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Gabriele Schmid Gabriele Schmid: »Wer geringe arbeitsmarktgerechte Qualifikationen hat, tut sich schwer einen guten Job zu finden. Höhere Bildung heißt meist auch mehr Freiheit am Arbeitsmarkt, mehr Einkommen, mehr soziale Sicherheit.«
Foto: Paul Sturm

Chance Bildung

Schwerpunkt

Sozialpartner unterstreichen: Reformen im Bildungswesen sind jetzt unabdingbar.

Wissen Sie, um wie viel höher die Chance für Kinder aus Wiener AkademikerInnenhaushalten ist eine Hochschule abzuschließen als für das Kind einer Verkäuferin vom Land? Antwort: elfmal.
Wissen Sie, wie viele 15-Jährige in Österreich nur Monate vor Ende der Schulpflicht nicht so ausreichend zu lesen imstande sind, dass er oder sie einen einfachen Text verstehen kann? Antwort: jede/jeder Fünfte.
Wissen Sie, wer die größten Probleme beim Lesen hat? Antwort: MigrantInnen der 2. Generation, in Österreich geboren und aufgewachsen können deutlich schlechter lesen als jene der 1. Generation, die dies im Herkunftsland erlernten.
Wissen Sie, wie Österreichs Mädchen in Naturwissenschaft abschneiden? Antwort: Im Mittel zwar gleich mittelprächtig wie Österreichs Burschen, bei genauerer Betrachtung haben Mädchen in Österreich aber die größte geschlechtsspezifische Abweichung von den Burschen beim Thema Physik im Vergleich von 57 Ländern; dazu kommt, dass sie auch am wenigsten innerhalb aller Länder mit dem Gelernten anzufangen wissen.
Wissen Sie, wie viele Jugendliche zwischen 20 und 24 Jahre nach der Pflichtschule keine weitere Ausbildung mehr beendet haben? Antwort: 80.000.
Wissen Sie, wie viele junge Menschen in Österreich maturieren, in vergleichbaren EU- oder OECD-Ländern aber
wie viele mehr? Antwort: in Österreich vier von zehn, in anderen Ländern sieben bis neun von zehn.
Wissen Sie, wie viele Studierende an manchen Universitätsinstituten auf einen/eine betreuenden ProfessorIn kommen? Antwort: Spitzenreiter ist die Wirtschaftsuniversität Wien mit 270 zu betreuenden Studierenden.
Wissen Sie, wie es in Österreich ist, versäumtes Bildungswissen nachzuholen? Ungewöhnlich schwierig: Wer älter als 18 ist, muss für das Nachholen von Abschlüssen zumeist zahlen, findet oft kein passendes Angebot und wird allein gelassen - vom Hauptschulabschluss, über den Lehrabschluss bis zur Matura.
12.000 Lehrplätze fehlen
Wissen Sie, wie viele Lehrplätze für Jugendliche fehlen und wie viele Jugendliche an berufsbildenden Schulen aus Platzmangel abgewiesen werden, obwohl sie die Aufnahmekriterien erfüllen? Antwort: Es fehlen mehr als 12.000 Lehrausbildungsplätze und mehr als 5.000 SchülerInnen werden abgewiesen.
Wissen Sie, welche Einrichtung zum größten öffentlichen Finanzier und Auftraggeber für die Weiterbildung Erwachsener geworden ist? Antwort: Das Arbeitsmarktservice mit seinen Schulungen für Arbeitslose - in andere Worten viele Erwachsene bekommen einzig und allein im Zustand der Arbeitslosigkeit überhaupt die Chance auf Weiterbildung.
Sind dies nun Fragen eines lesenden Arbeiters, wie Bert Brecht vielleicht sagen würde?
Oder ist Unbildung wie der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann1 schreibt »weder individuelles Versagen noch Resultat einer verfehlten Bildungspolitik: Sie ist unser aller Schicksal, weil sie die notwendige Konsequenz der Kapitalisierung des Geistes ist? Geht es nur darum »fit for the job« zu sein und/oder ist »lebenslanges Lernen ein Zwang, von dem man erst mit dem Tod befreit wird«?2
Veränderter Wissenserwerb
Nun wie so oft: Es gibt nicht nur schwarz oder weiß. Klar ist: Neue Technologien verändern den Wissenserwerb, nicht das Wissen selbst. Wissen kann globaler werden; der Zugriff zu Wissen geht schneller und leichter für jene, die wissen, wo sie suchen sollen. Der Druck auf die Verwertbarkeit und Anwendbarkeit von Wissen steigt; gleichzeitig werden Kompetenzen erkennbar als wichtig angesehen, die sich nicht durch klassisches Erlernen aneignen lassen: Teamfähigkeit, Lernfähigkeit, Konfliktfähigkeit usw. Gleich bleibt auch in der sogenannten Wissensgesellschaft, wie schon der große Philosoph Hegel3. formulierte: Das Bekannte ist, darum weil es bekannt ist, nicht erkannt.
Gar nicht neu ist: Wer geringe arbeitsmarktgerechte Qualifikationen hat, tut sich schwer einen guten Job zu finden. Höhere Bildung heißt meist auch mehr Freiheit am Arbeitsmarkt, mehr Einkommen, mehr soziale Sicherheit. Fast 50 Prozent der Arbeitslosen haben nur einen Pflichtschulabschluss.
Aus Sicht der ArbeitnehmerInnen befindet sich Österreichs Bildungswesen in einer veritablen Krise. Versäumnisse und fehlende Investitionen in das Entwickeln und Fördern der Begabungen, Talente und Interessen von jungen Menschen, aber auch von ArbeitnehmerInnen mitten im Arbeitsleben wirken langfristig und werden zunehmend sichtbar.
Es ist nicht die Debatte um die PISA-Ergebnisse4 allein, die Reformbedarf aufzeigt. Viel zu viele Jugendliche (17 Prozent eines Jahrgangs) bleiben ohne weiterführende Ausbildung unqualifiziert am Arbeitsmarkt übrig; nur ein Drittel der ArbeitnehmerInnen hat über den Betrieb Zugang zu Weiterbildung; wer die Erstausbildung ohne guten Abschluss verlässt, schafft das Weiterkommen als Erwachsener nur unter unzumutbaren Bedingungen (etwa in der Abendschule mit dreistündiger Anwesenheit mindestens viermal in der Woche und am Wochenende Lernen).
Facharbeitskräfte gesucht
Entscheidend für Fortschritte bei Wachstum und Beschäftigung sind gut ausgebildete Facharbeitskräfte, die in einer Wissensgesellschaft am aktuellen Qualifikationsstand sind und so im globalisierten Wettbewerb über hohe Produktivität zum Standorterhalt wesentlich beitragen.
Es ist nicht zuletzt die Debatte um das Fehlen qualifizierter Facharbeitskräfte, die dazu geführt hat, dass sich die Sozialpartner auf ein umfassendes Forderungspapier zur Reform im Bildungswesen verständigen konnten. Das Sozialpartnerpapier »Chance Bildung« wurde im Oktober 2007 bei der jährlichen Sozialpartnertagung in Bad Ischl der Öffentlichkeit vorgestellt.
In seinem früheren politischen Leben (VP-Landtagsklubchef, Landesschulratspräsident Steiermark) bekannte Bernd Schilcher, derzeit Leiter der ExpertInnenkommission zum Schulwesen, ein scharfer Kritiker der Sozialpartnerschaft gewesen zu sein: »Heute bin ich dankbar, dass die Sozialpartner das Thema Bildung aufgreifen, denn da ist eine gewisse Sicherheit, dass sich doch etwas rührt«.5
»Chance Bildung«
Die wichtigsten Ergebnisse des Papiers, das Bildung als Chance nicht als Strafe, als Motor für Wachstum und Beschäftigung und nicht als elitären Hemmschuh, versteht, sind:

  1. Inhaltliche Ziele
  2. Messbare Ziele
  3. Entwicklung einer Strategie des lebensbegleitenden Lernens, die eine gemeinsame Anstrengung und ein gemeinsames Bekenntnis der wichtigsten AkteurInnen ist.

Wir brauchen dringend Reformen in der Schule:

  • Rechtzeitige Förderung der Kleinen durch ein verpflichtendes Vorschuljahr für alle Kinder, um frühzeitig Defizite auszugleichen, Begabungen zu fördern und soziale Kompetenzen zu erwerben.
  • Das Recht auf ein ganztägiges Betreuungsangebot in der Ganztagsschule: Bis 2012 soll in jedem politischen Bezirk ein ganztägiges Betreuungsangebot bestehen. Derzeit gibt es in sechs Bundesländern überhaupt keine Ganztagsvolkschule.
  • Spätere Trennung der SchülerInnen nach der Volksschule - eine gemeinsame Mittelschule, die individuellen Begabungen, Stärken und Schwächen besser gerecht wird.
  • Ein neu gestaltetes Pflichtschulabschlussjahr für alle 14-Jährigen, das zu den richtigen Entscheidungen
    bei der Berufswahl führt, Durchlässigkeit zwischen Lehre und berufsbildenden Schulen (HAK, HTL, …) ermöglicht, Raum und Zeit für den Ausgleich allfälliger Defizite gibt.


Aktualisierung der Berufsbildung
Alle Jungen brauchen eine Chance auf gute Ausbildung.

  • Die Ausbildungsgarantie bis 18 umsetzen: 12.500 Ausbildungsplätze in Lehrwerkstätten und verbesserte Jugendausbildungsförderung bereits im Jahr 2008/2009.
  • »Lehre mit Matura« soll in Berufsschulen bereits im Rahmen der Lehre oder einer anderen mittleren Ausbildung erworben werden können.
  • Ein ausreichendes Angebot an Plätzen in berufsbildenden Schulen und die Verringerung der hohen Drop-out-Raten.
  • Höherqualifizierung von Mädchen und Frauen in Technik und Naturwissenschaft.

Wir müssen die Weiterbildung von ArbeitnehmerInnen ins Zentrum der Bildung rücken.Weiterbildung führte in den letzten Jahren ein Schattendasein auf der politischen Tagesordnung: ArbeitnehmerInnen in Österreich können in ihrem Berufsleben 422 Stunden an berufsbezogener Weiterbildung erwarten; in Dänemark dagegen 934 Stunden, in der Schweiz 723 Stunden und in Frankreich 713 Stunden.
Privat wenden die ÖsterreicherInnen für ihre Weiterbildung in Summe 800 Mio. Euro im Jahr aus. Die Betriebe zahlen für die Weiterbildung ihrer Beschäftigten in Summe 900 Mio. Euro im Jahr. Bescheiden hingegen wirken die Ausgaben der öffentlichen Hand für Weiterbildung: Bund, Länder und Gemeinden kamen im Jahr 2004 zusammen auf 297 Mio. Euro für die Förderung der Weiterbildung - das entspricht 2,3 Prozent der gesamten öffentlichen Bildungsausgaben. Für die Weiterbildung ist wichtig:

  • Hauptschulabschluss nachholen, Lehrabschluss später machen, Matura über 18: dies soll kostenfrei für die TeilnehmerInnen möglich sein, breit und regional gestreut angeboten und auf das Lernen Erwachsener ausgerichtet sein.
  • Ein neues »Qualifizierungsstipendium« soll für nachgefragte Vollzeitausbildungen entwickelt werden und soll die Lebenshaltungskosten während einer Ausbildung finanzieren helfen.
  • Wir von der AK wollen darüber hinaus: Unternehmen müssen zur Erhöhung der Weiterbildungsbeteiligung aller Beschäftigtengruppen (nicht nur ohnehin gut ausgebildeter) veranlasst werden. Der Vorschlag der AK - 35 Stunden für Weiterbildung pro Jahr in der Arbeitszeit - findet keinen Sozialpartnerkonsens, ist dennoch aus Sicht der AK notwendig, weil Unternehmen bisher jede ausreichende Initiative für die Mittel- bis Niedrigqualifizierten vermissen lassen.

Gesamtstrategie gefragt
Eine Gesamtstrategie zum lebensbegleitenden Lernen ist notwendig. Wir brauchen klare Ziele, einen Zeitplan, die Einbeziehung aller relevanten AkteurInnen und die kontinuierliche Evaluierung der Umsetzung. Bisher hat sich die Bildungspolitik häufig im Nebel schöner Worte verloren; es fehlt an nachvollziehbaren Fortschritten, an Daten, an Überprüfung, ob ein hoher Mitteleinsatz für die Bildung zielkonform eingesetzt wird. Vorrangiges Ziel muss es sein, die Bildungschancen für alle ohne soziale Zugangsbarriere zu sichern. Wenn das Bildungssystem von Anfang an allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zur Entwicklung ihrer Begabungspotenziale bietet, wird die Grundlage für die Verbesserung des Bildungsniveaus und für eine Höherqualifizierung der zukünftigen Beschäftigten gelegt. Auf diese Weise könnten die Mittel, die zurzeit für »Reparaturmaßnahmen« zu späteren Zeitpunkten aufgewendet werden, verringert werden - zum Beispiel Hauptschulabschlusskurse, Klassenwiederholungen.
Gänzlich ohne zusätzliche Mittel für entscheidende Maßnahmen wird das nicht gehen - etwa für die Jugendausbildung oder das Nachholen von Abschlüssen. Aber es muss vor allem durch Umschichtungen möglich sein, zusätzliches Geld für die wichtigsten Handlungsfelder aufzutreiben.

Schwerpunkte festlegen
Schließlich sind auch Festlegungen erforderlich, die zeigen, wo die bildungspolitischen Schwerpunkte liegen und wo besondere Anstrengungen gesetzt werden sollen. Um vom wolkigen Bildungssprech wegzukommen, muss es empirisch nachvollziehbare Zielgrößen und deren Messung geben.
Aus acht sozialpartnerschaftlich vereinbarten Messgrößen seien hier nur drei genannt:

  • Halbieren wir in fünf Jahren den Anteil der 15-Jährigen, die nicht sinnzusammenhängend lesen und schreiben können - von derzeit 21,5 Prozent auf zehn Prozent im Jahr 2012.
  • Halbieren wir in fünf Jahren den Anteil an Jugendlichen, die keine Ausbildung haben - von derzeit 17 Prozent auf unter neun Prozent im Jahr 2012.
  • Verdoppeln wir in fünf Jahren den Anteil der Lehrlinge, die zur Matura kommen - von derzeit zwei Prozent auf fünf Prozent im Jahr 2012.


Das Sozialpartnerpapier »Chance Bildung« hat in bildungsinteressierten Kreisen große Beachtung gefunden; viele ExpertInnen zeigten sich nach der Präsentation erstaunt, wie konkret, fortschrittlich und undogmatisch die Sozialpartner an dieses wichtige Thema herangegangen sind.
Nun ist wichtig, die Initiative nicht versanden zu lassen und sich als Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen
in Bildungsfragen aktiv zu Wort zu melden.
Wissen ist Macht und war Macht. Nach Konrad Paul Liessmann5 sind Gebildete nämlich alles andere als jene reibungslos funktionierenden, flexiblen, mobilen und teamfähigen Klons, die manche gern als Resultat von Bildung sähen.

KURZ GEFASST
Das Sozialpartnerpapier »Chance Bildung« wurde im Oktober 2007 bei der jährlichen Sozialpartnertagung in Bad Ischl der Öffentlichkeit vorgestellt. Darin fest gehalten ist die Forderung, eine brauchbare Strategie für das Lebensbegleitende Lernen zu entwickeln. Dazu brauchen wir dringend Reformen in der Schule. Schon die Kleinen müssen gefördert werden. Wir brauchen Ganztagsschulen in jedem politischen Bezirk, eine gemeinsame Mittelschule und ein neu gestaltetes Pflichtschulabschlussjahr.
Junge Menschen sollen die Chance auf gute Ausbildung haben: Dazu braucht es eine Ausbildungsgarantie bis 18, die Möglichkeit Lehre und Matura zu koppeln, ein ausreichendes Angebot an Plätzen in berufsbildenden Schulen und die Höherqualifizierung von Mädchen und Frauen in Technik und Naturwissenschaft.
Um die Weiterbildung von ArbeitnehmerInnen ins Zentrum der Bildung zu rücken, muss es z. B. leichter möglich sein, den Hauptschulabschluss oder den Lehrabschluss nachzuholen. Ein neues »Qualifizierungsstipendium« für nachgefragte Vollzeitausbildungen wäre gut und Unternehmen müssen zur Erhöhung der Weiterbildungsbeteiligung aller Beschäftigtengruppen veranlasst werden.
K. K.

WEBLINKS:
Sozialpartnerpapier »Chance Bildung«
www.sozialpartner.at/sozialpartner/ChanceBildung_20071003.pdf

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