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Integration - wozu? Heute, 2010, bin ich zwar kein Flüchtlingskind mehr, sondern wie es politisch korrekt heißt: »Sekretär mit Migrationshintergrund«, dennoch beiße ich mir manchmal auf die Lippen, wenn ich aktuelle Zeitungsmeldungen zum Ausländerthema lese.

Integration - wozu?

Schwerpunkt

Vom Kind einer Flüchtlingsfamilie zum ÖGB-Sekretär mit Migrationshintergund ist es ein weiter Weg. Andreas Gjecaj erinnert sich.

Im Jahr 1973 war ich 16 Jahre alt - und natürlich verliebt. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Unser neuer Klassenvorstand im Grazer Keplergymnasium hatte - eher unwillig - irgendwelche Fragebögen ausgeteilt und wieder eingesammelt. »Da haben wir wieder so einen Kasperl in der Klasse«, meinte er unwirsch, als er mir den Bogen zurückwarf. Ich hatte Albanisch als Muttersprache eingetragen, er hielt es für einen schlechten Scherz und so musste ich - wieder einmal - meine Geburtsurkunde in die Schule mitbringen. Brummend nahm er diese am nächsten Schultag zur Kenntnis - eine Entschuldigung habe ich nie gehört.

Heimat: Kosova

Mittlerweile ist in Österreich das Amselfeld »Kosovo polje« - dank Arigona - recht bekannt. Im 14. Jahrhundert gab es dort große Schlachten. Gewonnen haben die Türken, die in der Folge bis vor Wien kamen. Kosova blieb über 400 Jahre ein Teil des osmanischen Reichs. Während von den damals katholischen Albanern die überwiegende Mehrheit islamisiert wurde, blieben trotz Unterdrückung und Verfolgung rund zehn Prozent christlich. Sie flüchteten in die Berge Nordalbaniens - und behielten dort ihre Religion und Kultur. Dieser kleinen Minderheit gehört auch meine Familie an. In den Balkankriegen am Beginn des 20. Jahrhunderts zerfiel das osmanische Reich, Albanien wurde unabhängig, Kosova ein Teil Serbiens. Es folgten die zwei Weltkriege, Kosova wurde zuerst von italienischen und danach von deutschen Truppen besetzt. 1945 marschierten die Deutschen ab und die Tito-Partisanen ein, was in meiner Heimatstadt Prizren dazu führte, dass der Bürgermeister samt Gemeinderat am Hauptplatz aufgehängt wurden. Sie hätten mit dem Feind »kollaboriert« wurde den Kosovo-Albanern mitgeteilt - und ab jetzt seien sie BürgerInnen der »Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien«.
Während erste Verwandte unserer Minderheit verhaftet wurden und in Umerziehungslager kamen - noch heute kann man die Insel »Goli-Otok« rund 20 km südlich von Senj besuchen, wo »politische Gefangene« gefoltert wur­-den -, wagten andere, um Haft und Folter zu entgehen, eine erste Flucht bei Nacht und Nebel an die Adria-Küste. Zwar blieben Häuser und Geschäfte zurück - aber mit ihrem zähen Überlebenswillen und ihrem Geschäftssinn betreiben viele Kosovo-Albaner bis heute ihre Silberschmiede-Läden an der Adria.

Push’n Pull

In den 70er-Jahren trug eine Grazer In-Disco diesen Namen. Unser Jugendproblem war meist, die Stunden zwischen vier Uhr früh - wo die Disco zusperrte - und sechs Uhr durchzubringen, wo das Buffet in der Sporgasse aufsperrte. Manchmal halfen die Parkbänke auf dem Grazer Schlossberg. In der Migrationsforschung meint »Push« und »Pull« jene Faktoren, die abstoßen (von jenem Land, das man verlässt) und anziehen (in jenes Land, wo man hin will). Meine Eltern waren in den 50er-Jahren von der Adria-Küste bis nach Slowenien gelangt, mein Vater betrieb ein Silberschmiedegeschäft in Maribor.

Dem Unrechtssystem entfliehen

Als 1956 die Sowjet-Panzer in Ungarn den Freiheitswillen der Bevölkerung brutal niederwalzten und danach in demütigenden »Schauprozessen« Todesurteile ausgesprochen wurden, packte mein Vater seinen Rucksack. Er musste diesem Unrechtssystem entfliehen. Nur mit Kompass und Wanderkarte konnte er in einer Nacht über die »grüne Grenze« - zwischen Slowenien und Öster­reich gab es nie Stacheldraht - flüchten. Meine Mutter blieb schwanger - und mit meinen beiden älteren Geschwistern - in Maribor zurück.
Ich wurde im Februar 1957 geboren, im Sommer durften wir mit einem »Touristenvisum« ausreisen - allerdings muss­te mein älterer Bruder als »Pfand« dafür, dass meine Mutter nach drei Wochen zurückkehren würde, in Jugoslawien verbleiben. Es dauerte noch drei Jahre, bis wir in zahllosen schriftlichen Anträgen der Parteizentrale in Beograd klar machen konnten, dass ein sechsjähriger Bub nicht die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien retten würde - so durfte er schließlich 1960 ausreisen. Österreich hatte 1955 die Freiheit wiedererlangt - in Jugoslawien sollte noch 40 Jahre die Diktatur einer Partei herrschen: Push und Pull.

Reset 1957: Zurück zum Start

Zum zweiten Mal waren nicht nur alles Hab und Gut zurückgeblieben, sondern auch alle Freunde und Verwandten - der Inhalt eines Rucksacks und zweier Koffer musste für den Neustart in einem Land mit fremder Sprache und Kultur reichen. Allerdings war Österreich 1957 anders: Obwohl - oder vielleicht weil? - viele Menschen durch Krieg und Bomben ebenfalls alles verloren hatten, wurde allein in diesem einen Jahr über 180.000 UngarInnen - fast selbstverständlich - Asyl gewährt. Heute, 2010, bin ich zwar kein Flüchtlingskind mehr, sondern wie es politisch korrekt heißt: »Sekretär mit Migrationshintergrund«, dennoch beiße ich mir manchmal auf die Lippen, wenn ich aktuelle Zeitungsmeldungen zum Ausländerthema lese.
Eine Kindheit, wo die Eltern Albanisch sprachen, wir Deutsch antworteten und oft schwierigere Worte übersetzten. Ein Vater, der nach seiner Tagesarbeit als Goldschmied in Graz auch regelmäßig an den Abenden am Werktisch saß, um seine Familie durchzubringen. Und meinte: »Man muss so tanzen, wie die Musik spielt.« Nach zwölf Jahren, 1969, endlich die österreichische Staatsbürgerschaft. Damals erschien die Melodie, die Österreich bewegte, eindeutig: »Die schlechten Zeiten - der Krieg, der Hunger - sind hinter uns. Die guten Zeiten, liegen vor uns.« Rund 20 Jahre sollte dieses Lebensgefühl der ÖsterreicherInnen andauern - ehe es sich in den 1980er-Jahren ins Gegenteil verkehrte, wie Caritas-Präsident Franz Küberl oft ausführt. Heute gilt das allgemeine Lebensgefühl: »Die guten Zeiten liegen hinter uns, vor uns liegen die schlechten Zeiten.« Und die Angst vor dem Krieg, ist durch die Angst vor der Armut ersetzt worden. Nicht mehr dazuzugehören, sich die »richtige Marke« nicht mehr leisten zu können - in der Familie, im Freundeskreis bei ArbeitskollegInnen nicht mehr bestehen zu können, bilden als ständige Drohung den Gegenpol zu den Glücksversprechen vieler Werbekampagnen: »Komm auf die Cola-Seite des Lebens!«

Integration - wozu?

Österreich erlebt gerade eine der längs­ten Friedensperioden seiner Geschichte. Und ist darauf offensichtlich nicht vorbereitet. Wenn alle paar Jahrzehnte sowieso alles durch Kriege zerstört wird, ist höhere Mathematik bedeutungslos. Als StudentIn fünf Jahre Miete zahlen ist kein Problem - aber rechnet noch jemand nach, was bei 70 Jahren Miete zusammenkommt? Wir lernen zwar in den Schulen, dass Zinseszins eine »Exponentialfunktion« ist - schwieriges Wort - aber bedenkt jemand die Auswirkungen?
Wenn die Studie AUTREICH halbwegs stimmt, dann gibt es in einem der reichsten Länder der Welt mittlerweile vier Millionen »Habenichtse« - diese besitzen gerade drei Prozent aller Vermögenswerte - zusammen! Das Auseinanderfallen der Gesellschaft passiert aber nicht nur beim Besitz, sondern durchzieht alle Lebensbereiche. Was gilt in Österreich heute als »gute Musik«? Wie soll man seine Kinder erziehen? Und wie sich »richtig« ernähren?

Eingliederung, Vereinigung

Es sind besonders Menschen mit Migrationshintergrund, die sich orientieren wollen, die solche Fragen stellen. Und damit offensichtlich den Finger auf offene Wunden legen. Gepaart mit Zukunftsangst entsteht der unsägliche Brei, den wir seit Jahren »Ausländerthema« nennen. Das »Österreichische Wörterbuch« beschreibt Integration als »Eingliederung, Vereinigung«. Aber wie gliedert man sich in eine Gesellschaft ein, die immer weiter auseinanderfällt? Fragen, die wohl ernsthaftere Antworten verdienen, als holprige Reime auf Wahlplakaten. Hoffentlich!

Weblink
AUTREICH-Studie:
www.bmsk.gv.at/cms/site/attachments/5/3/8/CH0107/CMS1218533993618/11_reichtum.pdf

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