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Foto | Paul Sturm Wer arm ist, ist in unserer Gesellschaft meist auch ausgegrenzt.

Armut ist keine Schande

Schwerpunkt

Hinter ihrer Maske des Gleichmuts erleben viele arme oder verarmte Menschen ein Wechselbad der Gefühle. Arme sind oft in der Rolle von Sündenböcken, sozial und materiell ausgegrenzt.

Mami, warum ist niemand mehr zu uns auf Besuch?« Susi versteht ihre Eltern nicht mehr. Seit drei Jahren, genauer: seit Vater seinen Arbeitsplatz in einer Pharmafirma verloren hat, sind die beiden so komisch. Gut, das Auto wurde aufgegeben - wegen der Umweltbelastung, sagen sie. Man ist an den Rand von Wien gezogen, in eine sehr kleine Wohnung - weil die Natur hier näher ist, sagen sie. Sonst scheint alles beim Alten. Nur: Hinter der Fassade herrschen Bitterkeit und Lebensunlust. Mutter arbeitet jetzt stundenweise im Supermarkt, Vater hat irgendwelche Gelegenheitsjobs. Weder in der Arbeitslosenkartei scheint er auf, noch würde er je irgendwo um Hilfe ansuchen. Niemand, nicht einmal Susi soll erfahren, wie sehr die Familie gegen die Armutsfalle kämpft. Inzwischen ist sein Selbstgefühl so parterre, dass er es nicht mehr schaffen würde, sich um einen adäquaten Job zu bewerben.

Ein guter Job - das ist längst mehr als eine Quelle von Einkommen, sondern Basis von gesellschaftlicher Anerkennung und gestärktem Selbstwertgefühl. Der große Energieverschleiß, der mit dem Sich-am-finanziellen-Limit-über-Wasser-halten verbunden ist, hingegen stellt keinerlei Belohnung in Aussicht. Im Gegenteil. Unsere narzistisch ausgerichtete Gesellschaft, in der Freiheit zum Markenzeichen wurde, verlangt ein Leben wie es in Hochglanzmagazinen abgebildet ist. Wir haben Designermarken zu tragen, fünf Jahre jünger auszusehen, eine herzeigbare Familie oder Beziehung zu haben, schlank und fit zu sein und regelmäßig Urlaub zu machen - wenn möglich am Meer.

»Diese Freiheit heißt: Wer die Norm nicht erreicht, ist selbst schuld«, sieht Jens Roslet in seinem Essay »Die Würde des Menschen ist antastbar« in der Beschämung der Nicht-Genormten ein subtiles Mittel gesellschaftlichen Terrors. »Der Beschämte beweist seine Unterlegenheit und akzeptiert gleichzeitig die Machtverhältnisse.«

Nichts haben - nichts sein

Allerdings ist das Gefühl des Beschämtseins nicht angeboren, sondern eine soziale Erfahrung. »Sie setzt die Unterscheidung zwischen sich und der Welt voraus und entsteht in der frühen Kindheit«, so Psychoanalytiker und Rektor der Sigmund Freud Privatuniversität Dr. Alfred Pritz. Zwischen anderthalb und dem dritten Lebensjahr prägen sich kulturelle Normen, sowohl elterliche Denkweisen wie auch eigene Ziele ein. »Scham hat zunächst oft mit dem eigenen Körper zu tun. Etwas, das vom Kind positiv besetzt ist, wird von der Umwelt abgelehnt und unausgesprochen bestraft. Die Botschaft ist außerdem: Das Kind darf nicht herzeigen, wofür es sich schämt«, so Pritz.

In der Erwachsenenwelt wechseln die Auslöser von Scham mit den Wertmaßstäben der Zeit: Während beispielsweise in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Scham noch dem nackten Körper galt, ist sie heute an Versagen gekoppelt. Pritz: »Armut ein soziales Stigma - nichts haben bedeutet heutzutage: nichts sein.«

Rückzug aus Scham

Die »moderne Verachtung gegen sich selbst«, wie Leon Wurmser dieses Gefühl in seinem Klassiker »Die Masken der Scham« bezeichnet, sei nicht nur an den sozialen Misserfolg gekoppelt, an die Angst auf der Karriereleiter ganz unten zu sein, sondern diese »narzisstische Scham, es nicht geschafft zu haben« produziere auch die neue Ungleichheiten: Sie regelt das oben und unten in der demokratisch-individualistischen Gesellschaft, in der Prinzipien wie Gemeinwohl oder Solidarität Fremdwörter sind - jeder ist seines Glückes Schmied, heißt es heute, und jeder auch seines Unglücks. Und wer beschämt wird, hat sich zu schämen.

Die Folgen sind absehbar: »Scham ist mit Rückzug verbunden und mit der Unfähigkeit die Probleme, die man bewältigen sollte, anzugehen«, sagt Pritz. Eine schwer aufzulösende Negativdynamik, die bis zur Obdachlosigkeit führen kann. Das mag auch erklären, dass nur 40 Prozent der Armen Sozialhilfe beziehen. Und man kann sich ausmalen, dass der Gang als Bittsteller zum Beamten/zur Beamtin beschämend ist.

Dementsprechend ist auch der Rückzug aus politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten programmiert. »Wenn uns Freunde einladen, sagen wir ab«, gesteht Albert R., arbeitslos gewordener Leiter eines Supermarkts. »Erstens will ich die Frage: Wie gehts dir denn? nicht hören, und zweitens können wir die Einladung auch nicht erwidern. Wir brauchen jeden Cent.« So wie er verzichten 48 Prozent der Armen in Österreich auf Einladungen zu sich nach Hause, aber nur sieben Prozent der »Nichtarmen«. Früher oder später wirkt sich der Rückzug politisch aus. In den USA etwa geht nur noch die Hälfte der Wahlberechtigten zur Urne, die unteren Schichten - damit auch die Armen - bleiben daheim.

Auch umgekehrt reagieren NachbarInnen, KollegInnen und FreundInnen der Abgestürzten mit Rückzug. Schon deshalb, weil Armut heute ein sehr plastisches Gespenst ist, weil jeder plötzlich aus der heilen Welt hinausgestoßen werden kann. Vor allem durch die Neoliberalisierung des Marktes und seine flotte Rationalisierungspolitik, durch Überschreiten des 50. Geburtstags, mangelnde Flexibilität oder persönliche Krise.

Aber auch, weil auch Arbeit nicht mehr vor Armut schützt. Vor allem die Gruppe der working poor - Menschen, die Tag und Nacht arbeiten und mehrere Jobs haben, aber kaum ein Einkommen - nimmt ständig zu. Ihre Gefahr, den Absprung aus der Armutszone nicht zu schaffen, ebenfalls. Zu Aussichtslosigkeit und Ausgeschlossensein gesellen sich oft Angst vor Demütigungen und Attacken auf die Würde.

Ozonschicht Scham

»Scham ist die Ozonschicht des Individuums. Sie liegt wie eine Hülle um die Würde«, schreibt Roselt. In diesem Sinn verlangen Organisationen wie die Armutskonferenz eine Lobby für die Armen, die ihnen zu einer Position der Stärke verhilft, ihre Rechte vertritt und die Regierungen fordert. Armutsexperte Martin Schenk: »Die Armen sollen nicht wohlfahrtsstaatlich bevormundet, sondern ihre Freiheitsmöglichkeiten sollen vergrößert werden. Wie die Gesellschaft mit Ausgegrenzten umgeht, ist ein Seismograph für ihren inneren Zustand.«

INFO&NEWS
Verfestigter Teufelskreis
Das krampfhafte Bemühen, Armut zu verheimlichen ist nicht nur anstrengend und beschädigt den Selbstwert, sondern auch die Gesundheit leidet und verfestigt den Teufelskreis, der da lautet: Armut macht krank - Krankheit macht arm.

  • Bei Armen ist nicht nur die Säuglingssterblichkeit höher, sie werden auch im Durchschnitt fünf Jahre früher zu Grabe getragen als Leute mit gutem Einkommen und besserer Bildung.
  • Menschen der untersten sozialen Schicht sind nicht nur doppelt so häufig krank als BesserverdienerInnen. Auch ihr Risiko, Opfer eines Unfalls oder eines Gewaltverbrechens zu werden, ist doppelt so hoch.
  • Die sogenannten »Wohlstandserkrankungen« unserer Zeit – von Diabetes, Asthma bis zu Gastritis – müssen eigentlich als »Armuts«-Krankheiten bezeichnet werden: Denn die viel zitierten »Managerleiden« wie Bluthochdruck und Herzinfarktrisiko finden sich bei Armen dreimal so häufig wie bei Reichen.
Dass Menschen aus unteren Schichten öfter an Krebs - vor allem Lungenkrebs - erkranken, hängt mit den Faktoren Umwelt, Ernährung und Vorsorge zusammen: Wer kein Geld hat, lebt in Wohngebieten mit niedrigen Mieten und großer Verkehrsdichte und Abgasbelastung, was die Krebsgefahr nachweislich um 40 Prozent erhöht. Wer kein Geld hat, kann sich auch kaum eine gesunde Ernährung leisten. Außerdem nutzen arme Menschen mit niedrigem Bildungsgrad wesentlich seltener das Angebot der Krebs-Vorsorgemedizin als jene aus sozial höheren Gesellschaftsschichten. Die Gründe dafür sind Zeitmangel, ein geringeres Selbstwertgefühl und mangelnde Motivation, auf die eigene Gesundheit zu achten.
Wie nachhaltig arme Verhältnisse in der Kindheit das spätere Leben mitbestimmen, konnte auch die schwedische Lund-Analyse untermauern. Diese Untersuchung zeigt, dass sich psychische Krankheiten zu etwa 20 Prozent durch Armut in der Kindheit erklären lassen. Arme Kinder werden vorwiegend mit billigen, sättigenden und fettreichen Speisen ernährt und sind öfter übergewichtig. Sie leiden häufiger an Asthma oder Kopfschmerzen, an Nervosität, Schlafstörungen und Einsamkeit als gut situierte SchülerInnen.

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