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Kampfansage des EuGH Die Entscheidungen des EuGH sind in der juristischen Fachliteratur zu Recht auf massive Kritik gestoßen.
Aus dem EU-Reformvertrag

Kampfansage des EuGH

Wirtschaft & Arbeitsmarkt

Der Europäische Gerichtshof stellt mit einigen Entscheidungen gewerkschaftliche Grundrechte in Frage, kritisiert Arbeitsrechtsexperte Josef Cerny.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg ist das Recht sprechende Organ der Europäischen Gemeinschaften. Seine Aufgabe ist es vor allem, die einheitliche Auslegung des europäischen Rechts zu gewährleisten. In seiner umfangreichen Entscheidungstätigkeit ist der EuGH dieser Aufgabe bisher im Großen und Ganzen gerecht geworden. In manchen Bereichen ist die Spruchpraxis des Gerichtshofs sogar als durchaus fortschrittlich zu bezeichnen, so etwa bei der Anwendung des Grundsatzes »Gleiches Entgelt für gleiche Arbeit« wie überhaupt in Fragen der Gleichbehandlung der Geschlechter oder hinsichtlich der Informationsrechte bei der Errichtung Europäischer Betriebsräte.

Der Fall Viking Line

Umso mehr muss es überraschen, dass der EuGH in letzter Zeit eine Reihe von Entscheidungen gefällt hat, durch die gewerkschaftliche Grundrechte, wie das Recht auf kollektivvertragliche Mindestlöhne oder die Streikfreiheit, massiv eingeschränkt werden. Bei den ArbeitnehmerInnen werden diese Entscheidungen die ohnehin bereits weit verbreitete Skepsis gegenüber der EU weiter verstärken. Für die Gewerkschaften bedeuten sie eine Kampfansage. Die finnische Reederei »Viking Line«, deren Schiffe zwischen Skandinavien und den Baltischen Staaten verkehren, plante, eines ihrer Fährschiffe unter estnischer Flagge fahren zu lassen. Das hätte es dem Unternehmen ermöglicht, die finnische Besatzung durch Seeleute aus Estland zu ersetzen, die nach einem weit schlechteren Kollektivvertrag entlohnt werden sollten. Dagegen protestierten die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) und die Finnische Seeleutegewerkschaft (FSU) und kündigten Kampfmaßnahmen an. Viking Line klagte die Gewerkschaften auf Unterlassung und berief sich dabei insbesondere auf die Niederlassungsfreiheit nach Artikel 43 des EG-Vertrags.

Der EuGH, der sich in seiner bisherigen Judikatur in der Frage des Verhältnisses der Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu den Grundrechten äußerste Zurückhaltung auferlegt hatte, ging erstmals von dieser Judikaturlinie ab und traf eine Entscheidung (EuGH 11.12.2007, Rs C-438/05) von weit tragender Bedeutung. Erstmals stellte der Gerichtshof fest, dass kollektive Maßnahmen von Gewerkschaften am Maßstab der Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu messen sind, und dass sich auch Private - hier also der Arbeitgeber - auf diese Grundfreiheiten berufen können. Der EuGH anerkennt zwar, dass kollektive Maßnahmen (z. B. Streiks oder andere Formen des Arbeitskampfes) sowie Verhandlungen und der Abschluss von Tarif (=Kollektiv-)Verträgen zu den wichtigsten Mitteln der Gewerkschaften gehören, um die Interessen ihrer Mitglieder zu schützen, er kommt aber trotzdem in diesem Fall zum Ergebnis, dass die kollektiven Maßnahmen der ITF und der FSU die Niederlassungsfreiheit (in Form der Umflaggung von finnischen Schiffen auf Estland) beschränkt hätten.

Der Fall Vaxholm/Laval

Kurz nach der Entscheidung im Viking-Fall traf der EuGH eine weitere Entscheidung, die gewerkschaftliche Grundpositionen schwer erschüttert: Die lettische Baufirma Laval hatte von der schwedischen Gemeinde Vaxholm nach einer öffentlichen Ausschreibung den Auftrag bekommen, Bauarbeiten zur Renovierung eines Schulgebäudes durchzuführen. Als bekannt wurde, dass Laval seinen Beschäftigten extrem niedrige Löhne zahlte, blockierten schwedische GewerkschafterInnen die Baustelle und verlangten, dass das lettische Unternehmen seinen Bauarbeitern den in Schweden festgelegten Mindestlohn am Bau zu zahlen habe.

Der EuGH entschied (EuGH 18.12.2007, Rs C-341/05), dass Gewerkschaften zwar prinzipiell auch Baustellen blockieren dürften, um Mindestregeln für entsendete ArbeitnehmerInnen durchzusetzen, sie dürften aber durch Arbeitskampfmaßnahmen keine Bestimmungen erzwingen, die über das nationale Recht hinausgehen. Da es in Schweden keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, erklärte der Gerichtshof die Blockade in Vaxholm für »unverhältnismäßig«. Die Maßnahmen der Gewerkschaft seien mit der »Entsende-Richtlinie« (RL 96/71/EG) und der durch das Gemeinschaftsrecht garantierten Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar.

Im Ergebnis bedeutet die Entscheidung des EuGH die Anwendung des von den Gewerkschaften in der Diskussion um eine Europäische Dienstleistungs-Richtlinie (RL des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt) vehement bekämpften »Herkunftslandsprinzips«.

Der Fall Rüffert

Ähnlich beim am 3. April 2008 vom EuGH entschiedenen Fall Dirk Rüffert: Zum Bau einer Justizvollzugsanstalt führte das deutsche Bundesland Niedersachsen eine öffentliche Ausschreibung durch, in welcher das (deutsche) Bauunternehmen »Objekt und Bauregie« den Zuschlag erhielt. Das Niedersächsische Landesvergabegesetz sieht vor, dass öffentliche Bauaufträge nur an Unternehmen vergeben werden dürfen, die sich schriftlich dazu verpflichten, den Beschäftigten mindestens das tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu bezahlen (»Tariftreueerklärung«). Diese Verpflichtung muss auch SubunternehmerInnen auferlegt und die Einhaltung überwacht werden. Das deutsche Unternehmen, das den Auftrag bekam, gab zwar eine entsprechende Erklärung ab, setzte aber dann für die Durchführung der Bauarbeiten einen polnischen Subunternehmer ein, der seinen 53 Arbeitern nicht einmal die Hälfte des tarifvertraglichen Lohnes bezahlte. Daher kündigte das Land Niedersachsen den Werkvertrag mit dem deutschen Bauunternehmen und forderte die Zahlung einer Vertragsstrafe von ca. 85.000 Euro, rund ein Prozent der Auftragssumme, ein. Der EuGH hat entschieden, dass die niedersächsische Tariftreueklausel gegen die EU-Entsenderichtlinie verstößt.

Fazit: Wie schon vorher durch die Entscheidungen in den Fällen Viking und Vaxholm/Laval öffnet auch diese Entscheidung des EuGH das Tor für massives Lohndumping, in diesem Fall durch Weitergabe des Auftrags an einen ausländischen Subunternehmer. Der EuGH geht hier aber noch einen entscheidenden Schritt weiter in der Beschränkung von ArbeitnehmerInnenrechten. Er nimmt öffentlichen Institutionen bei der Vergabe von Aufträgen, die aus Steuergeldern bezahlt werden, die Möglichkeit, für die Zahlung angemessener Löhne zu sorgen. In niedrigen Lohnkosten sieht der EuGH einen Wettbewerbsvorteil, der Unternehmen aus »Niedriglohnländern« nicht genommen werden dürfe.

Der (vorläufig?) letzte Fall einer aus Sicht der Arbeitnehmerinteressen problematischen Entscheidung des EuGH betrifft ein »Vertragsverletzungsverfahren«, das die Europäische Kommission gegen das Land Luxemburg angestrengt hatte. Mit Entscheidung vom 19. Juni 2008 (Rs C-319/06) gab der EuGH dem Standpunkt der Kommission Recht und stellte fest, dass Luxemburg durch zu strenge Regelungen für Unternehmen, die Arbeitskräfte dorthin zur Dienstleistungserbringung entsenden, gegen seine Verpflichtungen aus der Entsenderichtlinie im Zusammenhang mit den Bestimmungen über freien Dienstleistungsverkehr (Art. 49 EG-Vertrag) verstoßen habe.

Der Versuch des Staates Luxemburg, seinen Arbeitsmarkt und die ArbeitnehmerInnen durch bestimmte, über den Mindeststandard der Entsenderichtlinie hinausgehende arbeitsrechtliche Regelungen zu schützen, wurde also vom EuGH unterbunden. Unternehmerfreiheit geht vor ArbeitnehmerInnenrechten - Liberalismus pur, und nicht einmal »Neo-«, sondern alt wie im 19. Jahrhundert!

Marktfreiheit über alles?

Es soll hier nicht versucht werden, die Entscheidungen des EuGH einer detaillierten juristisch-fachlichen Kritik zu unterziehen. Dazu nur so viel: Bei der Auslegung von Rechtsnormen des europäischen Gemeinschaftsrechts gibt es einige Besonderheiten, die dem EuGH in vielen Fällen einen relativ weiten Entscheidungsspielraum eröffnen. Bei sachgerechter Anwendung dieser Auslegungsmethoden hätte der EuGH in einigen der angeführten Fälle zu einem anderen, den ArbeitnehmerInnenrechten eher entsprechenden Ergebnis kommen können, ja sogar kommen müssen. Die EuGH-RichterInnen hätten eine sorgfältige Abwägung zwischen den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarkts und den sozialen Grundrechten der ArbeitnehmerInnen und ihrer Interessenvertretungen vornehmen müssen, wobei wirtschaftliche und soziale Aspekte gleichrangig zu berücksichtigen gewesen wären. Stattdessen haben sie in allen Fällen die wirtschaftliche Freiheit der Unternehmen eindeutig höher bewertet als die sozialen Rechte der ArbeitnehmerInnen und ihrer Interessenvertretungen. Die zum Teil widersprüchliche und auch konstruiert wirkende Argumentation des EuGH erweckt den Eindruck, dass zuerst ein Ergebnis gesucht und dann die entsprechende Begründung dafür gefunden wurde.

Die Entscheidungen des EuGH sind in der juristischen Fachliteratur zu Recht auf massive Kritik gestoßen. Die Gewerkschaften, vor allem jene in den von den Entscheidungen betroffenen Ländern, haben mit vehementer Ablehnung und der Forderung nach politischen Konsequenzen reagiert. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hatte schon im März 2008 (noch vor der Entscheidung im Fall Rüffert) eine Entschließung verabschiedet, in der es heißt: »Unsere Grundrechte sind somit in Gefahr und im Allgemeinen auch die Unabhängigkeit der Gewerkschaften«, und weiter: »Dieser Zustand ist für den EGB und seine Mitglieder untragbar, und wir müssen Maßnahmen ergreifen, um den entstandenen Schaden zu beheben.«

Mit der Kritik am Inhalt der Entscheidungen wird auch die Diskussion über die Zusammensetzung des EuGH und die Bestellung der RichterInnen neu belebt. Aus jedem Mitgliedsstaat der EU kommt eine Richterin, ein Richter an den EuGH (Art. 221 EG-Vertrag). Diese Personen müssen unabhängig sein und die in ihrem Land für eine Tätigkeit am höchsten Gericht erforderliche Qualifikation aufweisen oder von »anerkannt hervorragender Befähigung« sein. Alle drei Jahre wird die Hälfte der RichterInnen von den Regierungen neu ernannt. Sie bleiben jeweils sechs Jahre im Amt, wobei eine Wiederernennung möglich ist (Art. 223 EG-Vertrag). Diesem System wird mangelnde demokratische Legitimation vorgeworfen. Dazu kommt, dass Entscheidungen des EuGH oftmals durch eine überaus komplizierte Diktion gekennzeichnet sind, die auch im Europarecht spezialisierten JuristInnen mitunter Mühe bereitet, sie in allgemein verständliche Aussagen zu »übersetzen«.

Auswirkungen auf Österreich?

In Österreich haben die Entscheidungen des EuGH trotz ihrer sozialpolitischen Brisanz erstaunlich wenig Resonanz gefunden. Vielleicht weil angenommen wird, dass sie wegen der in wesentlichen Punkten anderen innerstaatlichen Rechtslage keine unmittelbaren Auswirkungen auf unser Land haben. Vordergründig trifft das auch zu: Das im österreichischen Arbeitsverfassungsgesetz geregelte KV-System geht - im Gegensatz zum deutschen Tarifvertragsrecht - vom Grundsatz der »Außenseiterwirkung« der Kollektivverträge aus. Nach § 12 ArbVG treten die Rechtswirkungen des KV auch für jene ArbeitnehmerInnen ein, die nicht Mitglied der kollektivvertragschließenden Gewerkschaft sind. Auf Arbeitgeberseite werden Kollektivverträge in der Regel von der Wirtschaftskammer abgeschlossen, der alle UnternehmerInnen der betreffenden Branche angehören (»Pflichtmitgliedschaft«). Ausländische Unternehmen haben bei Entsendungen nach Österreich das am Arbeitsort einschlägige Entgelt zu leisten (§ 7b Abs. 1 Z. 1 AVRAG). Damit entspricht das österreichische Arbeitsrecht auch dem System der EU-Entsenderichtlinie, und Entscheidungen wie in den Fällen Vaxholm/Laval oder Rüffert wären daher in Bezug auf Österreich kaum möglich. Die politische Signalwirkung, die von den EuGH-Entscheidungen ausgeht, darf aber auch hier nicht übersehen werden. Der darin zum Ausdruck kommende Vorrang wirtschaftlicher vor sozialen Überlegungen bestätigt die Auffassung, dass es sich bei der immer wieder gerne beschworenen »sozialen Dimension« der EU um eine Leerformel handelt.

Die Gewerkschaftsbewegung und mit ihr alle PolitikerInnen, die ihr Bekenntnis zu einem »sozialen Europa« ernst meinen, können nach diesen EuGH-Entscheidungen, die grundlegende ArbeitnehmerInnenrechte in Frage stellen, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Die Politik ist gefordert, Maßnahmen zu treffen, um Lohn- und Sozialdumping in Europa wirksam zu verhindern. Dazu gehört zunächst eine entsprechende Revision und Änderung der einschlägigen EU-Richtlinien, insbesondere der Entsenderichtlinie. Darüber hinaus könnte die Aufnahme einer »Klausel für den sozialen Fortschritt« in den EU-Reformvertrag, wie vom EGB vorgeschlagen wurde, die Entscheidungspraxis des EuGH in Richtung der Beachtung grundlegender ArbeitnehmerInnenrechte positiv beeinflussen. Abzuwarten bleibt, ob mit dem Wirksamwerden der Grundrechtecharta nach Maßgabe des Vertrags von Lissabon auch eine stärkere Gewichtung der sozialen Grundrechte in die Judikatur des EuGH Eingang finden wird. Entscheidend ist nicht, was an sozialen Grundrechten auf dem Papier steht, sondern ob und wie diese Grundrechte in die Realität umgesetzt werden.

Für ein soziales Europa

Das große Projekt eines gemeinsamen friedlichen Europas wird nur dann Zukunft haben, wenn es ein »soziales Europa« gibt, das von den Menschen auch tatsächlich so erlebt werden kann. Darauf sollten sich auch die RichterInnen beim Europäischen Gerichtshof besinnen.

Weblinks
Weitere  Beiträge zum Thema vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut
www.etui-rehs.org/en/Headline-issues/Viking-Laval-Rueffert

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