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Die polnischen Gewerkschaften stehen vor der schwierigen Aufgabe, den Teufelskreis aus dem unter den ArbeitnehmerInnen weit verbreiteten Gefühl der Machtlosigkeit und der Gewerkschaftsschwäche zu durchbrechen.

Die Mühen der Ebene

Internationales

Polens Gewerkschaften haben seit den Hochzeiten der Sodlidarnosc Anfang der1980er viel Einfluss verloren. Jetzt gilt es gegenzusteuern.

Die Gewerkschaft »Solidarität« (poln. Solidarnosc) stand 1980/81 an der Spitze einer Volksbewegung für bessere Lebensbedingungen und politische Freiheiten, die das kommunistische Regime in Polen an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Und 1989 übte die Solidarität maßgeblichen Einfluss aus auf den friedlichen, am runden Tisch ausgehandelten Übergang Polens von einem totalitären Ein-Parteien-Staat mit planwirtschaftlicher, staatssozialistischer Wirtschaftsordnung zu einem liberal-demokratischen Rechtsstaat mit marktwirtschaftlicher, privatunternehmerischer Wirtschaftsordnung. Mittlerweile haben die polnischen Gewerkschaften viel Einfluss und Gestaltungskraft eingebüßt.
Im Rückblick wird deutlich, dass der Niedergang der Gewerkschaften in den 1990er-Jahren in erster Linie eine Folge des kommunistischen Erbes und der davon beeinflussten Gewerkschaftsziele und -strategien war.
Konsequenz der alten Ordnung
Der Verfall des Produktionssystems erwies sich als besonders nachteilige Konsequenz der alten Wirtschaftsordnung. Dieser Verfall war zugleich Ursache und Wirkung der tiefen Krise der polnischen Volkswirtschaft in den 1970er-Jahren. Er resultierte aus der Betonung von Quantität statt Qualität, aus der Missachtung qualifizierter Arbeit, fehlenden Leistungsanreizen und den organisatorischen Mängeln der Planwirtschaft.
1980: »Solidarnosc«
Besonders hoch war die Unzufriedenheit über diesen Verfall unter den FacharbeiterInnen und den technischen Angestellten. Sie gründeten 1980 die unabhängige Gewerkschaft Solidarität. Eines ihrer wirtschaftspolitischen Hauptziele bildete die Wiederherstellung der Würde der Arbeit. Die Wertschätzung qualifizierter Arbeitskräfte wurde als notwendige Voraussetzung für die Produktion hochwertiger Güter für die Weltmärkte gesehen. Als Mittel zur Verwirklichung dieses Zieles zeichneten sich Ende der 1980er-Jahre die Einführung der Marktwirtschaft und die Privatisierung der staatlichen Unternehmen ab. Diese grundlegende Reform würde, so die Erwartungen an der Spitze der Solidarität, die Reorganisation und Straffung der Arbeitsabläufe und die Einführung von leistungsbezogenen Löhnen zur Folge haben, kurzum: die Betriebe wieder zu Stätten der Produktion hochwertiger Sachgüter und Dienstleistungen machen. Das Bild, das die Führung der Solidarität vom modernen Kapitalismus hatte, war also ein idealisiertes. Gewerkschaften wären in der privat- und marktwirtschaftlichen Ordnung nicht mehr notwendig. Während des Umbruchs 1989/90 und danach befürwortete die Solidarität aus den genannten Gründen radikale Marktreformen und Privatisierung. Weiters forderte die Gewerkschaft - nach den schlechten Erfahrungen mit der zentralisierten Lohnfestsetzung der kommunistischen Ära - eine Dezentralisierung der Lohnverhandlungen auf die Betriebsebene.
1990: Präsident Walesa
Lech Walesa wurde 1990 zum ersten Präsidenten der »Dritten Republik« gewählt, und politische Parteien, die aus der Solidarnosc hervorgingen, bestimmten in den 1990er-Jahren die Politik. Diese Koalitionsregierungen vollzogen den Übergang in die Marktwirtschaft und die Privatisierung. In politischer Hinsicht war die Solidarität also ungemein erfolgreich. Ganz anders sah es für die Gewerkschaft Solidarität, ja für die Gewerkschaftsbewegung insgesamt aus.
Zwischen der aus FacharbeiterInnen und technischen Angestellten bestehenden Spitze der Solidarität und der Masse der unqualifizierten Mitglieder tat sich rasch ein schwerwiegender Interessenkonflikt auf: Hunderttausende Arbeitskräfte verloren als Folge der Privatisierungen ihren Arbeitsplatz. Die Gewerkschaftsführung verteidigte damals nicht etwa ihre Mitglieder gegen Entlassungen, sondern erklärte ihnen die Notwendigkeit radikaler Reformen.
Entsprechend ihrer Erwartung, dass Gewerkschaften in einer privatunternehmerischen Marktwirtschaft bald nicht mehr erforderlich sein würden, gab die Solidarität den politischen Aktivitäten Priorität gegenüber den eigentlichen gewerkschaftlichen Aufgaben in den Betrieben. Die Mehrheit der ArbeitnehmerInnen gab in Umfragen an, dass niemand ihre Interessen vertrete.
Das alles schlug auf die Gewerkschaften zurück: Die Arbeitslosenrate stieg rasch über die Zehn Prozent-Marke und lag zu Beginn des laufenden Jahrzehnts bei rd. 15 Prozent. Infolge der Stilllegung unprofitabler Betriebe und von Rationalisierungen sank die Beschäftigung in der Sachgüterproduktion besonders stark. Viele Privatunternehmen ließen gewerkschaftliche Aktivitäten in ihren Betrieben nicht zu. Der gesamtwirtschaftliche kollektivvertragliche Deckungsgrad sank auf 35 Prozent. Kollektivvertragliche Bestimmungen und arbeitsgesetzliche Regelungen wurden häufig missachtet.
Enttäuscht vom Kapitalismus
Der real existierende Kapitalismus entsprach nicht den Erwartungen der Spitze der Solidarität. Faire Löhne und anständige Arbeitsbedingungen sowie die Einhaltung der arbeitsrechtlichen Regelungen sind im wilden polnischen Kapitalismus keine Selbstverständlichkeit. Die Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften nahm stark zu und viele ArbeitnehmerInnen sahen keinen Sinn mehr darin, einer Gewerkschaft beizutreten oder weiter Mitgliedsbeitrag zu zahlen.
Die Zahl der Mitglieder der Gewerkschaft Solidarität fiel 2006 von 3 bis 3,5 Mio. 1991 auf 750.000, jene des zweiten großen Dachverbandes, der OPZZ 2006, von 2 bis 2,5 Mio. 1991 auf 600.000. Der gesamtwirtschaftliche gewerkschaftliche Organisationsgrad verringerte sich 2006 von 28 Prozent 1991 auf 14 Prozent.
Polens Gewerkschaften beschlossen zu Anfang dieses Jahrzehnts einen Kurswechsel: Sie wandelten sich von Unterstützerinnen radikaler marktwirtschaftlicher Reformen zu Organisationen zum Schutz der Beschäftigten. Damit näherte sich das Selbstverständnis der Gewerkschaften jenem der Schwesterorganisationen in Westeuropa an.
Im dritten Jahrtausend
Die polnischen Gewerkschaften stehen vor der schwierigen Aufgabe, den Teufelskreis aus dem unter den ArbeitnehmerInnen weit verbreiteten Gefühl der Machtlosigkeit und der Gewerkschaftsschwäche zu durchbrechen. Der Mitgliederwerbung wird seit einigen Jahren große Aufmerksamkeit geschenkt.
Im Mittelpunkt der gewerkschaftlichen Strategie stehen nun die eigentlichen gewerkschaftlichen Aufgaben in den Betrieben. Das, was für die Gewerkschaften in den westeuropäischen Ländern seit Jahrzehnten das tägliche Geschäft ist, mussten die polnischen Gewerkschaften erst - unter sehr ungünstigen Umständen - lernen: sich unter den Bedingungen der neuen Wirtschafts- und Rechtsordnung mit allen legalen Mitteln zur Wehr zu setzen.
Dabei erweisen sich die zwischengewerkschaftlichen Kontakte innerhalb der EU, der Polen seit 2004 angehört, und die EU-Regeln bezüglich der Arbeitsbeziehungen als überaus hilfreich. Kontakte zu westeuropäischen Gewerkschaften in Euro-Betriebsräten ermöglichen den polnischen KollegInnen wichtige Lernerfahrungen. Und im April 2006 beschloss das Parlament in Warschau ein Gesetz, welches die EU-Richtlinie über Information und Konsultation von Beschäftigten umsetzt. Gemäß diesem Gesetz ist in allen privaten Unternehmen mit 50 oder mehr Beschäftigten ein Betriebsrat eingerichtet worden. In jenen Unternehmen, wo repräsentative Gewerkschaften bestehen, werden die Mitglieder des Betriebsrats von den Gewerkschaften ernannt. Diese Regelung stellt zweifellos einen starken Anreiz für Aktivisten dar, einer Gewerkschaft beizutreten oder eine solche zu gründen.
Neue Wirtschaftsordnung
Die Gewerkschaft Solidarität hat in den 1980er-Jahren einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das totalitäre sowjetische Imperium in Osteuropa zu Fall zu bringen. Nun liegen vor den polnischen Gewerkschaften die Mühen der Ebene in der neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

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Mehr Infos  unter:
http://de.wikipedia.org/wiki/Polen


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