topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Lösung oder Problem? Es hat sich also schon bei der Lissabon-Agenda gezeigt, dass eine Strategie, deren Kern auf ungehinderter Wirksamkeit von Markt und Wettbewerb beruht, mehr Probleme schafft als löst.
Info&News

Lösung oder Problem?

Internationales

2000 beschlossen die EU-Mitgliedsstaaten die Lissabon-Agenda. Nun liegt das Nachfolgemodell »Europa 2020« für die nächste Dekade vor.

Mit der Agenda Europa 2020 soll die EU gestärkt aus der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise hervorgehen und sich in eine »intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft« verwandeln. Trotz vorangegangener Evaluierung der Lissabon-Agenda und aller Beteuerungen, mit Europa 2020 die richtigen Lehren gezogen zu haben, ist Skepsis angebracht, ob mit dieser »Vision der europäischen Marktwirtschaft des 21.Jahrhunderts« wirklich ein Programm vorliegt, das richtige Fragen stellt und sie im Sinne einer breiten Mehrheit der Bevölkerung beantwortet.

Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit

Sowohl Lissabon-Agenda wie auch Eu­ropa 2020 sehen zu geringes Wirtschaftswachstum, zurückzuführen auf ein Produktivitätsgefälle gegenüber den wichtigsten Handelspartnern, als das Hauptproblem der EU an. Folgerichtig streben beide Strategien ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum an, was nur durch Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Europa zu erreichen sei. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass man im Jahr 2000 bezüglich der künftigen Wachstumsaussichten übertrieben optimistisch war (»die besten makroökonomischen Pers­pektiven seit einer ganzen Generation«) und nun, angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise vergleichsweise verzagt wirkt. (»Durch die Krise ist auch die Sicherung des künftigen Wirtschaftswachstums schwieriger geworden.«)
Immerhin wird in Europa 2020 Wirtschaftswachstum nicht als Selbstzweck angesehen, sondern definiert, welchen Prioritäten es dienen soll: Es soll »intelligent« (auf Wissen und Innovation gestützt), »nachhaltig« (ressourcenschonend) und »integrativ« (hoher Beschäftigung und ausgeprägtem sozialen Zusammenhang dienend) sein. Um dies zu erreichen, gibt die Strategie fünf Kernziele vor, deren Erreichung durch sieben Leit­initiativen ermöglicht werden soll. An wichtigen Problemfeldern wurden demografische Entwicklung, Neuordnung der globalen Finanzwirtschaft sowie Klimawandel und Rohstofflage aufgenommen. Ein System von Länderberichten soll die Mitgliedsstaaten stärker in die Verantwortung einbinden. Von der Europäischen Kommission erarbeitete und vom Europäischen Rat beschlossene »Integrierte Leitlinien für die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik« sollen ihnen einen Handlungsrahmen für die Formulierung nationaler Strategien und Ziele vorgeben.
Möglichst hohes Wirtschaftswachstum als Priorität einer wirtschaftspolitischen Strategie für Europa wirft drei grundsätzliche Fragen auf: Aus ökonomischer Perspektive, die das Ziel an sich nicht in Frage stellt, jene, wie es erreicht werden soll, aus sozialer jene, wem es zugute kommen soll und vom Standpunkt der Nachhaltigkeit aus, ob hohes Wirtschaftswachstum in der herkömmlichen Form überhaupt noch wünschenswert ist.
Die Kritik aus der ökonomischen und sozialen Perspektive - formuliert auch durch die Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen - bemängelt einerseits, dass nach wie vor Wachstumsförderung mit den in den vergangenen Jahrzehnten praktizierten Rezepten der neoliberalen Schule betrieben werden soll. An erster Stelle stehen dabei Budgetkonsolidierung ohne Rücksicht auf konjunkturpolitischen Gestaltungsraum und Verbesserung der internationalen Wettbewerbsposition, da Wachstumsimpulse primär von Exporten ausgehen sollen. Die Binnennachfrage jedoch, die mit 85 Prozent den überwiegenden Anteil am EU-BIP hat, wird vernachlässigt. Eine starke Exportindustrie ist für jede Volkswirtschaft wichtig. Die ausschließliche Fixierung auf Wettbewerbsfähigkeit hat aber schon dem Euroraum Probleme bereitet. In der Konkurrenz gegenüber Standorten mit weit niedrigeren sozialen Standards, setzt man sich obendrein der Gefahr aus, selbst nach unten nivellieren zu müssen. Soziale Fragen, wie etwa jene von Verteilungsgerechtigkeit und Armutsbekämpfung oder jene nach Qualität der Arbeitsverhältnisse treten so in den Hintergrund.

Berechtigte Vorbehalte

Wie berechtigt solche Vorbehalte sind, zeigt die Entwicklung wichtiger Wirtschafts- und Sozialindikatoren im vorigen Jahrzehnt: Schon vor Ausbruch der Krise im Jahr 2008 war das durchschnittliche BIP-Wachstum in Westeuropa das niedrigste seit den 1940er-Jahren und wurde durch die Rezession 2009 weiter gedrückt. Die höhere Beschäftigungsquote wurde zum größten Teil durch den Zuwachs von atypischen Arbeitsverhältnissen erzielt, also durch Verschlechterung der Bedingungen für die ArbeitnehmerInnen. Die Reallöhne sind im Euroraum nicht gestiegen, die Einkommensverteilung ist ungleicher geworden, die Armutsgefährdung hat zugenommen.
Ein Kapitel besonderer Art stellen die Finanzmärkte dar. Im damaligen Mainstream der Liberalisierer segelnd gab die Lissabon-Agenda eine breite Palette von »Erleichterungen« für die Finanzmärkte vor und negierte dabei vollkommen die Risiken weitreichender Deregulierungen und die Gefahrenpotenziale sich verselbstständigender »innovativer« Finanzprodukte. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise ist bekannt, davon ist aber in der gemeinsam mit Europa 2020 von der Europäischen Komission vorgelegten Evaluierung der Lissabon-Agenda kaum die Rede, ebensowenig wie von anderen Kollateralschäden. Es wird lediglich eingestanden, dass diese ihre Kernziele (Beschäftigungsquote von 70 Prozent, Forschungs- und Entwicklungsausgaben von drei Prozent des BIP) nicht erreicht habe. Es wird auch konzediert, dass zuwenig Augenmerk auf »jene Elemente, die maßgeblich zur Entstehung der Krise beigetragen haben«, gelegt worden ist.
Auch wenn nach offizieller Diktion der Europäischen Kommission die Lissabon-Agenda einen »wesentlichen Beitrag zum übergeordneten Ziel der nachhaltigen Entwicklung« hätte leisten sollen, gilt hier Ähnliches wie auf sozialem Gebiet: Die Lage ist eher schlechter geworden, was daran abzulesen ist, dass - vom verringerten CO2-Ausstoß abgesehen - sich die meis­ten wichtigen Umweltindikatoren verschlechtert haben. Auch das sollte zur ­Erkenntnis führen, dass der zugrunde ­liegende Wachstumsbegriff nach wie vor zu undifferenziert und Effizienzgewinne im Ressourcenverbrauch zu gering sind, um von Nachhaltigkeit zu reden.
Es hat sich also schon bei der Lissabon-Agenda gezeigt, dass eine Strategie, deren Kern auf ungehinderter Wirksamkeit von Markt und Wettbewerb beruht, mehr Probleme schafft als löst. Daran wird auch Europa 2020 mit seinen Etiketten »integrativ« und »nachhaltig« nichts ändern.

Konstituierender Faktor Solidarität

Statt einfach zu postulieren, dass Wirtschaftswachstum das Maß aller Problemlösungen darstellt, wäre es sinnvoller gewesen, zuerst die Gemeinsamkeiten des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells herauszuarbeiten, und seine Probleme aus einem breiteren Blickwinkel als dem der Wettbewerbsfähigkeit zu analysieren. Dies geschieht im Bericht Projekt Europa 2030 einer Reflexionsgruppe unter Vorsitz des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzales an den Europäischen Rat. Hier findet sich »Solidarität« als konstituierender Faktor, und es wird festgehalten, wie grundlegend das »Gleichgewicht zwischen seiner sozialen und marktwirtschaftlichen Dimension« für Euopa ist. Erst darauf aufbauend sollte man diskutieren, welche Instrumente notwendig sind, um dieses Modell zukunftsfähig zu erhalten. Eines davon wird wohl eine Art von intelligentem, integrativem und nachhaltigem Wachstum sein. Ob dieses allerdings ident ist mit jenem von Europa 2020 darf angezweifelt werden.

Kontakt
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor
robert.stoeger@bka.gv.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum