topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Andreas Gjecaj, Bundessekretär der Christgewerkschafter im ÖGB
Fahne
Buchtipp

Kosovo ist frei!

Interview

Am 17. Februar 2008 hat sich die zuletzt serbische Provinz Kosovo für unabhängig erklärt. Mit der »Republik Kosovo« scheint der Zerfall des »Tito-Vielvölkerstaats Jugoslawien« besiegelt.

ZUR PERSON
 ANDREAS GJECAJ
Die Silberschmiedefamilie Gjecaj aus Prizren, Kosovo, gehört jener albanischen Minderheit an, die auch während 400-jähriger türkischer Fremdherrschaft im Kosovo Katholiken blieben.
Nach dem 2. Weltkrieg und der Machtübernahme durch die Tito-Partisanen, flüchteten sie, wie viele Familien,
aus dem Kosovo. Über Slowenien kam die Familie 1957 nach Österreich, wo Andreas Gjecaj - nach Matura und Berufstätigkeit als Gold- und Silberschmied - in Graz und Wien unter anderem als Diözesan- und Bundessekretär der Kath. ArbeitnehmerInnen Bewegung (KAB) und als Betriebsratsvorsitzender der Diözese Graz-Seckau tätig war.

Für die meisten EuropäerInnen ist komplett unverständlich, warum sich z. B. Tschechien und die Slowakei ohne jedes Blutvergießen voneinander trennen konnten, während im ehemaligen Jugoslawien der Bürgerkrieg in volle Härte ausbrach.

Lernen’s Geschichte

»Lernen’s Geschichte« forderte seinerzeit ein grantiger Bruno Kreisky von Journalisten. Tatsächlich ist ohne einen kurzen Blick in die jahrhundertelange Entwicklung des Kosovo-Konflikts die heutige Erbitterung beider Seiten kaum zu verstehen. Die Albaner sind ein Unikat in Europa. Ihre Sprache ist weder slawisch noch romanisch - ja eigentlich mit keiner anderen Sprache verwandt. Wahrscheinlich ist es das Zusammenspiel von zwei Gründen, warum ein so kleines Volk die Jahrtausende überleben konnte. Zum einen ist das Land wirklich unwegsam, wird sowohl zum Meer als auch zum Land von hohen Bergen umschlossen. Zum anderen haben sich die Albaner seit jeher in Großfamilien - am ehesten mit den schottischen Clans vergleichbar - organisiert, es gab also für Eroberer nichts zu holen.

Nach dem Zerfall des römischen Reichs kamen mit der Völkerwanderung slawische Stämme in die Region. Damals waren viele Regionen gemischtsprachig besiedelt und Mönche zogen in Grenzregionen, um diese mit Klöstern abzusichern. So finden sich im heutigen Kosovo noch zahlreiche serbisch-orthodoxe Klöster. Und dann kamen die Türken. In ihrem Bestreben, das osmanische Reich tief ins »Abendland« auszudehnen, führten die Türken ihre Eroberungskriege. Mit dem serbischen Heer kämpften auch albanische Stämme Seite an Seite gegen die Türken - es kam im Jahr 1389 zur vernichtenden Niederlage bei der Schlacht auf dem Amselfeld - dem Kosovo Polje. Der serbische Heerführer, Fürst Lazar, wurde enthauptet - der Mythos von der »Wiege des Serbentums im Kosovo« geboren. Im folgenden Jahrhundert gelang es dem albanischen Volkshelden Georg Kastrioti, genannt Skenderbeg, die albanischen Stämme zu vereinen und die Türken von 1444 bis zu seinem Tod 1468 aufzuhalten, wofür er auch vom Papst als »Athleta Christi« ausgezeichnet wurde.

Parallelgesellschaft

In den folgenden 400 Jahren war das gesamte Gebiet ein Teil des osmanischen Reiches. Während z. B. die Griechen, die Serben, die Bulgaren in den landeskirchlich organisierten, orthodoxen Kirchen ihre Kultur weiter pflegen konnten, waren die katholischen Albaner massivem Druck ausgesetzt. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die meisten Albaner islamisiert. Jene Albaner, die sich der osmanischen Herrschaft nicht beugen wollten, zogen sich in die unwegsamen Berge zurück und begannen ihre Angelegenheiten nach dem mündlich tradierten Gewohnheitsrecht, dem »Kanuni i Leke Dukagjinit«, zu regeln. Da es in den Bergen weder osmanische Schulen, noch Polizei oder Gerichte gab, entwickelten sich die albanischen Stämme zu einer Parallelgesellschaft.

Die archaische »Blutrache« ist zwar weithin bekannt, aber wahrscheinlich ist die »Ehre« wesentlicher. Wenn sich eine Bevölkerungsgruppe der Herrschaft entzieht, dann besteht immer Lebensgefahr. Wenn jemand sein Wort nicht hält, ist das gleichbedeutend mit Folter und Tod für ganze Familien. Erst in diesem Kontext ist zu verstehen, warum für die Albaner bis heute das »Ehrenwort« an erster Stelle steht und jemand, dem öffentlich eine Lüge nachgewiesen wird, der in der Sprache der Albaner sein »weißes Gesicht« verloren hat, für sie als »tot« gilt.

Mit den Balkankriegen am Beginn des 20. Jahrhunderts endete zwar die türkische Fremdherrschaft, aber zwei Weltkriege später fanden sich die Albaner weiterhin lediglich zwischen den kommunistischen Diktaturen Albaniens und Jugoslawiens aufgeteilt. In Albanien wurden in »Umerziehungslagern« Tausende Menschen gefoltert und ermordet. In ihrem Buch: »Das ewige Leben der Albaner« beschreibt die Autorin Ornela Vorpsi die unfassbare Grausamkeit des Regimes, wo Regimekritiker nicht nur ermordet wurden, sondern man Wächter abstellte, um zu verhindern, dass der Leichnam begraben werden konnte. So erfüllte bald unsäglicher Verwesungsgeruch den mit Tausenden Kleinbunkern übersäten »ersten atheistischen Staat« der Welt.

Im Kosovo sorgte ein europaweit einzigartiges Phänomen für den heute so unlösbar erscheinenden Konflikt. Während sich unser Kontinent auf dem Weg zur »Vergreisung« befindet, waren in albanischen Familien acht, zehn, zwölf Kinder keine Seltenheit. Mit der höchsten Geburtenrate Europas wurden alte Bevölkerungsstatistiken pulverisiert.

Mittlerweile ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, ein Drittel ist noch unter 16 Jahre alt. Zum Vergleich: Während sich in Österreich die Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten von 17 auf 8,65 Geburten pro 1.000 Einwohner - wie in fast ganz Europa - halbiert hat, liegt sie im Kosovo bei 23 Geburten! Dazu kommt, dass noch vor dem Weltkrieg - besonders bei der Landbevölkerung - der Analphabetismus weit verbreitet war und mittlerweile die Schulen und Universitäten überquellen.

Es kam also innerhalb von zwei Generationen auch zu einem unglaublichen Bildungsschub. Die Migrationsforschung untersucht bei Wanderbewegungen sogenannte »push and pull«-Faktoren, also was stößt ab und was zieht an. Im Kosovo wirkten der massive Bevölkerungszuwachs der Albaner und die relativ einfache Möglichkeit für Serben, sich in anderen jugoslawischen Landesteilen niederzulassen so zusammen, dass es zu den letztlich kriegsauslösenden Verdrängungseffekten kam.

Ohnmächtige Wut

Im Kosovo prallen also der über Jahrhunderte aufgestaute Hass und ohnmächtige Wut aufeinander. Wie anders soll man die Gefühle eines serbischen Bauern beschreiben? Möglicherweise bewirtschaftet seine Familie seit vielen Generationen einen Acker. Vielleicht hat sein Großvater das steinerne Haus errichtet, in dem er wohnt. Und jetzt sind fast alle Nachbarn schon weggezogen, seine Kinder sagen, sie wollen hier nicht mehr leben - und eine junge Generation selbstbewusster AlbanerInnen prägt das Bild. Umgekehrt sind die Albaner einen jahrhundertelangen Leidensweg gegangen, wurden von den Türken drangsaliert und waren in der kommunistischen Diktatur nie ihre »eigenen Herrn«. Fast unerträglich wird da die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit. In diesem Umfeld beginnt sich die Spirale der Gewalt immer schneller zu drehen.

Von serbischen Polizisten, die AlbanerInnen misshandeln, über die Vertreibung serbischer Bauernfamilien durch AlbanerInnen, von brennenden Kirchen und Klöstern bis zum grausamen Bürgerkrieg und dem NATO-Bombardement. Irgendwann hat es keinen Sinn mehr, geschehenes Unrecht gegenzurechnen. Man muss vielmehr alles daransetzen, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen.

Europäische Perspektive

Die mittlerweile 27 Staaten der Europäischen Union sollten alles daran setzen, keine einseitigen Lösungen zu suchen, sondern nachhaltigen Frieden zu schaffen. Das heißt, nach dem zweifellos gelungenen slowenischen Sonderweg ist es höchste Zeit, allen anderen Völkern im Balkan eine echte Perspektive zum Friedens- und Entwicklungsweg der EU anzubieten.

Hier brauchen noch rund 25 Millionen EuropäerInnen - derzeit auf sieben Staaten aufgeteilt - keine vorschnellen Pseudo-Lösungen, sondern echte Hilfe. Zu tief sind die Wunden, die über die Jahrhunderte nicht verheilen konnten. Wer jahrelang gefesselt war, kann nicht von heute auf morgen einen Marathon laufen, sondern muss erst mühsam wieder gehen lernen. So gilt es zunächst, sich auf eine gemeinsame Wertebasis zu verständigen und einen schrittweisen Demokratisierungsprozess zu begleiten. Die Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos sollte die Verpflichtung beinhalten, auch mit Beograd und Tirana - den Hauptstädten Serbiens und Albaniens - den Dialog zu vertiefen.

Nur gemeinsam kann es gelingen, die unsägliche Spirale der Gewalt zu durchtrennen und endlich eine europäische Perspektive für den gesamten Balkanraum zu eröffnen.

WEBLINKS
Kosovo im Internetlexikon Wikipedia
www.de.wikipedia.org/wiki/Kosovo
Kosovo-Portal mit täglichen Informationen und Nachrichten
www.kosovo-forum.de/
Berichte und Hintergrundmaterial
der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) zum Kosovo
www.esiweb.org/

KONTAKT
Schreiben Sie uns Ihre Meinung
an den Autor
andreas.gjecaj@oegb.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum