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Nach acht Stunden jobben ist die Arbeit längst nicht getan.

Keine Zeit für mich

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»Zeit ist Geld« hieß es früher, »Zeit ist mit Geld nicht aufzuwiegen«, heißt es heute. Der Wettlauf mit der ökonomisierten Zeit produziert Egoisten.

Wir leben in einer Ego-Gesellschaft - sich selbst Treue zu schwören ist da nur logisch. Außerdem finde ich kaum Zeit, mit jemand anderem als mit mir selbst Zeit zu verbringen, aber ohne wirklich bei mir zu sein. »Ich arbeite rund im die Uhr«, sagte Jennifer Hoes, 29, trat in Harleem vor den Standesbeamten, und heiratete sich selbst. Was wie ein PR-Gag klingt, ist ein Symptom der Zeit: Hoes zeigte mit ihrer Aktion sarkastisch auf, wie sich die veränderten flexiblen, beschleunigten Zeit- und Arbeitsverhältnisse auf das Leben auswirken.
Fünf Wochen im Jahr für Hausarbeit
Der Tag hat 24 Stunden, aber es geht sich kaum aus: Nach acht Stunden Jobben ist die Arbeit längst nicht getan. Die so genannte Freizeit endet in Hausarbeit. So wenden beispielsweise ÖsterreicherInnen pro Haushalt rund fünf Wochen für Waschen, Bügeln, Kochen und Putzen usw. auf - das entspricht in etwa dem jährlichen Urlaubsanspruch. Und die 38-Stunden-Woche sieht in der Praxis auch anders aus, hat die »Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen« in einer Untersuchung herausgefunden: Die reale Arbeitszeit von Vollzeiterwerbsbeschäftigten liegt hierzulande bei 45 Stunden pro Woche. Von den sozialen Verpflichtungen gar nicht zu reden: Weil der Kontakt mit FreundInnen ja aufrechterhalten werden muss.
Keine Mittagspause
»Zeit ist Geld« hieß es früher. »Zeit ist mit Geld nicht aufzuwiegen«, heißt es heute. Obwohl sie immer im selben Maß vorhanden bleibt, scheint sie uns davon zu laufen. Weil wir von beschleunigten Informationen bombardiert werden, erklären die SoziologInnen. Weil sich die festgefügten Strukturen von Arbeitszeit und Freizeit durch die Individualisierung unseres Lebens auflösen und ineinander verschwimmen. Weil sich mit dem Rückzug des Staates als Garant für Wohlstand, Arbeit für alle und aufgrund geänderter ökonomischer Belange die Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeitzeiten beschleunigt. Zum Beispiel ist das Schildchen an der Ladentüre »Mittagspause« in den Städten so gut wie verschwunden. Ladenschlusszeiten werden in den Abend ausgeweitet, Samstagnachmittag ist im Handel längst normale Arbeitszeit und den Sonntag versucht die Wirtschaft auch schon zu kappen.
Die neuen Medien-Technologien - ursprünglich als Arbeitserleichterung angesehen - zwingen zur beschleunigten Erledigung von Aufträgen und zur permanenten Erreichbarkeit. Immer mehr Menschen arbeiten in die Nacht hinein, daheim und unterwegs, im Urlaub und am Wochenende. In den Zügen und auf Flughäfen werden die Laptops aufgeklappt, in den U-Bahnen läuten die Handys, über die man auch E-Mails empfangen kann. Und selbst vor dem Einschlafen wird noch über laufende Projekte nachgedacht.
Die Arbeitszeit hat sich über die Freizeit gestülpt. Die Freizeit wird immer mehr zur Fremdzeit. Deshalb ist ein neues gegensätzliches Begriffspaar aufgetaucht: Weltzeit und Eigenzeit, wobei schon die Griechen diesen verschiedenen Zeiterfahrungen eigene Götter zugeschrieben hatten: Chronos war der Gott der (linearen) Zeit, der seine Kinder verschlang und Kairos, der Gott der Qualität der Zeit und richtigen Augenblicks.
Heute ist mit der »Weltzeit« die den Menschen von außen verordnete Zeit gemeint, Arbeitszeit, Flugpläne, Theater, Kino- und TV-Programme und überhaupt alle Zeitstrukturen, die geordnete Abläufe rund um den Erdball organisieren. »Eigenzeit« hingegen ist individuell bewertete Zeit, über die der Mensch völlig frei verfügen kann; jener Zeitraum, in dem es nicht darum geht Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren, wie Jean Jacques Rousseau es formuliert hat. Doch handelt es sich nicht um eine unfreiwillige, von außer verordnete freie Zeit, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit. »Eigenzeit ist Zeitfreiheit - die Zeit, in der nichts geschieht, wenn es nicht selbst bestimmt geschieht«, so Medienphilosoph Norbert Bolz, der meint: »Dieser Horizontwechsel weg von der Zukunfts- und Freizeitorientierung hin zur Eigenzeit unterscheidet die heute dominierenden Generationen von allen früheren. »Auch die österreichische Soziologin Helga Nowotny setzt sich in ihrem Klassiker »Eigenzeit« mit der »Ich-Zeit aus der Perspektive des Individuums gesehen« auseinander und stellt Zusammenhänge zwischen den technologischen Möglichkeiten in der Kommunikationsgesellschaft und der sozialen Ungleichzeitigkeit her: Je mehr die zeitlichen und räumlichen Entfernungen schrumpfen,
so Novotny, desto größer werde die Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. »Soziale Ungleichheiten lassen sich in zeitliche Ungleichheiten übersetzen«, schreibt sie.
Leitwährung Zeit
»Neben Macht, Geld und Aufmerksamkeit wird Zeit zur neuen Leitwährung werden«, prophezeit auch die Trendforschung, und dementsprechend werde die Gesellschaft neu eingeteilt: in Gewinner, die genug Geld haben und es ausgeben um Zeit zu sparen und Verlierer, die viel Zeit investieren müssen um Geld zu sparen. Da muss man gar nicht unsere gesetzlich festgelegte 38-Stunden-Woche mit dem 12-Stunden-Tag einer chinesischen Näherin vergleichen, es genügt der unterschiedliche Umgang mit der Urlaubsplanung in nächster Nachbarschaft: Wer es sich »zeitlich leisten kann«, bucht seinen Flug nach Spanien in letzter Minute, wer weniger wohlhabend und zeitlich nicht ad hoc flexibel ist, sucht stundenlang im Internet nach dem billigsten Flug und muss sich oft Monate im Voraus auf einen Termin festlegen.
Der Fortschritt des Medienzeitalters treibe aber nicht nur die Dynamisierung der Zeit weiter, fürchtet der deutsche Kommunikationsexperte Peter Wippermann, der Staat werde auch die Oberhoheit über die Lebens-, Welt- und Arbeitszeit verlieren. Noch verwalte er die drei Bastionen: Die gesetzlich verankerte Schulzeit für Kinder und Ausbildungsmöglichkeiten für Jugendliche, die Arbeitszeitregelung für Erwachsene, die Umfang der Tätigkeiten, Feiertags- und Urlaubszeiten und das Ende der Erwerbszeit bestimmt, und die Pensionszeit mit gesetzlich geregelter Altersvorgabe.
Verzeitlichung des Wissens
Ohnehin könne sich bald jeder jederzeit vernetzen und ohne Anwesenheit erreichbar sein, deshalb wird auch nicht mehr abgegrenzte Zeitdisziplin für ArbeitnehmerInnen von Bedeutung sein, sondern deren Erreichbarkeit.
Somit werde es langfristig auch keine geregelte Arbeitszeit mehr geben, die soziale Sicherheit garantiert, prophezeit Trendforscher Wippermann. Die Zahl der jungen Arbeitnehmer wird schrumpfen und ältere Menschen werden aus der Pension zurückgeholt. Allerdings wird das Wissen der Frühpensionierten schon veraltet sein. Die »Verzeitlichung des Wissens« macht lebenslanges Lernen erforderlich. Auch die Vorstellung, durch Beschleunigung der Verkehrsmittel Zeit gewinnen zu können, klärt Wirtschaftspädagoge Karlheinz A. Geißler als Irrtum auf: »Wir sind jetzt nicht schneller an einem Ort, sondern bereisen mehr Orte in gleicher Zeit. »Er meint, die Menschen hätten nicht zu wenig Zeit, sondern zu viele Möglichkeiten.
Wo immer die Interpretationen hinführen, eines steht fest: Zeit wird zum Luxusartikel erster Güte und Eigenzeit zum unbezahlbaren Kapital der Bürger und Konsumenten von morgen.
Da klingt es gar nicht so abwegig, wenn Wissenschafter »Naturschutzparks der Zeit« einfordern und diese unökonomischen Zeitzonen auch beim Namen nennen: Der arbeitsfreie Sonntag, die Bildung, der Sport, die Zeit der Zwischenmenschlichkeit, Kinder und die Liebe. Umso nachdrücklicher warnt Soziologe Oskar Negt vor der »Verdrehung« der menschlichen Zeitmaße, die in Gang gekommen ist: »Alles hat seine Zeit«, heißt es bei Salomo, (Prediger Salomo Kohelet in einem der ältesten Kulturdokumente Anm.d.Red.) alles hat eine Zeit, legt der Mensch technisch zweckrationale Messlatte der Zeitmaße auf alle Lebensverhältnisse an.« Dies wirke sich negativ auf die Persönlichkeitsbildung aus, produziere angepasste Mitläufer und schade dem Gemeinwesen, denn: »Eine Demokratie lebt von innen geleiteten urteilsfähigen Menschen.«

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