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Viele Häuser sind desolat, desillusionierte Betrunkene gehen bis in die frühen Morgenstunden auf den Gehsteigen auf und ab. Ein großer Anteil der BewohnerInnen in diesem Viertel lebt von der Sozialhilfe. Viele Häuser sind desolat, desillusionierte Betrunkene gehen bis in die frühen Morgenstunden auf den Gehsteigen auf und ab. Ein großer Anteil der BewohnerInnen in diesem Viertel lebt von der Sozialhilfe.

Am Ende der Welt

Internationales

Die kanadische Provinz Newfoundland and Labrador ist mit Arbeitslosenraten um die 21 Prozent besonders schwer von der Wirtschaftskrise betroffen.

Die Freshwater Road in St. John’s, der größten Stadt in Newfoundland, wirkt auf dem ersten Blick wie ein Fotomotiv für TouristInnen. Bunte Holzhäuser in allen denkbaren Farben, enge steile Seitenstraßen und von vielen Stellen aus ein Blick auf den Atlantik. Wer genauer hinsieht, entdeckt aber ein großes Maß an Armut: Viele Häuser sind desolat, desillusionierte Betrunkene gehen bis in die frühen Morgenstunden auf den Gehsteigen auf und ab.
Ein großer Anteil der BewohnerInnen in diesem Viertel lebt von der Sozialhilfe. Mitten in dieser Gegend steht das Haus von Nancy Riche, der ehemaligen Vizepräsidentin des Kanadischen Gewerkschaftsbundes Canadian Labour Congress (CLC). Sie hat ein Anti-Regierungsschild in ihr Fenster gestellt. Die pensionierte Gewerkschafterin ist weit herumgekommen in der Welt, unter anderem war sie langjähriges Vorstandsmitglied des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften in Brüssel. Jetzt unterstützt sie die sozialdemokratische NDP (New Democratic Party) in ihrer Provinz.

Gut gewerkschaftlich organisiert

»Quebec und Newfoundland waren immer schon am besten gewerkschaftlich organisiert«, erklärt Riche. In Newfoundland mit seinen Minen, Papierfabriken, der Fischerei und Automobilindustrie bzw. dem breiten öffentlichen Sektor stießen Gewerkschaften seit jeher auf große Zustimmung. Die Organisationsrate liegt immer noch um die 35 Prozent. Für Nancy Riche liegen vor allem für Frauen die Vorteile einer Gewerkschaftsmitgliedschaft auf der Hand: »Wir brauchen nur auf die Löhne in der Privatwirtschaft zu schauen, während in unserer Provinz Frauen im nicht gewerkschaftlich organisierten Bereich nur 60 Prozent der Gehälter von Männern haben, sind es im gewerkschaftlich organisierten Bereich klar über 90 Prozent!«

Unzureichende Sozialhilfe

»Wir Linken leben in ständiger Angst vor der konservativen Regierung. Diese Regierung ist wirklich schlecht! Sie denken ähnlich wie die Republikaner in den USA«, führt Nancy Riche aus. Der kanadische Premierminister Stephen Harper steht einem Minderheitenkabinett vor. Dieses unterstützte George Bush in Afghanistan, fährt einen harten Kurs gegenüber SozialhilfeempfängerInnen und kürzte die Geld- und Sachleistungen für Familien mit Kindern. Angesichts des starken Druckes der Oppositionsparteien stimmte Harper aber einer Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu. Abhängig von Versicherungsdauer und Vordienstzeiten können nun bis zu 50 Wochen Arbeitslosengeld bezogen werden. Da die erforderlichen Versicherungszeiten und die Bezugsdauer von der regionalen Arbeitslosenrate abhängig sind und bei Selbstkündigung oder schuldhafter Entlassung generell keine Leistungen zustehen, ist die Arbeitslosenversicherung sehr umstritten. Nur 43,4 Prozent der kanadischen Arbeitslosen sind berechtigt, Leistungen zu beziehen. Und die Sozialhilfesätze, die sich in Provinzverantwortung befinden, sind als letztes Auffangbecken meist zu gering und unzureichend.
Premier Danny Williams ist auf Kriegsfuß mit der Bundesregierung, kürzte diese doch die Bundeszuschüsse zu den Sozialleistungen der Provinz. Williams ist zwar Politiker der Progressive Conservatives (Progressive Konservative), diese sind jedoch keine Teilorganisation der in Ottawa regierenden Konservativen, sondern riefen bei den jüngsten Wahlen sogar zur ABC-Kampagne auf (»anybody but conservative«/jeden außer die Konservativen). Nicht zuletzt deshalb stimmten bei diesen Wahlen zum kanadischen Parlament 34 Prozent der NeufundländerInnen für die Sozialdemokraten, der höchste Wert aller Provinzen. Freilich trug dazu auch ein Faktor bei, den wir bei so vielen sozialdemokratischen Parteien in Europa so bitter vermissen: attraktive KandidatInnen und klare sozialpolitische Botschaften.

»Danny Chavez« verstaatlicht

Nachdem in den 90er-Jahren alle großen Fischfabriken geschlossen hatten und unlängst auch die zum US-amerikanischen Konzern Abitibi-Bowater gehörende wichtigste Papierfabrik der Provinz nach 100 Jahren trotz der Inanspruchnahme vieler öffentlicher Fördermittel ihren Betrieb einstellte, reichte es dem Premier. Er verstaatlichte die Fabrik kurzerhand. Die Maßnahme ist rechtlich höchst umstritten und brachte Williams den Spitznahmen Danny Chavez ein. Die NeufundländerInnen waren begeistert. Für Nancy Riche ist die Maßnahme nicht weit reichend genug: »Ich wünschte, er hätte die Eigentumsrechte der Fabrik an die Arbeiter übertragen!«
Als weitere Maßnahme verteilt der Premier, in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Gewerkschaft, große Fördermittel an ArbeitnehmerInnen, die, wenn ihre Firmen pleite gehen, sonst um ihre Abfertigungsansprüche umfallen würden. Außerdem stellt Newfoundland die großzügigsten Sozialhilfesätze aller kanadischen Provinzen bereit. Williams ignoriert dabei die bundespolitische Vorgabe, dass Leistungen für Kinder nur an Erwerbstätige ausbezahlt werden sollten, nicht jedoch an SozialhilfeempfängerInnen.

Herausforderung Gesundheitspolitik

Eine andere Herausforderung stellt die Gesundheitspolitik dar: Die Leistungen des universalen kanadischen Gesundheitssystems gelten auch in Newfoundland and Labrador: Keinerlei Selbstbehalte bei Arztbesuchen jedweder Art oder im Krankenhaus, es gibt Lohnfortzahlung und Mutterschaftsgeld, die Bevölkerung ist zu 100 Prozent von der steuerfinanzierten Krankenversicherung erfasst. »Trotz des Prinzips der Universalität gibt es aber große regionale Unterschiede, und ich glaube, wir haben viel Arbeit vor uns, wenn wir das Gesundheitssystem in unserer Provinz auf den Stand anderer Regionen bringen wollen«, beschreibt Lorraine Michael die Situation in ihrer Provinz. Michael ist die Vorsitzende der NDP von Neufoundland and Labrador. »Als kleine Provinz haben wir Schwierigkeiten ausreichend Spezialisten zu finden, und das vergrößert das Problem der Wartezeiten.« Für immer mehr Leute entwickeln sich auch die hohen Medikamentenpreise zu einem finanziellen Problem: »Wir finden, dass zumindest alle, die finanziell nicht so gut dastehen, und alle Pensionisten vom freien Zugang zu Medikamenten erfasst sein sollten«, fordert Lorraine Michael als ersten Schritt.

Vielfältige Probleme

Besonders schwierig ist die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen im Norden. Viele Dörfer sind nur mit dem Schiff oder dem teuren Flugzeug erreichbar und sind zum Teil an die zwölf Stunden Schifffahrt voneinander entfernt. Die meisten EinwohnerInnen im entlegenen Norden sind Aboriginals. 75 Prozent der Inuit, welche die größte Gruppe an Ureinwohnern in Labrador stellen, leben von der Sozialhilfe, die Selbstmordrate ist sechsmal so hoch wie bei nicht-indigenen KanadierInnen, und Alkohol- und Drogenabhängigkeit wird ein immer größeres Problem. Die kanadischen UreinwohnerInnen »können diese Probleme selbst angehen, aber wir müssen ihnen alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen!«, fordert Lorraine Michael. »Die Leute wurden durch den Kolonialismus zerstört und leiden immer noch darunter. Sie haben ihr Land verloren und ihren Lebensstil. Wir schulden den Aboriginal People immer noch Unterstützung.«
Die Probleme Neufundlands sind also vielfältig und wahrscheinlich noch lange nicht gelöst, doch kann der Weg der dünn besiedelten Provinz zweifelsohne ein Vorbild für andere kanadische Provinzen und auch für uns hier in Europa sein, ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit anzustreben, und auch in der Krise ein klares Nein zum Rechtspopulismus auszusprechen.

Der Autor hielt sich im Rahmen einer Bildungskarenz fast vier Monate in der kanadischen Provinz Newfoundland and Labrador auf.

Weblinks
Kanadischer Gewerkschaftsbund Canadian Labour Congress (CLC)
www.clc-ctc.ca
wikipedia zu Neufundland und Labrador
de.wikipedia.org/wiki/Neufundland_und_Labrador

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martin.bolkovac@gpa-djp.at
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