Leben von unheilbar Kranken zu beenden.
Beide Themen sind emotional aufgeladen und gelten politisch als »heiße Kartoffeln« und radikal. Die Vorbildfunktion der Niederlande besteht demnach nicht in gesellschaftspolitischem, sondern in wirtschaftspolitischem Liberalismus. Der ist freilich nicht weniger »radikal«. Während die gesellschaftspolitischen Reformen meist ausgeblendet werden, gilt das 2006 völlig umstrukturierte Gesundheitssystem der Niederlande als beliebtes Vorzeigeprojekt.
Völlige Wahlfreiheit
Was war geschehen? Die Regierung hatte die völlige Wahlfreiheit unter den Krankenkassen eingeführt. Diese bieten ihren Kunden/Kundinnen, ähnlich wie die Schweiz, um ca. 1.050 Euro ein sogenanntes Basispaket für ambulante Behandlung an. Da es sich hier um eine Kopfpauschale handelt, werden niedrigere Einkommen dementsprechend mehr belastet als höhere, auch wenn manche GeringverdienerInnen einen Zuschuss beantragen können. Dabei liegen das Leistungsangebot der Basispakete weit unter den Versicherungsleistungen in anderen europäischen Ländern, Österreich inklusive.
Zusätzlich zur Kopfpauschale müssen noch 12,55 Prozent des Einkommens an Sozialversicherungsbeiträgen abgeführt werden. Diese Beiträge dienen der stationären Behandlung bzw. der Krankenhausfinanzierung. ArbeitgeberInnen müssen insgesamt nur 6,5 Prozent der Beiträge abführen. Auch wenn der niederländische Gesundheitsmarkt bei weitem nicht so unübersichtlich ist wie das Angebot in der Schweiz, so haben bereits im ersten Jahr seines Bestehens drei Millionen HolländerInnen ihren Versicherungsanbieter gewechselt. Der niederländische Gesundheitsminister Hans Hoogervorst ist zufrieden: Die profitorientierten Gesundheitsleister würden den Wettbewerb und »kreative Innovationen« ankurbeln. Außerdem hätte die zuvor bestehende »freie Gesundheitsversorgung« zu viel zu häufiger Inanspruchnahme geführt.
Anspruch auf Rückzahlung
Auf dieses Ziel legen mit ihren Rückzahlungsoptionen auch die Krankenversicherungen an. Wer wenig oder überhaupt keine Leistungen seiner/ihrer Krankenversicherung in Anspruch nimmt, bekommt eine Rückzahlung. Diese Rückzahlungen unterlaufen nicht nur das Solidarprinzip, sondern führen auch zu einem verschlechterten Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung und damit einhergehend zu negativen Lenkungseffekten. Neben einer geringeren MedizinerInnendichte und weniger Arztbesuchen haben die NiederländerInnen im europäischen Vergleich auch weniger Zugang zu Medikamenten. Durch die gesetzlich verordneten Einsparungen bei Verschreibungen sind vor allem Menschen mit weniger schweren Erkrankungen oft nicht in ausreichendem Maße mit Arzneimitteln versorgt.
Wie in der Schweiz besteht auch in den Niederlanden die Möglichkeit der »freiwilligen Selbstbehalte«. Wer sich bereit erklärt, Gesundheitskosten bis zu einer bestimmten Höhe selbst zu tragen, darf sich über einen reduzierten Beitragssatz freuen. Übrigens: Immerhin sieben Prozent der NiederländerInnen können sich die empfohlenen Zusatzversicherungen nicht (mehr) leisten. Was die Frankfurter Rundschau bereits am 6. Dezember 2003 über die holländische Politik schrieb, scheint sich immer mehr zu bewahrheiten: »Auf die Erfolge in der Arbeitsmarktpolitik fallen in Holland die neoliberalen Schatten einer mangelnden Investition in öffentliche Güter, wie sie für effiziente und gerechte Zukunftssicherung unersetzbar sind.«
Auch in Österreich stehen die Zeichen der Zeit auf Privatisierung und Leistungskürzung. In den letzten zehn Jahren wurde die generelle Mitversicherung von Angehörigen abgeschafft, Ambulanzgebühren eingeführt, die Rezeptgebühr und die Zuzahlung bei Krankenhausaufenthalten außerordentlich erhöht. Außerdem sind wir ständig mit dem Ruf nach Privatisierung öffentlicher Gesundheitseinrichtungen konfrontiert. Die Frage, ob die österreichische Politik diesen Weg mit all seinen international beobachtbaren Konsequenzen weiterverfolgen und intensivieren wird oder nicht scheint noch nicht entschieden. Aber es lohnt sich zweifelsohne, sich für den Erhalt und Ausbau eines solidarischen Gesundheitssystems einzusetzen. 
Martin Bolkovac

KONTAKT
Schreiben Sie uns Ihre Meinung
an den Autor
martin.bolkovac@gpa-djp.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at

WEBLINKS
Mehr Infos unter:
www.de.wikipedia.org/wiki/Gesundheitswesen Das Online-Lexikon Wikipedia zur Gesundheitspolitik in Europa
www.de.wikipedia.org/wiki/Gesundheitswesen Schweiz
www.de.wikipedia.org/wiki/Gesundheitsreform in den Niederlanden

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum