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Ungerechtigkeiten oder Mobbing gab es immer schon - doch es gab früher auch Solidarität unter den Beschäftigten. Dazu kommt besonders in Krisenzeiten die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. Ungerechtigkeiten oder Mobbing gab es immer schon - doch es gab früher auch Solidarität unter den Beschäftigten. Dazu kommt besonders in Krisenzeiten die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust.

Kollateralschaden

Schwerpunkt

Die Selbstmorde bei France Telecom beschäftigen Gewerkschaften, Unternehmenschefs, MinisterInnen und Fachleute.

An etwas zu glauben, was es in Wahrheit nicht gebe, nenne man in der Psychiatrie einen Wahn«, sagt der französische Statistiker Rene Padieu in einem Kommentar in der katholischen Zeitung »La Croix«. Padieus Berechnungen zufolge liegt die Selbstmordrate der Beschäftigten des französischen Telekommunikationsriesen France Telecom nämlich nicht über dem statistischen Durchschnitt von knapp 20 Selbstmorden pro 100.000 aktiven Beschäftigten - im Gegenteil, sie liege sogar knapp darunter. 24 Suizide in 19 Monaten bei einem Unternehmen mit 100.000 MitarbeiterInnen, das mache ja nur 15 pro Jahr, rechnet Padieu nach. Man könne daher von keiner Selbstmordwelle reden, offenbar ließen sich hier alle von einem Wahn erfassen, »die Beschäftigten, Geschäftsführung, Minister, Gewerkschaft, Journalisten, Kommentatoren, Sie und ich.«

Wachsendes Entsetzen

Während der Statistiker emotionslos Zahlen aneinanderreiht, verfolgen in Frankreich die Öffentlichkeit und die Gewerkschaften seit Monaten mit wachsendem Entsetzen die Selbsttötungen der MitarbeiterInnen des Telecom-Konzerns mit. Die Selbstmordserie hatte zuletzt sogar die Regierung in Paris auf den Plan gerufen, die ein Viertel der Unternehmensaktien des früheren Staatsunternehmens hält. Die französischen Gewerkschaften gehen davon aus, dass ein Teil der Selbstmorde und Selbstmordversuche direkt auf die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und den 2006 eingeleiteten Konzernumbau mit Zehntausenden Entlassungen und Versetzungen zurückzuführen ist. So sieht das Programm »time to move« schnellen Stellenwechsel vor, bei dem MitarbeiterInnen auf beliebige - und oft degradierende - Posten versetzt werden können. In den vergangenen Jahren hatte der Konzern außerdem 22.000 Stellen gestrichen.
Auf einen Zusammenhang zwischen den Suiziden und einer menschenfeindlichen Unternehmensführung weist auch der Inhalt von Abschiedsbriefen hin. »Der einzige Grund ist die Arbeit«, begründet ein Techniker im Juli in seinem Abschiedsbrief seinen Freitod, »der permanente Druck, die Überlastung, die fehlende Weiterbildung, die Desorganisation und das Management mit dem Terror.« Anfang September stößt sich während einer dienstlichen Sitzung ein Mitarbeiter in Troyes ein Messer in den Bauch. Er überlebt und erklärt später im Krankenhaus, dass er seine zwangsweise Versetzung nicht ertragen habe. Ende September wirft sich ein 51-jähriger Mitarbeiter auf eine Autobahn nahe Annecy. »Leiden am Arbeitsplatz«, formuliert er es in seinem Abschiedsbrief.
Nur eine Woche, nachdem der Statistiker Padieu den Franzosen versichert hatte, dass hier alles seine mathematische Richtigkeit habe, versuchte neuerlich ein 32-jähriger Angestellter in einem France-Telecom-Callcenter in Paris, sich während der Arbeit das Leben zu nehmen und nahm eine Überdosis Medikamente. Er hatte Glück, denn er wurde von Kollegen gerettet und ins Krankenhaus gebracht.
Anfang Oktober protestierten die Beschäftigten des Unternehmens schließlich mittels Streik. Konzernchef Didier Lombard wurde daraufhin ins Ministerium zitiert. Wirtschaftsministerin Christine Lagarde forderte ihn und die gesamte Unternehmenführung nachdrücklich auf, behutsamer mit den MitarbeiterInnen umzugehen. Der für seinen harten Sparkurs bekannte Vizechef des Unternehmens, Louis-Pierre Wenes, wurde auf Druck der Gewerkschaften entlassen.

»Nicht flexibel genug«

Wenes galt als Urheber der unpopulären Maßnahmen zum Konzernumbau. Er war federführend beim Abbau der 22.000 Stellen. Als er öffentlich sagte, die Selbstmorde beträfen nur eine Handvoll Leute, die nicht flexibel gewesen seien, war er ins Kreuzfeuer der Kritik geraten.
Didier Lombard gestand schließlich Fehler seitens der Konzernleitung ein. Er habe »wahrscheinlich bestimmten Anzeichen für die Stimmung und Lage der Beschäftigten nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt«, sagte Lombard in einem Interview. Im laufenden Konzernumbau sei »eine gewisse Zahl menschlicher Faktoren unterschätzt worden«. Um das Unternehmen leistungsfähiger zu machen, habe das Management »zu schnell große Veränderungen« durchsetzen wollen.
Die Selbstmord-Serie könnte dem Konzern nun aber teuer zu stehen kommen: Der ehemalige Staatsmonopolist erklärte bei der Vorlage seiner Geschäftszahlen Ende Oktober, die Bemühungen zur Entspannung der Situation könnten mit bis zu einer Milliarde Euro zu Buche schlagen. Auf Druck von Gewerkschaften und Öffentlichkeit seien die Restrukturierungsmaßnahmen nun auf Eis gelegt worden.

Fragebögen an die Beschäftigten

Konzern-Chef Lombard willigt schließlich auch in die von der Gewerkschaft geforderten »Stressverhandlungen« ein. Als erste Maßnahme wurden Fragebögen an alle Beschäftigten versandt. Die MitarbeiterInnen erhielten einen Multiple-Choice-Bogen mit 160 Punkten, darunter: »Ich werde an meinem Arbeitsplatz ungerecht behandelt.« »Bei der Arbeit werde ich ausgebeutet.« »In den sieben letzten Tagen stand ich kurz vor den Tränen.« Schon am ersten Tag beantworten 25.000 Personen den Fragebogen.
Dem Psychiater Christophe Dejours ist das zu wenig. »160 Fragen, wozu ist das gut, was macht man damit?«, fragt der Fachmann, der ein Buch zum Thema Arbeit und Selbstmord geschrieben hat. Der Fragebogen sei vor allem ein Zeichen der Kommunikation nach außen. Die Auswertung der Daten werde nichts bringen, »wir haben schon die Selbstmorde, das reicht«.
Für den Psychiater Dejours liegt die Hauptursache für die Suizide am Arbeitplatz in einer deutlichen Verschlechterung des alltäglichen Zusammenlebens. Ungerechtigkeiten oder Mobbing gab es immer schon - doch es gab früher auch Solidarität unter den Beschäftigten. Dazu kommt besonders in Krisenzeiten die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. KollegInnen können vor diesem Hintergrund gegeneinander ausgespielt werden und das Zusammenleben wird vergiftet, analysiert Dejours. Vor allem die Führungskräfte werden immer mehr zu Einzelkämpfern um Geld und Karriere, das Miteinander bleibt auf der Strecke.
Dejours forscht seit mehreren Jahren über das Thema Selbstmord am Arbeitsplatz. Während sich früher Menschen zumeist bei sich zu Hause das Leben nahmen, beobachtet er seit knapp zehn Jahren eine Zunahme der Suizide am Arbeitsplatz, oft direkt vor den Augen der KollegInnen. Dejours plädiert für einen anderen Umgang mit dem Phänomen: Einen Selbstmord nachher zu verschweigen oder zu verleugnen sei die schlechteste Strategie. Es müsse vielmehr alle KollegInnen und Vorgesetzen die Möglichkeit gegeben werden, offen über den Tod zu sprechen, sei es mit ArbeitsmedizinerInnen, TherapeutInnen oder anderen professionellen HelferInnen. Schweigen schafft Schuldgefühle und diese - im schlimmsten Fall - weitere Suizide.
Nicht nur die Beschäftigten des Telecom-Konzerns leiden. Gleichzeitig mit France Télécom beginnen auch andere große Unternehmen sogenannte »Stressverhandlungen«, die die Arbeitsbedingungen verbessern sollen. In einigen von ihnen - darunter Renault, Peugeot, Novartis, LVMH und BNP - gibt oder gab es ebenfalls Selbstmordwellen.
Und auch eine ganz andere Berufsgruppe macht derzeit in Frankreich in der Selbstmordstatistik von sich reden: Die Polizei. Sie leidet an schlechten Arbeitsbedingungen, ihrem negativem Image bei der Bevölkerung und vor allem am enormen Druck »von oben«.

Diskussion entfacht

Die mediale Beachtung, die das tragische Phänomen in den vergangenen Monaten fand, hat immerhin dazu geführt, dass sich nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Arbeitgeber und Unternehmer notgedrungen mit der Problematik auseinandersetzen und Themen wie Mobbing, Arbeitsdruck, Burn-out und Entsolidarisierung diskutiert und ernst genommen werden.
Denn selbst wenn die Selbstmordrate im statistischen Mittel bleibt, so ist jeder einzelne Tote am Arbeitsplatz eben nicht nur ein Kollateralschaden einer neuen Arbeitsorganisation, sondern direktes Opfer einer menschenfeindlichen Unternehmenspolitik.

Weblink
Doku auf ARTE:
www.arte.tv/de/Die-Welt-verstehen/Burnout/2892482.html

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barbara.lavaud@gpa-djp.at
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