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Lohnverhandlungen in Ungarn Es steigt das Risiko einer Abwärtsspirale: Sinkender Organisationsgrad bedeutet unter den Bedingungen von Unternehmenskollektivverträgen fallenden Deckungsgrad, was wiederum die Gewerkschaften schwächt usw.

Lohnverhandlungen in Ungarn

Internationales

Bei unseren Nachbarn sind die KV-Verhandlungen stärker dezentralisiert und für die Entwicklung der Effektivverdienste nicht so bedeutend.

Die Lohnfestsetzung in Ungarn unterscheidet sich stark von jener in Österreich. Dort sind die KV-Verhandlungen stärker dezentralisiert, ihre Bedeutung für die Entwicklung der Effektivverdienste ist viel geringer. Kollektive Lohnverhandlungen finden in Ungarn auf drei Ebenen statt: auf der gesamtwirtschaftlichen, der Branchen- und der Unternehmensebene.

Die gesamtwirtschaftliche Ebene
Seit 1990 dient der dreiseitige »Interessenabstimmungsrat« (OÉT) als Forum für Informationsaustausch, Beratung und Begutachtung, Verhandlungen sowie den Abschluss von Abkommen. Vertreten sind dort neben der Regierung die repräsentativen Gewerkschaftsdachverbände und die neun wichtigsten Arbeitgeberdachverbände.
Sechs nationale Gewerkschaftskonföderationen erfüllen die Kriterien der Repräsentativität:

  • der sozialdemokratisch orientierte »Landesverband der Ungarischen Gewerkschaften« (MSZOSZ), der größte Dachverband im privatwirtschaftlichen Sektor;
  • der »Bund Autonomer Gewerkschaften« (ASZSZ), ein parteipolitisch neutraler Dachverband;
  • das »Gewerkschaftliche Kooperationsforum« (SZEF), parteipolitisch neutrale Interessenvertretung der öffentlich Bediensteten;
  • die »Gewerkschaftliche Vereinigung der Intelligenz« (ÉSZT), Vertretung der akademischen öffentlich Bediensteten;
  • die »Demokratische Liga Unabhängiger Gewerkschaften« (LIGA);
  • der christlichsoziale »Landesverband der Arbeiterräte« (MOSZ).

Die bis heute nicht überwundene Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung war das Ergebnis des politischen Umbruchs um 1989. Damals entstanden neue politische Parteien sowie neue Gewerkschaften, die sich entweder mit einer der Parteien verbündeten oder sich parteipolitisch neutral erklärten. Der OÉT dient erstens als Plattform für Informationsaustausch und Beratungen über die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zweitens verhandeln alljährlich im Herbst Sozialpartner und Regierung über eine Empfehlung an die Kollektivvertrags(KV)-Partner des privaten Sektors bezüglich des Anstiegs der KV-Löhne im jeweils folgenden Jahr und über das Ausmaß der Anhebung des nationalen Mindestlohns. Lohnempfehlung und Mindestlohnanpassung dienen für die KV-Verhandlungen auf Branchen- und Unternehmensebene als wichtige Orientierung. Die Mitwirkung am sozialen Dialog auf gesamtwirtschaftlicher Ebene sichert den Gewerkschaften doch einen gewissen Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Branchen-KV bestehen nur in wenigen Wirtschaftszweigen, etwa im Bereich der Energieversorgung, des öffentlichen Verkehrs und der Post. Viele dieser KV sind wenig konkret, enthalten keine Festlegung des jährlichen Lohnanstiegs oder eines Lohntarifs.
Die Gründe für die schwache Regulierungseffektivität auf der Branchenebene sind in den meisten Ländern Mittelosteuropas ähnliche wie in Ungarn: Erstens fehlt es den Branchengewerkschaften an den für eine effektive Interessenvertretung notwendigen finanziellen Ressourcen. Das hat nicht zuletzt mit dem hohen Grad an Autonomie der betrieblichen Basisorganisationen zu tun, von denen viele als eigenständige rechtliche Einheit registriert sind.
Und zweitens ziehen die ArbeitgeberInnen kollektive Lohnverhandlungen - falls überhaupt - auf der Unternehmensebene oder individuelle Lohnfestsetzung vor. Aus diesem Grund existiert in nicht wenigen Branchen gar kein Arbeitgeberverband. Die Branchenebene stellt also - im Gegensatz zu Österreich - den Schwachpunkt des Lohnverhandlungssystems dar.

Die Unternehmensebene
Die wichtigste Ebene der kollektiven Lohnverhandlungen ist in Ungarn die Unternehmensebene. Nur im jeweiligen Unternehmen repräsentative Gewerkschaften sind berechtigt, einen KV auszuhandeln und abzuschließen - dazu müssen sie mindestens zehn Prozent der Stimmen bei der jüngsten Betriebsratswahl erreicht haben.
KV-Bestimmungen sind rechtlich bindend. Rechtsstreitigkeiten fallen in die Zuständigkeit spezieller Arbeitsgerichte. Gemäß dem 1992 beschlossenen Arbeitsgesetzbuch können Gewerkschaften nicht unmittelbar wegen eines Verstoßes im Namen eines Mitglieds Klage führen, sondern dieses muss selbst aktiv werden. Unternehmens-KV haben Außenseiterwirkung auch auf jene Beschäftigte des abschließenden Arbeitgebers, die nicht Mitglied der abschließenden Gewerkschaft sind. Entsprechend dem Günstigkeitsprinzip dürfen Unternehmens-KV nur für die ArbeitnehmerInnen günstige Abweichungen von einem Branchen-KV oder vom Arbeitsgesetzbuch enthalten.

Kollektivverträge fehlen
2008 waren 1.040 Unternehmens-KV für rund 562.000 Beschäftigte des privaten Sektors in Kraft. Von diesen KV wurden 2008 lediglich 216 wiederverhandelt oder erstmals abgeschlossen. Im großen Bereich der Kleinunternehmen sind Gewerkschaften kaum vertreten - allein schon deshalb, weil für die Gründung einer betrieblichen Gewerkschaftsvertretung zehn Beschäftigte benötigt werden. Daher fehlen dort auch KV - abgesehen von den wenigen Branchen, wo ein KV allgemeinverbindlich erklärt wurde.

Viele ungarische Unternehmens-KV sind keine ausverhandelten Vereinbarungen, sondern wurden entweder einseitig vom Arbeitgeber vorgegeben oder wiederholen Passagen aus dem Arbeitsgesetzbuch. Fast 40 Prozent enthalten keine Festlegung des jährlichen Lohnanstiegs oder eines Lohntarifs. ArbeitgeberInnen haben also, selbst wenn ein Unternehmens-KV besteht und ein Abkommen über einen Lohntarif enthält, großen Spielraum.
Wird in einem Unternehmens-KV der jährliche Lohnanstieg geregelt, dann in der Form eines Anhangs, dem sog. »Lohnabkommen«. Diese regeln jedoch meist nur die Anhebung der niedrigsten Basislöhne. Alles in allem bestanden 2008 in Ungarn 2.309 KV für rund eine Mio. Beschäftigte. Der Deckungsgrad der KV betrug - unter Berücksichtigung des Effekts von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - 36 Prozent. Erwartungsgemäß zog der starke Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades - nur noch rund 17 Prozent - ein Absinken der Zahl der Unternehmens-KV und ein Fallen des Deckungsgrades nach sich. In einer derartigen Situation verstärkt sich für UnternehmerInnen mit gewerkschaftlich organisierter Belegschaft der Anreiz, auf einen Antigewerkschaftskurs einzuschwenken. Somit steigt das Risiko einer Abwärtsspirale: Sinkender Organisationsgrad bedeutet unter den Bedingungen von Unternehmenskollektivverträgen fallenden Deckungsgrad, was wiederum die Gewerkschaften schwächt usw.

Lohnentwicklung
Die Lohnentwicklung in Ungarn wird seit 1989 - auch weil die Gewerkschaften in einigen Bereichen nur schwach vertreten sind - v. a. durch direkte Wirtschafts- und Arbeitsmarkteinflüsse sowie durch massive staatliche Eingriffe bestimmt.
Die Weltwirtschaftskrise, die im September 2008 einsetzte, hat in Ungarn besonders schwerwiegende Auswirkungen, weil sich diese Volkswirtschaft bereits vor der Krise durch starke makroökonomische Ungleichgewichte auszeichnete (Haushaltsdefizit, Auslandsverschuldung, Leistungsbilanzdefizit). 2009 verringerte sich die reale Wirtschaftsleistung um 6,3 Prozent. Die Arbeitslosenquote stieg von 7,8 Prozent 2008 auf zehn Prozent 2009. Der Lebensstandard der unselbstständig Beschäftigten sinkt erheblich: Der Reallohnrückgang zwischen 2006 und 2010 wird auf insgesamt 9,7 Prozent geschätzt.

Sozialpartner und Regierung vereinbarten im Dezember 2009 im Interessenabstimmungsrat eine Anhebung des monatlichen Mindestlohns per 1. 1. 2010 um 2,8 Prozent auf 73.500 HUF (279 Euro), bei einer prognostizierten Teuerungsrate von 3,9 Prozent. Die Empfehlung an die KV-Verhandler im privaten Sektor lautet, Sorge zu tragen, dass 2010 die Reallöhne aufrecht erhalten werden, und dort, wo die betriebliche Situation dies erlaubt, sogar steigen. Angesichts der Krise und der damit einhergehenden weiteren Schwächung der Gewerkschaften ist die Tatsache, dass Vereinbarungen zustande kamen, an und für sich schon bemerkenswert. Aus der Sicht der Gewerkschaften stellt bereits dieses Faktum allein einen Erfolg dar.

Weblink
Gewerkschaftskooperation Österreich-Ungarn
www.sk-at.eu/at-hu/de/news.php

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