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Darüber hinaus: Die zunehmende soziale Schieflage vergrößert die Diskrepanz zwischensozialer Ungleichheit und politischer Gleichheit und wird damit zur Gefährdung der Demokratie. Darüber hinaus: Die zunehmende soziale Schieflage vergrößert die Diskrepanz zwischensozialer Ungleichheit und politischer Gleichheit und wird damit zur Gefährdung der Demokratie.

Soziale Gerechtigkeit

Schwerpunkt

Prof. Emmerich Tálos, Mitinitiator des Volksbegehrens Sozialstaat 2002, über die Notwendigkeit sozialer Gleichheit.

Seit einigen Jahren ist immer öfter der Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu vernehmen. Ausdruck eines Sozialromantizismus? Keineswegs. Entwicklungsprozesse auf wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ebene haben die Ungleichheit in unserer Gesellschaft verstärkt. Diese speist sich aus mehreren Quellen: Die Einkommen driften auseinander. Die sinkende Lohnquote ist einer der Indikatoren dafür. Ungleicher noch als die Einkommensverteilung ist die der Vermögen.

Veränderungen am Arbeitsmarkt

Der Arbeitsmarkt unterliegt einschneidenden Veränderungen - nicht nur hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten, sondern auch der Bedingungen für die Beschäftigten. Die Erwerbslosigkeit ist trotz wiederholt anders lautender Prognosen ein absehbar andauerndes Problem. Die Heterogenität in der Erwerbsarbeit spitzt sich im Gefolge der Verbreitung von Teilzeit, befristeter und geringfügiger Beschäftigung, Leiharbeit und neuer Selbstständigkeit zu. Atypische Beschäftigungsformen eröffnen Chancen, wie zum Beispiel die Integration von Arbeitslosen in den Erwerbsarbeitsmarkt oder eine verbesserte Möglichkeit der Vereinbarkeit von familiärer und beruflicher Arbeit. Dennoch sind derartige Beschäftigungsformen in mehrfacher Hinsicht mit negativen Auswirkungen verknüpft: höheres Verarmungsrisiko infolge niedrigen und diskontinuierlichen Einkommens, schlechtere Aufstiegschancen und geringere Qualifikationschancen. Die Annahme, dass Erwerbsarbeit die materielle Existenz ausreichend sichert, erfährt angesichts dieser Entwicklung eine deutliche Relativierung.

Armut und Ausgrenzung

Armut und Ausgrenzung stellen auch in reichen Gesellschaften ein relevantes Phänomen dar. Beispielsweise sind laut den jüngsten Armutsstudien mehr als zwölf Prozent der österreichischen Bevölkerung vom Einkommensmangel betroffen. Diese Armut trifft nicht nur Menschen an den Rändern unserer Gesellschaft, sie reicht in den Mittelstand hinein. Sie ist eine der zentralen Spaltungslinien, die nicht mit wachsendem gesellschaftlichem Reichtum selbstläufig vergeht. Dies ungeachtet dessen, dass in Österreich ebenso wie in anderen europäischen Ländern breit ausgebaute soziale Sicherungsnetze bestehen. Diese dämmen Verarmungsrisiken ein, verhindern diese allerdings nicht insgesamt.
Nicht erst seit dem jüngsten Desaster des Finanzkapitals ist evident, dass der in den beiden letzten Jahrzehnten hoch gejubelte Markt ungleich mehr Probleme produziert, als er zu lösen imstande ist. Die soziale Ungleichheit in der marktbetonten Gesellschaft ist nicht geringer, sondern größer geworden. Das Plädoyer für mehr Markt und weniger Staat, das politische Entscheidungen in vielen Ländern anleitete, zeitigte in seiner konkreten Umsetzung für den Sozialstaat ebenso wie für BezieherInnen sozialstaatlicher Leistungen beträchtliche negative Auswirkungen. Darüber hinaus: Die zunehmende soziale Schieflage vergrößert die Diskrepanz zwischen sozialer Ungleichheit und politischer Gleichheit und wird damit zur Gefährdung der Demokratie.
Angesichts dieser Entwicklung sind Überlegungen und konkrete Schritte zu mehr sozialer Gerechtigkeit eine unumgängliche gesellschaftspolitische Notwendigkeit.

Welche Gerechtigkeit?

Wenn wir von Gerechtigkeit sprechen, so sind damit mehrere Dimensionen gemeint: Was politische Gerechtigkeit heißt, ist allgemein bekannt (gleiches Recht auf politische Partizipation für alle), viel weniger jedoch, was mit sozialer Gerechtigkeit gemeint wird. Es gibt unterschiedliche Deutungen, die Kriterien dafür sind interessegeleitet uneinheitlich: Unter Leistungsgerechtigkeit wird verstanden, dass wer mehr leistet, auch mehr erhalten soll. Diese Deutung steht im Blickpunkt der Überlegungen zu einem Transferkonto, wie es aus ÖVP-Kreisen ventiliert wird. Bedarfsgerechtigkeit meint die Umverteilung der Ressourcen nach sozialem Bedarf. Zentrale Bezugspunkte dafür sind soziale Ausgrenzung und Verarmung. Chancengerechtigkeit stellt ab auf Gleichheit der Startchancen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung. Teilhabegerechtigkeit ist auf die Sicherung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Bedürfnisse bzw. gesellschaftlicher Teilhabe - analog den bestehenden Standards - in unserer Gesellschaft bezogen. Letztere kann ebenso wie die Bedarfsgerechtigkeit nur auf dem Weg der Umverteilung realisiert werden.
Der breit ausgebaute österreichische Sozialstaat beinhaltet sowohl Elemente der Leistungsgerechtigkeit als auch der Bedarfsgerechtigkeit. Ersteres bedeutet, dass es im Fall höherer Beiträge auch höhere Leistungen gibt. Dieses Element dominiert im Wesentlichen die Geldleistungen der Arbeitslosenversicherung, der Pensionsversicherung und bei Krankheit. Die Bedarfsgerechtigkeit als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit findet ihre Umsetzung in erster Linie in Leistungen, die nicht an Erwerbsarbeit gebunden sind, wie die Sozialhilfe, Familienleistungen, nicht zuletzt auch im Sachleistungsbereich des Gesundheitssystems. Nunmehr soll das bedarfsorientierte Leistungssystem eine Erweiterung erfahren.

Bedarfsorientierte Mindestsicherung

Während unter der schwarz-blau-orangen Regierung Armut/Ausgrenzung kein Thema war, wurde seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen (Caritas, Diakonie und Armutsnetzwerk) ebenso wie von den Grünen, den Arbeiterkammern, dem ÖGB und der Sozialdemokratie als eine der Antworten auf die aktuellen sozialen Herausforderungen, insbesondere der wachsenden Armut, die Einführung einer Grund- bzw. Mindestsicherung ventiliert. In den Regierungsprogrammen der vergangenen Jahre fanden trotz deutlich divergierender Ansichten von SPÖ und ÖVP diesbezügliche Vorstellungen ihren konkreten Niederschlag. Auf Bundesebene werden die bereits im Fall niedriger Arbeitslosengeldbezüge geltenden mindestsichernden Elemente auf die Notandshilfe ausgedehnt.

744 Euro/Monat

Trotz aller Verzögerungstaktiken seitens der ÖVP soll im Herbst 2010 die Mindestsicherung in den Bundesländern als bedarfsgebundene Geldleistung in Höhe von 744 Euro/Monat für einen bedürftigen Einzelhaushalt eingeführt werden. Neben Bedarf gilt als weitere Voraussetzung bei BezieherInnen im erwerbsfähigen Alter, dass diese dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Im Unterschied zur bestehenden Sozialhilfe werden die Leistungen (zum Teil auf einem höheren Niveau) harmonisiert, deren BezieherInnen in das Gesundheitssystem und den Service des AMS einbezogen. Der derzeit bestehende Regress wird weitgehend abgeschafft und ansatzweise ein Arbeitsanreiz vorgesehen. Insofern stellt diese Erweiterung des traditionellen Leistungssystems des österreichischen Sozialstaates angesichts der angeführten sozialen Problemlagen, neben notwendigen anderen Maßnahmen beispielsweise im Bereich Bildung und Arbeitsmarkt, einen Schritt in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit dar.
Ist damit alles erreicht? Keineswegs. Der politische Kompromisscharakter dieses Vorhabens spiegelt sich in einigen darin angelegten Problemen: So wird das Niveau der Mindestsicherung merkbar unter der Armutsschwelle nach EU-Kriterium liegen. Diese wurde für das Einkommensjahr 2007 mit 951 Euro berechnet. Der bereits in den Gesamtbetrag inkludierte Anteil für Wohnkosten (25 Prozent) wird durchwegs nicht reichen und wirft die Frage nach der Abdeckung der höheren Wohnkosten auf. Bereits vor der endgültigen Verabschiedung der Neuregelung in den Bundesländern ist absehbar, dass diese im Detail auch unterschiedliche Wege (12 oder 14 Auszahlungen, Beitrag zu Wohnkosten) gehen werden, womit das Ziel der Harmonisierung partiell unterlaufen wird. Fraglich ist auch, ob das AMS personell und finanziell für den erhöhten Arbeitsaufwand bereits ausreichend gerüstet ist.
Kurz gesagt: Die geplante Mindestsicherung kann ein Schritt in Richtung Gegensteuerung zu Armut und damit zu mehr sozialer Gerechtigkeit im Sozialstaat Österreich sein. Weitere müssten folgen. Diese dem politisch verordneten Sparzwang zu opfern wäre gesellschafts- wie demokratiepolitisch ein Schritt in die falsche Richtung.

Weblink
VolksbegehrenSozialstaat Österreich 2002:
www.sozialstaat.at

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