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Foto | Paul Sturm Aus den 68ern wurden Alt-68er. Auf die Barrikaden zu steigen ist schon aus physischen Gründen nicht mehr so leicht.

Das dritte Leben

Schwerpunkt

Psychologe Heiko Ernst ruft die Achtundsechziger auf, an ihre Weltverbesserungsprojekte anzuknüpfen. Generativität ist sein Schlagwort.

ZUR PERSON:
Heiko Ernst: geboren 1948 in Rastatt/Baden, Studium der Psychologie in Heidelberg und in Kentucky/USA, wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem psychotherapeutischen Forschungsprojekt der Universität Heidelberg. Seit 1979 Chefredakteur von Psychologie heute. Publikationen: unter anderem »Gesund ist, was Spaß macht« (1992), »Die Weisheit des Körpers. Kräfte der Selbstheilung« (1994), »Psychotrends. Das Ich im 21. Jahrhundert« (1996), »Das gute Leben. Der ehrliche Weg zum Glück« (2003), »Wie uns der Teufel reitet. Die Aktualität der 7 Todsünden« (2006).

Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment« war die Parole, die man auf Partys skandierte und »Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin« auf der Straße. Die Generation der RevoluzzerInnen und BabyboomerInnen, der Jahrgänge zwischen 1946 und 1964, hatte einfach Glück: Sie war in Wohlstand aufgewachsen, unbelastet und daher frei für die Suche nach neuen Lebensstilen, Ideen, Werten und vor allem nach sich selbst. Mit den Autoritäten des Staates wurde gebrochen, ebenso wie mit der Elterngeneration. Für ein besseres, freieres demokratischeres Leben wurde gekämpft.

Nicht mehr auf die Barrikaden

Und jetzt? Aus den 68ern wurden Alt-68er. Auf die Barrikaden zu steigen ist schon aus physischen Gründen nicht mehr so leicht. »Wir wollen alles anders machen, wir wollen anders leben, sagten wir, aber wollen wir auch anders alt werden?« Diese Frage beschäftigt den deutschen Psychologen und Autor Heiko Ernst: »Wir nähern uns dem Alter, wo wir über das Alter nachdenken, darüber, wie wir nach dem Beruf unser ›drittes Leben‹, das ein Drittel unseres Lebens einnehmen wird, verleben werden, und welche Spuren und Erinnerungen wir hinterlassen wollen. Wir spüren die ersten körperlichen Einschränkungen und fragen uns, was wir versäumt haben.«
Mit der erwartbaren Lebensverlängerung von ca. zehn Jahren im Vergleich zu früher sieht der deutsche Psychologe eine neue Ära der Evolution heraufdämmern. Wir wissen aber nicht so recht, wie damit umgehen, meint er: Denn die Optionen, die sich vordergründig auftun, sind beschränkt: Wenn erste Spuren der Vergänglichkeit den Körper markieren, kann man sie mit »manischer Betriebsamkeit« bekämpfen, das Leben mit Diät, Fitness und Schönheitsoperationen ausfüllen, man kann die Welt bereisen, und dann? Oder aber, so Ernst: »Wir schöpfen aus der Vergangenheit, schärfen unseren Blick für die Gegenwart und zentrieren unsere Ambitionen auf die Zukunft. Nicht auf unsere. Auf die der Nachfolgegeneration und auf die Welt.«

Nachhaltigkeit durch Weitergeben

Auch wenn eine gegenläufige Entwicklung - eine fieberhafte Pseudoaktivität von der Wirtschaft bis zur Kultur - vorherrscht und die Devise lautet: »Nach uns die Sintflut«, so ist Ernst doch davon überzeugt, dass Altern Zukunft hat. Gerade die Lebensverlängerung, die wir in Aussicht haben, sei eine Chance, »neue Qualitäten an uns und in uns zu entdecken - wie Weisheit, Gelassenheit, Selbstdistanz, Sinngebung durch unverändert nötige Fürsorge für diejenigen, die nach uns kommen«, so Heiko Ernst. Mit seinem konstruktiven Ansatz in der Flut pessimistischer Weltsichten und -bilder rundherum möchte er daran erinnern, dass Fortpflanzung, Überleben und Weitergeben der Gene einen biologischen Daseinszweck erfüllen. Und er hat ein vergessenes, sperriges Wort aus dem Hut gezaubert, «Generativität« - die Weitergabe eigener Erfahrungen und Fertigkeiten an die nachfolgenden Generationen, ein Begriff, den Psychoanalytiker Erik Erikson 1950 in Zusammenhang mit der Entwicklungsdynamik der Phasen des menschlichen Lebens von der Geburt bis zum Tod geprägt hatte. Ernst, auch Chefredakteur von »Psychologie heute«, hat sich schon seit Jahren als Autor mit Konzepten der Entschleunigung, des gelingenden Lebens und Annäherungen an das Glück auseinandergesetzt. Sein in Deutschland viel diskutiertes jüngstes Buch »Weitergeben. Anstiftung zum generativen Leben« ist wohl auch ein Ergebnis davon. Jedenfalls sieht er in der Generativität, im kollektiven Schützen von Kultur und Natur vor dem »Furor der Beschleunigung und Zerstörung«, eine mögliche Schlüsseltugend des 21. Jahrhunderts. »Heute wird ständig von Nachhaltigkeit gesprochen, die brauchen wir aber auch auf der psychischen Ebene; wir müssen unsere Selbstentwicklung auf gemeinschaftliche, fürsorgliche, altruistisch orientierte Motive umpolen. Wir dürfen keine zugrunde gerichtete Welt hinterlassen«, erklärt Ernst und verweist auf den Status quo: »Milliardenschulden, Ressourcenverbrauch als ob es eine zweite Welt in Reserve gäbe und ein Wachstumsmodus, der unbedingt korrigiert werden muss.«

Suchen Sie sich ein Projekt

Konkret geht es beim generativen Handeln darum: sich Projekte zu suchen, MentorIn, Pate/Patin, TrainerIn zu sein. Und es gibt sie schon, die erfahrenen Fachleute, die in der dritten Welt als SeniorexpertInnen arbeiten, allein lebende Männer, die dem türkischen Kind des Nachbarn bei der Hausaufgabe helfen, oder Lehrerinnen, die Junglehrer in ihrer Arbeit unterstützen.
Natürlich tun sich bürgerliche BesserverdienerInnen leichter. Auch steht es jedem zu, eine Pause zu machen, vor allem, wenn jemand lebenslang sehr hart gearbeitet hat, um die Familie durchzubringen, und natürlich ist nicht jeder gleichermaßen befähigt etwas zu geben, sei es materiell, an Kraft oder an Engagement. Trotzdem ist Ernst davon überzeugt, dass sich in jeder Bevölkerungsgruppe Menschen finden, die sich für eine Sache leidenschaftlich hineinknien - jenseits vom Job. Und dass man nicht früh genug damit beginnen könne, mit dem Entschleunigen, dem Innehalten am Höhepunkt des Lebens und sich ein Portfolio der Möglichkeiten zuzulegen. Im eigenen Interesse: »Da arbeiten und sparen wir aufs Alter hin, sind dann zu kaputt, um das Leben noch zu genießen. Und enden in Altersverzweiflung und Resignation.«
Außerdem dreht sich das Rad der Zeit immer schneller. Im fortschreitenden Jugendwahn gekoppelt mit der Wirtschaftskrise, die in Europa Hunderttausende Arbeitslose produziert, zählen bald schon 40-Jährige zum alten Eisen. Ernst: »Wenn der Rausschmiss droht, und der Beruf 99 Prozent der Existenz ausfüllt, ist das eine Katastrophe.«
Dabei müsste schon aus demografischen Gründen bei vielen Unternehmen die Einsicht wachsen, dass ältere ArbeitnehmerInnen notwendig werden. Auch zeigt es sich, dass »intergenerationelle Firmen« besser aufgestellt sind als andere, sieht Ernst für Ältere eine gute Chance sich einzubringen. In Krisenzeiten sowieso: »Die Belastungsfähigkeit der Jungen ist nicht unendlich. Gerade jetzt wären Firmen mit älteren ArbeitnehmerInnen gut beraten - die sind nämlich krisenerfahren.« Überhaupt ist für ihn die Bankenkrise symptomatisch für einen Mangel an Reife und Bedächtigkeit: »Der Casinokapitalismus hat von den jungen Testosteron-aufgeladenen Zockern gelebt.«

Für immer jung?

Weitergeben, was wir wissen, was wir können, für die nächste Generationen ein Haus bauen, symbolisch, versuchen die Welt so einzurichten, dass sie wohnlicher ist als wir sie betreten haben, das klingt altruistisch, aber eine Portion Egoismus ist auch dabei: Sich einen tieferen Sinn fürs längere Leben anzueignen, verhindert den psychischen Absturz, denn Altern bedeutet nicht nur Abbau des Körpers, sondern auch einen Prozess der Seele. Sich fit halten ohne Einsicht, so Ernst, sei eine Art »regressiver Widerstand, der eher aus Angst vor dem Sterben als aus der Bejahung des Lebens entsteht«. Tatsächlich erzeuge dies den gegenteiligen Effekt. Gerade der verbissene Kampf gegen körperlichen und geistigen Verfall beschwöre diesen herauf. Angst vor Krankheit und Depression würden zum Begleiter derjenigen, die seit ihrer Jungend nie aus den Jeans herausgekommen sind und ewig jung bleiben wollen.
Die Idee, die Achtundsechziger beim Wort zu nehmen ist vielleicht wirklich eine Chance für die Welt: Um die Welt zu verbessern, haben sie sich das Revoltieren als Kulturtechnik angeeignet. Jetzt ließe sich dieses Instrumentarium generativ einsetzen. Immerhin stammt einer der erfolgreichsten Beatles-Songs aus dieser Zeit: »When I´m sixty-four«.

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