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Rudolf Hundstorfer Alle Umfragen zeigen uns, dass die europäischen BürgerInnen keine amerikanischen Zustände wollen und das "Sozialmodell Europa" als zentrales Element unseres Kontinents sehen.

Kein Auslaufmodell

Interview

Sozialminister Rudolf Hundstorfer ist überzeugt, dass der Staat auch im 21. Jahrhundert seiner sozialen Verantwortung nachkommen muss.

Arbeit&Wirtschaft: Kollege Rudolf Hundstorfer, vor ziemlich genau einem Jahr haben wir in der Arbeit&Wirtschaft einen offenen Brief an dich veröffentlicht. Wir haben uns erlaubt, eine Art Wunschliste an dich als ehemaligen ÖGB-Präsidenten und nunmehrigen Sozialminister zu stellen. Ganz oben stand dabei eine Novelle des Arbeitsverfassungsgesetzes. Ein neues, zeitgemäßes Arbeitsrecht mit einem einheitlichen Arbeitnehmerbegriff ist uns ein großes Anliegen. Eingebunden müssten auch atypisch Beschäftigte werden, und auch freie DienstnehmerInnen müssten explizit in die arbeitsrechtliche Absicherung aufgenommen werden. Was ist in dieser Hinsicht geschehen, was ist noch geplant?

Rudolf Hundstorfer: Einerseits planen wir die "kleine" Novelle zum Arbeitsverfassungsgesetz". Derzeit laufen Sozialpartnerverhandlungen. Unter anderem soll es eine Verlängerung der Kündigungsanfechtungsfrist von einer auf zwei Wochen geben, die Senkung des passiven Wahlalters zum Betriebsrat auf das 18. Lebensjahr und die Verankerung des Angestellten-Begriffs im Arbeitsverfassungsgesetz. Außerdem steht die Kodifikation des Arbeitsrechts an. Ziel ist die Modernisierung und Flexibilisierung des Arbeitsrechts. Inhaltliche Schwerpunkte sind unter anderem die Zusammenfassung der arbeitsvertragsrechtlichen Bestimmungen, die derzeit auf zahlreiche Gesetze aufgesplittert sind. Die Sozialpartnergespräche zur Modernisierung der Mitbestimmung werden im Herbst beginnen und sollen Maßnahmen im Bereich der Mitbestimmung, wie etwa die Erleichterung der Wahl von Betriebsräten, die Modernisierung des Betriebsbegriffes - das heißt, das Ermöglichen einer betrieblichen Interessenvertretung nicht nur in Unternehmen, sondern auch in wirtschaftlichen Einheiten, die aus mehreren Unternehmen bestehen - und Verbesserungen bei der Überprüfbarkeit der Kollektivvertragszugehörigkeit beinhalten.

Du hast dich für die Mindestsicherung stark gemacht, die jetzt auch kommen soll, aber mit 744 Euro, 12-mal im Jahr, schon eher sehr knapp bemessen ist. Zum Interviewzeitpunkt, am 16. Juni 2010, war noch nicht sicher, ob die Mindestsicherung wie vorgesehen ab 1. September 2010 ausbezahlt wird - deine Position?

Die Mindestsicherung ist für mich nicht mehr verhandelbar. Alle künftigen BezieherInnen der Mindestsicherung werden intensiv vom Arbeitsmarktservice betreut, um wieder in das Berufsleben einsteigen zu können und damit wieder auf eigenen, finanziellen Beinen zu stehen. Die Mindestsicherung bringt einheitliche Mindeststandards, sorgt für mehr Rechtssicherheit, bringt bessere Leistungen für Alleinerzieherinnen sowie die e-card für alle. Derzeit laufen intensive Verhandlungen mit der ÖVP zur Transparenzdatenbank, aber auch die ÖVP hat klargestellt, dass sie hinter der Mindestsicherung steht.

Es gibt auch Gründe dich zu loben. So hast du ein neues Hausbetreuungsgesetz eingeführt. Auch dass du die AMS-Kurse effizienter machen willst, begrüßen wir sehr. Du bist seit eineinhalb Jahren Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz - auf welche ƒnderungen und Beschlüsse in diesem Zeitraum bist du besonders stolz?

Als Arbeits- und Sozialminister gilt es, sich immer neue Ziele zu stecken. Besonders wichtig war und ist es mir, dass jeder Jugendliche, der eine Lehrstelle will, diese auch bekommt. Das ist mit den überbetrieblichen Lehrwerkstätten und den weiteren Maßnahmen, die wir gesetzt haben, gut gelungen. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurden zwei Konjunktur- und drei Arbeitsmarktpakete geschnürt, wodurch an die 100.000 Arbeitsplätze gesichert oder neu geschaffen wurden. Wir haben zeitgerecht mit der Reform der Kurzarbeit reagiert und einen starken Fokus auf Qualifizierung gelegt. Denn es ist leider so, dass jene, die schlecht ausgebildet sind, als erstes mit Arbeitsplatzverlust konfrontiert sind. Je besser die Qualifikation, desto höher sind die Chancen auf einen Arbeitsplatz. Im vorigen Jahr haben wir 580.000 Menschen aus der Arbeitslosigkeit wieder in die Beschäftigung gebracht, das zeigt, dass der Arbeitsmarkt dynamisch geblieben ist. Ein Schritt nach vorn wird auch die Mindestsicherung sein. Sie ist ein sozialpolitischer Meilenstein und gleichzeitig die Starthilfe zurück in den Arbeitsmarkt. Was jetzt ansteht ist ein Pensionspaket, in dem wir die Langzeitversicherten-, die Schwerarbeits- und die Invaliditätspension neu regeln werden.

Bei der Diskussion "Sozialstaat im 21. Jahrhundert - Vision oder Utopie?" im März hast du dich voll und ganz zum Sozialstaat bekannt. Das Schwerpunktthema dieser "A&W"lautet "Sozialstaat: Wir sind die Guten?" Sind wir das wirklich?

Wir sind mit unserem Sozialstaat gut aufgestellt. Aber wir können noch besser werden. Der Staat wird auch im 21. Jahrhundert seiner sozialen Verantwortung in gleicher Weise nachkommen müssen, auch wenn selbstverständlich immer wieder Anpassungen und Veränderungen notwendig sind. Der Sozialstaat ist kein Auslaufmodell, sondern vielmehr eine Produktivkraft. Alle Umfragen zeigen uns, dass die europäischen BürgerInnen keine amerikanischen Zustände wollen und das "Sozialmodell Europa" als zentrales Element unseres Kontinents sehen.

Nun verlangt die Budgetkonsolidierung überall Sparmaßnahmen - wo bist du bereit in deinem Ressort zu sparen, wo kann man sparen?

Meine Vorschläge werde ich im Herbst präsentieren. Für mich hat oberste Priorität, dass die soziale Balance nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Der Arbeitsmarkt entwickelt sich derzeit sehr positiv. Sinkende Arbeitslosen-Zahlen bedeuten weniger Ausgaben. Wir müssen uns fragen, wie Vermögensbestandteile und Gewinne von Banken herangezogen werden können. Das ist Teil der sozialen Balance.

Zurzeit wird auch über Hacklerregelung und Invaliditätspensionen verhandelt. Von der Hacklerregelung profitieren derzeit am wenigsten die Hackler, die Invaliditätspension wird gerne genützt, um ältere ArbeitnehmerInnen loszuwerden. Was sind deine Vorschläge in der aktuellen Diskussion?

Ich habe immer gesagt, dass es mit mir kein vorzeitiges Auslaufen der Langzeitversichertenregelung geben wird. Die Menschen müssen sich auf das verlassen können, was die Politik beschlossen hat. Eine mögliche Variante wäre das schrittweise Anheben der Langzeitversichertenregelung auf das Antrittsalter von 62 Jahren. Mir ist es wichtig, dass die Menschen so lange wie möglich gesund im Berufsleben stehen können. Deshalb setze ich mich für eine verstärkte und frühere Prävention und Rehabilitation ein. Eines ist klar: Die Invaliditätspension ist kein Schlupfloch, denn niemand wird glauben, dass Frauen wegen durchschnittlich 650 Euro in die Invaliditätspension flüchten. Zudem soll sich auch die Situation der gering qualifizierten ArbeitnehmerInnen, die bis dato keinen Berufsschutz genießen, verbessern.

Wie siehst du den Sozialstaat Österreich im europäischen Vergleich?

Der österreichische Sozialstaat hat sich als Bollwerk gegen die Krise erwiesen und all jene, die "Mehr Privat, weniger Staat!" gefordert haben, Lügen gestraft. Wir haben konstant die zweitniedrigste Arbeitslosenquote in Europa. Sozialleistungen haben die Auswirkungen der Krise in Österreich deutlich abgefedert. Jeder Euro, der in Sozialtransfers investiert wurde, hatte laut OECD die zweieinhalbfache Wirkung von einem Euro für Konjunkturprogramme. Wir sind auch das einzige Land in Europa, das mit der Mindestsicherung die sozialen Leistungen ausbaut und nicht kürzt.

Wie soll/kann unser Sozialstaat finanziert werden?

Mir geht es bei der Finanzierungsfrage um Verteilungsgerechtigkeit. Weniger Belastung produktiver Arbeit, mehr Belastung unproduktiver Kapitaleinkünfte. Im internationalen Vergleich sind Vermögen steuerlich unterbelichtet. Leistungskürzungen im Sozialstaat würden die bestrafen, die jetzt schon durch Jobverlust und Kurzarbeit die Zeche für die Krise bezahlen. Die ArbeitnehmerInnen dürfen nicht nochmals für eine Krise bezahlen, die sie nicht verschuldet haben. Die SPÖ hat ihre Vorschläge bereits vorgestellt. Es führt kein Weg an einer Finanztransaktionssteuer und der Bankenabgabe vorbei, wir wollen eine Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit von Managergehältern. Auch Stiftungsvermögen sollen einen fairen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten.

Du forderst auch Umverteilung der Arbeitszeit - ist es realistisch, dass weniger Überstunden zu mehr Arbeitsplätzen führen könnten?

Österreich hat traditionell die längsten Arbeitszeiten von Vollzeiterwerbstätigen in Europa. Jeder Fünfte - bei Vollzeitarbeitskräften jeder Vierte - leistet Überstunden. Jeder Dritte dieser Überstundenleistenden macht mehr als zehn Überstunden pro Woche, jeder Sechste mehr als 15 Überstunden. Trotz Wirtschaftskrise, Kurzarbeit und steigender Arbeitslosigkeit sind die Überstunden auf diesem sehr hohen Niveau geblieben. Wir haben im vorigen Jahr gesehen, dass etwa in der Industrie durch die Krise rund zehn Prozent der Arbeitsplätze verloren gegangen sind, knapp zehn Prozent der Beschäftigten teilweise in Kurzarbeit waren, aber nach wie vor 20 Prozent der Beschäftigten Überstunden leisteten. Wir wissen auch, dass lange Arbeitszeiten gesundheitsschädlich sind, mit Leistungsabfall einhergehen, zu mehr Arbeitsunfällen führen und mit dem Familien- und Sozialleben nur schwer vereinbar sind.
Überstunden sind daher immer, vor allem aber in der gegenwärtigen Situation ein zentrales Thema. Wir werden daher in den nächsten Wochen und Monaten intensiv diskutieren, wie wir dieses Problem angehen können. Denkbar wären z. B. eine transparentere Regelung von All-in-Verträgen, reduzierte Höchstgrenzen für Überstunden, höhere Strafen bei manipulierten Zeiterfassungssystemen oder verschiedene Anreizsysteme zur Eindämmung von Überstunden. Falls es uns zum Beispiel durch ein Bündel von Maßnahmen gelingt, die Überstunden von jährlich rund 350 Mio. auf ca. 240 Mio., also um ein Drittel zu reduzieren, was durchaus realistisch ist, und wenn wir davon ausgehen, dass wir zumindest die Hälfte dieser eingesparten Überstunden in zusätzliche Beschäftigung umwandeln können, wären das immerhin 30.000 zusätzliche Vollzeitbeschäftigte.

In deiner Rede hast du auch gesagt, dass der Sozialstaat auf Dauer nur zu halten sei, wenn es in Österreich mehr Zuwanderung gibt - das ist keine sehr populistische Meinung. Wie erklärst du das denen, die gerne die Grenzen dichter machen würden?

Jenen, die die Grenzen dicht machen wollen, sage ich, dass wir eine geordnete Migration brauchen, um unser Sozialsystem aufrecht zu erhalten. AusländerInnen sind NettozahlerInnen im Sozialsystem. Die erhaltenen Leistungen übersteigen die geleisteten Beiträge. Daher ist es nicht nur sozial- und gesellschaftspolitisch, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll, in die Integration von AusländerInnen am Arbeitsmarkt, in ihre Bildung, ihre Wohnsituation und in ein friedliches Zusammenleben zu investieren. Dazu braucht es verstärkte Integrationsbegleitung und Beratungseinrichtungen und Vermittlung von Sprachkompetenz schon im Herkunftsland.
Der österreichische Sozialstaat wäre ohne Zuwanderung in absehbarer Zeit nicht mehr auf dem bisherigen Niveau zu halten, da es dann zu wenige BeitragszahlerInnen in der Sozialversicherung gäbe. Wir brauchen geordnete Zuwanderung, denn schon ab 2015 ist ein Mangel an jungen ArbeitnehmerInnen zu erwarten, und wir müssen uns den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft stellen.

Der Sozialstaat nützt allen, hast du erklärt, wann hat er dir persönlich zuletzt wie genützt?

Persönlich hat mir der Sozialstaat das letzte Mal genützt, als ich eine Knieverletzung hatte.

Wir danken für das Gespräch.

Zur Person
Rudolf Hundstorfer
geboren am 19. September 1951 in Wien, ist seit 2. Dezember 2008 Bundesminister für Soziales und Konsumentenschutz der Republik Österreich, seit 1. Februar 2009 auch Minister für Arbeit. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
1975: Jugendreferent in der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten (GdG)
1998: Vorsitzender der Landesgruppe Wien in der GdG
2001: geschäftsführender Vorsitzender der GdG
2003: (bis 2006) Vorsitzender der Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen (FSG) 2003 bis Mai 2007 Vorsitzender der GdG
1990 bis 2007: Mitglied des Wiener Landtages und Gemeinderat
1995 bis 2007: erster Vorsitzender des Wiener Gemeinderates
2003: Vize-Präsident des ÖGB
2006: geschäftsführender Präsident des ÖGB nach Fritz Verzetnitsch und
2007: Präsident des ÖGB und Mitglied im ÖGB-Vorstand, Arbeitsschwerpunkt "Soziales"

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Mehr Infos unter:
www.bmsk.gv.at

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