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Gleichzeitig beobachten wir,  wie Unternehmen Strategien der Flexibilisierung verfolgen, die von zunehmenden Entsicherungen in den Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen begleitet sind. Gleichzeitig beobachten wir, wie Unternehmen Strategien der Flexibilisierung verfolgen, die von zunehmenden Entsicherungen in den Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen begleitet sind.
Buchtipp: Exklusion

Gebot der Demokratie

Schwerpunkt

2010 ist das "Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung" - das wird gerne vergessen.

Zur Erinnerung: 2010 ist das "Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung". Dieses Jahresmotto wird leicht übersehen. Denn die Schlagzeilen werden von anderen Themen beherrscht, wie der Griechenland-Krise und der Zukunft des Euro. Dabei gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Armut und Ausgrenzung und der explodierenden Staatsverschuldung in nahezu allen europäischen Ländern, nicht nur Griechenland.

Verteilungskämpfe spitzen sich zu

Der Beinahe-Zusammenbruch der Finanzmärkte, die dramatischen Folgen für große Teile der Weltwirtschaft und die Rettungsaktionen für die Banken, bezahlt mit Steuergeldern, haben erheblich zu diesem Verschuldungsschub beigetragen. Die jahrzehntelange Entfesselung der Finanzmärkte verschärfte Umbrüche in Wirtschaft und Gesellschaft, die weltweit mit wachsender Ungleichheit und Armut einhergehen. In den kommenden Jahren werden sich die Verteilungskämpfe darüber zuspitzen, wer die Rechnungen bezahlen wird müssen. Es werden dann wohl gerade sozialstaatliche Leistungen als Dispositionsmasse betrachtet. Umso dringlicher ist es, ins politische Bewusstsein zu rufen, dass es im "Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung" nicht allein um gesellschaftliche "Randgruppen" geht - sondern um die Gesellschaft als Ganzes, ihre demokratische Qualität. Genau diese ist im Begriff der "sozialen Ausgrenzung" oder "Exklusion" angesprochen. Der Begriff Exklusion wurde in den EU-Sprachgebrauch eingeführt, um eine sich seit den 1980er-Jahren in Europa abzeichnende "neue soziale Frage" zu bezeichnen. Diese soziale Krise macht sich gleichzeitig in verschiedenen Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens bemerkbar.
Zunächst einmal am Arbeitsmarkt und in der Erwerbsarbeit. Seit den 1980er-Jahren stieg die Arbeitslosigkeit an und verfestigte sich. Langzeitarbeitslosigkeit ist bis heute ein brennendes Problem. Gleichzeitig beobachten wir, wie Unternehmen Strategien der Flexibilisierung verfolgen, die von zunehmenden Entsicherungen in den Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen begleitet sind. Unbefristete Vollzeitbeschäftigung geht zurück, und dort, wo sie erhalten bleibt, garantiert sie, wie z.B. in Deutschland, nicht mehr einen wirksamen Schutz vor Armut.
Die zweite Dimension, in der sich eine Krise des gesellschaftlichen Zusammenlebens manifestiert, sind soziale Nahbeziehungen, einschließlich der Familien. Der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, die Wohlstandssteigerungen und die erweiterten Bildungszugänge der 1960er- und 1970er-Jahre hatten dazu beigetragen, die Entscheidungsspielräume der Einzelnen zu vergrößern. Mit der Erosion von Beschäftigungssicherheit und der Rücknahme sozialstaatlicher Absicherungen macht sich nun seit den 1980er-Jahren eine problematische Kehrseite der "Individualisierung" bemerkbar. Der französische Soziologe Robert Castel kennzeichnet sie als "negativen Individualismus" und meint einen Individualismus aus Mangel an unterstützenden Sozialbeziehungen, im Gegensatz zum positiven Individualismus der Fülle an individuellen Entscheidungsmöglichkeiten.

Soziale Isolation

Soziale Einbindungen werden brüchig oder fehlen gerade bei denen, die ihrer besonders bedürfen. Langzeitarbeitslose leiden häufig unter sozialer Isolation. Alleinerziehende sind wegen fehlender Ressourcen im Familienverband von Armut besonders betroffen. Auch die Bewältigung des Alterns wird immer mehr zu einer individuell zugeschriebenen Aufgabe.
Schließlich manifestiert sich die Krise in den sozialen Sicherungssystemen. Angesichts von Arbeitslosigkeit und zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen wurde und wird offenkundig, dass einzelne Bevölkerungsgruppen nicht oder nur unzureichend abgesichert sind. In vielen EU-Ländern gilt das insbesondere für Jugendliche, junge Erwachsene sowie für MigrantInnen. Gleichzeitig gerieten die Bildungssysteme auf den Prüfstand. Je bedeutsamer Bildung und Qualifikation heute für die Positionierung in der Gesellschaft werden, desto ausgrenzender wirkt das Scheitern in Schule und Ausbildung.(Erwerbs-)Arbeit, soziale Nahbeziehungen und durch den Sozialstaat vermittelte Bürgerrechte tragen wesentlich zu gesellschaftlicher Zugehörigkeit bei. Mittlerweile sind sie für eine wachsende Zahl von Menschen nicht mehr gewährleistet. Soziologen sprechen daher von einer Gefährdung des sozialen Zusammenhalts.

Die Demokratie steht auf dem Spiel

Politisch ausgedrückt: Auf dem Spiel steht die sozial-materielle Grundlage der Demokratie. Denn Demokratie setzt voraus, dass alle Mitglieder des Gemeinwesens den eigenen Alltag planend gestalten können; dass sie in der Lage sind, Entscheidungen über ihr Leben aus guten Gründen und nicht nur aus Not zu treffen, und dass sie dafür die notwendigen Ressourcen haben. Wie soll jemand, der nicht einmal das eigene Leben selbstbestimmt bewältigen kann, auf die Geschicke des Gemeinwesens Einfluss nehmen können? Seit den historischen Erfahrungen mit Weltwirtschaftskrise, zwei Weltkriegen und Faschismus hat sich im europäischen Verständnis von Demokratie die Überzeugung durchgesetzt, dass diese eines sozial-materiellen Unterbaus bedarf.
Die zunehmende Entsicherung von Arbeits- und Lebensbedingungen bis weit in die gesellschaftlichen Mittellagen, mit Exklusion als äußerster Zuspitzung, untergräbt die Grundlagen der Demokratie. Davon ist in der politischen Debatte heute aber kaum die Rede. Wer sozialstaatliche Leistungen als Verfügungsmasse für Einsparungen ansieht oder bestenfalls als soziale Investitionen, die sich betriebs- und volkswirtschaftlich auszahlen müssen, verkennt die fundamentale Bedeutung sozialer Rechte für ein demokratisches Gemeinwesen.
Umso dringlicher ist eine "Politik des Sozialen" zu entwickeln. Sie müsste die Handlungs- und Partizipationsspielräume der Individuen durch die Gewähr-leistung neuer Sicherheiten erweitern. Diese könnte aus der Diagnose der sich abzeichnenden Krise des Sozialen lernen, dass es auf alle drei Vermittlungsinstanzen von Zugehörigkeit und Teilhabe ankommt, nicht allein auf Erwerbsarbeit, um jeden Preis.
Eine Politik des Sozialen würde deshalb zuerst die Unabhängigkeit der BürgerInnen von den Wechselfällen des Marktes und den Erwerbsstatus stärken müssen - mit der Bereitstellung wesentlicher kultureller Güter (darunter Bildung und Gesundheit) öffentlich-sozial sowie mit einer angemessenen Grundsicherung des Einkommens.

Bedeutung von Erwerbsarbeit

Eine Politik des Sozialen würde gleichzeitig die eigenständige, vergesellschaftende Bedeutung der Erwerbsarbeit in kapitalistischen Marktwirtschaften anerkennen, aber im Bewusstsein, dass die Beschäftigten angesichts wachsender Zumutungen an ihre "Flexibilitätsbereitschaft" neue Handlungsspielräume und materielle Sicherheiten innerhalb der Erwerbsarbeit und an den kritischen Übergängen im Lebensverlauf brauchen. Dazu bedarf es gesetzlicher Regelungen.
Eine Politik des Sozialen würde schließlich nicht um jeden Preis die Vermarktlichung aller Tätigkeiten, darunter Haushalts- und Pflegetätigkeiten betreiben, wohl aber eine gerechte Verteilung von Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit auf Männer und Frauen. Dabei würde sie das lange verdrängte Thema Umverteilung und Neugestaltung von Arbeit und Arbeitszeiten wieder aufgreifen.
Eine Politik des Sozialen setzt die Unterordnung der Finanzmärkte und -institutionen unter gesellschaftliche, nichtmarktförmige Regeln voraus. Die Auseinandersetzung darüber ist selbst eine Auseinandersetzung über die Zukunft der Demokratie.

Weblink
Homepage Museum Arbeitswelt Steyr:
www.museum-steyr.at

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