topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Sozialpolitik ist Gesellschaftspolitik Das ganz große Thema neben Arbeitsrecht und Arbeitsverfassung bleibt die Aufrechterhaltung der sozialen Sicherheit. Wir müssen das Sozialsystem und das Pensionssystem langfristig sichern und weiterentwickeln.

Sozialpolitik ist Gesellschaftspolitik

Interview

15 Jahre lang war er Direktor der AK Wien, er ist der Doyen des österreichischen Arbeitsrechts - ein Interview mit Prof. Dr. Josef Cerny anlässlich seines 70. Geburstags.

Zur Person
Hon.-Prof. Dr. Josef Cerny
Geboren am 13.10.1940 in Wien, seit 1963 verheiratet mit Edith, drei Kinder
Besuch der Volksschule in Aggsbach (evakuiert) und Wien; Matura 1958 am BRG Wien 10
1958-1962 Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Wien (Stipendium der AK Wien), Promotion zum Dr. jur.
Seit 1962 Angestellter der AK Wien
Vortragender in Bildungseinrichtungen der AK und der Gewerkschaften, Berufsschulen, Volkshochschulen usw.
Ab 1973 Referent für Arbeitsverfassung und Sozialpolitik, Sozialakademie der AK Wien
Ab 1975 Leiter der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien
Ab 1980 stellvertretender Kammeramtsdirektor; 1985-2000 Direktor der AK Wien und (damit) des Österreichischen Arbeiterkammertages (jetzt: Bundesarbeitskammer)
Seit 1982 Lehrauftrag für Arbeitsrechtspolitik und seit 1986 Honorarprofessor an der Universität Salzburg
Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Arbeits- und Sozialrecht sowie der Gesellschaft für Gesetzgebungslehre; Mitglied der Kodifikationskommission beim Sozialministerium und der Grundrechtskommission beim Bundeskanzleramt
Schriftleiter der Zeitschrift »Das Recht der Arbeit«; Vorsitzender des Redaktionskomitees der Zeitschrift »Arbeit&Wirtschaft« (bis 2001); ­Autor von Kommentaren zu arbeits- und sozialrechtlichen Gesetzen sowie zahlreicher Abhandlungen
Seit 2005 Vorsitzender des Beirats der WGK, Mitglied des Beirats beim Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger

Arbeit&Wirtschaft: Kollege Cerny, ­Gratulation zum 70. Geburtstag. In den vergangenen 50 Jahren hast du die ­österreichische Sozialpartnerschaft aufseiten der ArbeitnehmerInnenvertretung mitgeprägt. Schwerpunktthema dieser A&W ist ArbeitnehmerInnenschutz - dazu gehört auch das Thema Arbeitszeit, mit dem du dich intensiv befasst hast.

Josef Cerny: Arbeitszeit war schon immer ein zentrales Thema der Sozialpolitik - sogar ihr Ursprung. Die ersten Arbeitszeitbegrenzungen gab es in der Monarchie, allerdings nicht aus Gründen des Arbeitsschutzes, sondern um wehrfähige Soldaten zu bekommen. Dieses Motiv spielt zwar keine Rolle mehr, aber ArbeitnehmerInnen- und Arbeitszeitschutz sind nach wie vor zentrale Themen der Sozialpolitik. Hier passiert derzeit in vielen Bereichen Verschleierungstaktik, wie die ständig wiederkehrende Diskussion über »Flexibilisierung« -  dabei sind rechtliche Möglichkeiten, Arbeitszeiten an die Bedürfnisse der Betriebe und der Branchen anzupassen, in ausreichendem Maße vorhanden. Trotzdem wird immer wieder beklagt, dass das Arbeitszeitrecht zu starr sei und man Flexibilisierungsmöglichkeiten schaffen solle. Inzwischen müsste man draufgekommen sein, dass es dabei einfach um Lohnkürzungen durch den Wegfall von Überstundenzuschlägen geht. Hält man sich vor Augen, dass wir trotz Arbeitszeitverkürzung in den 1970er-Jahren heute bei einer Unmenge von Überstunden stehen und viele ArbeitnehmerInnen bis zu 60 Stunden und mehr in der Woche arbeiten, muss man sagen, unter dem Gesichtspunkt des ArbeitnehmerInnenschutzes wäre eher eine Arbeitszeitverkürzung oder -beschränkung notwendig.
Hauptaufgaben der Arbeitnehme­rInneninteressenvertretung sind die Information über die Auswirkungen einer übermäßigen Inanspruchnahme der Arbeitskraft und die Schaffung entsprechender Schutzbestimmungen. Im Arbeitnehmerschutz ist sehr viel Positives. Die Zahl der Arbeitsunfälle ist zurückgegangen, und die Zahlen der Langzeitgeschädigten und Toten sind gesunken. Da ist viel erreicht worden, aber das reicht nicht aus. Es muss auch bei scheinbar kleineren Fragen mehr Bewusstsein bei den KollegInnen geschaffen werden.
Im Übrigen hat das auch volkswirtschaftliche Auswirkungen. Ich finde es geradezu absurd, dass man derzeit über eine Beschränkung der Invaliditätspension nachdenkt und die Leute in Rehabilitation schicken möchte, anstatt darauf zu achten, dass sie während des aktiven Arbeitslebens gesund bleiben, dass der Arbeitnehmerschutz funktioniert, dass die Menschen länger in Arbeit bleiben können und dann - altersgerechte - Arbeitsplätze haben.

Was würdest du in 50 Jahren Engagement für die ArbeitnehmerInnen dieses Landes als deine größten Erfolge sehen?

An und für sich mag ich Rückblicke anlässlich des 70ers nicht so sehr. Das Buch »Zeitenblicke« mit Beiträgen aus verschiedenen Zeiten hat mich aber zu einer Art Rückblick gezwungen. Der hat nur dann einen Sinn, wenn man Schlüsse für künftige Entwicklungen zieht. Nur zurückschauen heißt stehen bleiben; nur nach vorne schauen, ohne zu wissen, woher man kommt, heißt die Orientierung zu verlieren. Nur beides zusammen ergibt Sinn und Anstöße für neue Diskussionen und neue Entwicklungen. So ist das Buch gemeint. Wichtige Ereignisse im Rückblick waren die Sozialpartnerverhandlungen über die Arbeitsverfassung, das Urlaubsrecht, das Abfertigungsrecht - Maßnahmen, die sich unter Sozialminister Gerhard Weißenberg in den 1970er-Jahren entwickelt haben.
Was die AK betrifft, betrachte ich es als wichtigen Erfolg, dass wir Anfang der 1990er-Jahre rechtliche und organisatorische Grundlagen für eine Reform gelegt haben. Bei der Mitgliederbefragung 1996 haben wir die positive Antwort auf diese Reform bekommen und damit den Bestand und den Ruf der AK für die Zukunft abgesichert. Ich glaube, das positive Standing, das die Arbeiterkammern heute haben, geht auf diese Reformen in den 1980er- und 1990er-Jahren zurück.

Wie du richtig sagtest, muss es auch den Blick nach vorne geben. Was sind die großen Themen, die, deiner Einschätzung nach, auf AK und ÖGB zukommen?

Es ist dringend an der Zeit, einen neuen Arbeitnehmerbegriff zu schaffen. Da müssen auch die Gewerkschaften über ihren Schatten springen. Die Differenzen über einen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff sind ja eine der Ursachen, dass es bisher nicht zu einer Kodifikation des Arbeitsrechts mit allen Konsequenzen gekommen ist. Jeder Gewerkschaftskongress in den vergangenen 50 Jahren hat diese Forderung erhoben, sie steht in jedem Regierungsprogramm, auch im aktuellen - es ist höchste Zeit, diesen Schritt zu tun.
Notwendig ist auch eine Erneuerung der Arbeitsverfassung in den Bereichen, die den praktischen Gegebenheiten nicht mehr entsprechen. Dazu gehört es meiner Ansicht nach, neue flexiblere Organisationsformen sowie Zusammenschlüsse zwischen Interessenvertretungen zu ermöglichen, in den Betrieben verschiedene Organisationsmöglichkeiten durch Kollektivvertrag neu zu regeln. Da gibt es eine Fülle von Möglichkeiten.
Das ganz große Thema neben Arbeitsrecht und Arbeitsverfassung bleibt die Aufrechterhaltung der sozialen Sicherheit. Wir müssen das Sozialsystem und das Pensionssystem langfristig sichern und weiterentwickeln. Auch der Bereich der Pflege wird in Zukunft mehr und mehr an Bedeutung gewinnen - schon allein aufgrund der demografischen Entwicklung. Das darf nicht als finanzielle Belastung, sondern muss als gesellschaftliche Verpflichtung gesehen werden. Statt Horrorszenarien über die Kosten des Alterns zu verbreiten, sollte man sich darüber freuen, dass die Menschen länger leben. Natürlich verursacht das Kosten, aber die müssen von einer Gesellschaft, die sich zu den Grundwerten Solidarität und soziale Gerechtigkeit bekennt, auch solidarisch getragen werden. Außerdem bietet der Ausbau des Pflege- und ­Gesundheitssektors auch enorme Chancen für künftige Arbeitsplätze.

Du hast von sozialer Sicherheit gesprochen. Die wird gerne heftig diskutiert mit Schlagworten wie soziale Hängematte.

Ich habe da immer wieder Déjà-vu-Erlebnisse. Solche Diskussionen kenne ich seit mehr als 30 Jahren; wenn man sich die Argumente ansieht, die dabei verwendet werden, dann sind es immer wieder die gleichen: Es hängt alles an der demografischen Entwicklung, man tut so, als wäre die ein Naturgesetz. Natürlich gibt es diese demografische Entwicklung. Aber dass daraus automatisch die Unfinanzierbarkeit des Pensionssystems folgt, ist ein Schmäh, der nicht zuletzt dazu gedient hat, das Geschäft der Privatversicherungen anzukurbeln. Das Geld muss ja auch für die Sicherung der Pensionen vorhanden sein, wenn sie privat finanziert werden. Will man, dass das Geld vorhanden ist und aufgebracht wird, ist das auch machbar. Die wichtigsten Faktoren für eine langfristige Sicherung des Systems der sozialen Sicherheit sind Beschäftigung, Produktivität und eine gerechte Verteilung der Beiträge. Letztlich ist es immer eine Frage der politischen Wertung und Entscheidung, welche Priorität soziale Sicherheit haben soll.

In deine Zeit als AK-Direktor ist auch der EU-Beitritt Österreichs gefallen - wie stehst du zur EU?

Das Schlagwort von der europäischen Sozialunion ist ein Schlagwort geblieben. Die EU war immer eine Wirtschaftsunion, wirtschaftliche Ziele wie Wettbewerb und Profit sind immer im Vordergrund gestanden. Daran hat auch die neue EU-Verfassung nichts geändert. Es gibt zwar einen Katalog von sozialen Grundrechten darin, aber die stehen auf dem Papier und von einer Umsetzung sind wir weit entfernt. Trotzdem ist in der Sozialpolitik einiges auch positiv zu sehen. Die EU-Vorschriften auf dem Gleichbehandlungssektor haben z. B. auch innerstaatlich dazu geführt, dass das Gleichbehandlungsrecht weiterentwickelt worden ist. Was jetzt geschehen muss ist, dass die gesellschaftliche Realität diesen Rechtsnormen weiter folgt und angepasst wird.
Auch im Arbeitnehmerschutzrecht sind sehr positive Impulse von der EU ausgegangen, aber eben aus wirtschaftlichen Gründen, um die Arbeitskraft der Beschäftigten für die Wirtschaft zu erhalten und nicht, um die Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern. Die EU ist eine Wirtschaftsunion. Wie schwierig dort sozialpolitische Themen zu behandeln und unterzubringen sind, sieht man nicht nur an den Bestrebungen, die Mitbestimmung auf EU-Ebene weiterzubringen. Stichwort Betriebsräte-Richtlinie - das war ein jahrzehntelanger Kampf oder jetzt der Kampf um Neuregelung der Arbeitszeitrichtlinie. All das scheitert immer wieder am Widerstand von Wirtschaftslobbys oder an Staaten, die eine andere Sozialpolitik betreiben, als wir sie uns in der EU wünschen.
Wenn man erreichen will, dass die Menschen die EU nicht nur als anonymen bürokratischen Moloch oder als Hort des Neoliberalismus erleben, muss die immer wieder in Sonntagsreden beschworene »soziale Dimension« der EU endlich realisiert und für die Bürger spürbar werden.

Du warst auch als ArbeitnehmerInnenvertreter in der Grundrechtsreform …

Das ist auch so ein Jahrzehnteprojekt, das bis heute nicht zum Abschluss gekommen ist - trotz Österreich-Konvent vor einigen Jahren. Es ist von Beginn der Diskussion an darum gegangen, dass es neben den bürgerlichen Grundrechten, die als Konsequenz der bürgerlichen Revolution des 19. Jahrhunderts entstanden sind, keine sozialen Grundrechte gibt. Ich meine damit Grundrechte, die der Bürgerin, dem Bürger Anspruch auf gewisse Leistungen des Staates sichern; nicht nur Freiheitsräume, wie es die bürgerlichen Grundrechte tun. Mitte der 1980er-Jahre hat es so ausgesehen, als ob diese Reform in Österreich tatsächlich zustande käme. Es hat bereits einen ausformulierten und sozialpartnerschaftlich verhandelten Grundrechtskatalog gegeben. Letztlich ist alles dann an einem österreichischen Phänomen gescheitert. Es wurde als politischer Preis dafür verlangt, dass auch der Bestand und die Förderung der Landwirtschaft als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen werden. Nachdem das nicht geschehen ist, ist der ganze Grundrechtskatalog nicht zustande gekommen.
Beim Österreichkonvent hat es aber einige positive Bekenntnisse und sogar Teilergebnisse gegeben - so gibt es seit 2008 eine Garantie der Sozialpartnerschaft und der sozialen Selbstverwaltung in der Bundesverfassung. Aber soziale Grundrechte, wie die Rechte auf Arbeit, soziale Sicherheit, angemessene Arbeitsbedingungen, die seit Jahrzehnten z. B. in der Europäischen Sozialcharta stehen, gibt es in der österreichischen Bundesverfassung nach wie vor nicht. Das wäre eines der größten Projekte der nächsten Zeit, aber dafür braucht man eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Es wäre sehr wichtig, sozialen Rechten ein festes politisches Fundament zu schaffen, damit sie nicht Spielball der Tagespolitik bleiben.

Können wir es uns leisten, solche Grundrechte in der Verfassung zu verankern?

Das ist die alte Diskussion über die Finanzierbarkeit des Sozialstaates. Ich will es nicht auf die Primitivformel mit den Abfangjägern bringen, aber Entscheidungen über die Verwendung des Budgets sind politische Entscheidungen, und da die richtigen Prioritäten zu setzen würde es ermöglichen, soziale Grundrechte auch zu verwirklichen. Das ist letztlich eine Frage der Verteilungspolitik. Allerdings muss man auch vor Illusionen warnen. Wer unter einem Recht auf Arbeit z. B. versteht, dass ihm lebenslang ein bestimmter Arbeitsplatz garantiert wird, der gibt sich einer Täuschung hin. Das kann kein Staat. Was man garantieren kann ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Leistung des Staates für den Arbeitsmarkt, ausreichend Geld zur Verfügung zu stellen, den Menschen auch Arbeitsplätze anzubieten. Und zwar durch Bildung, durch Umschulung, durch positive Förderung des Arbeitsmarktes. So verstanden würde ein Recht auf Arbeit auch Verpflichtungen des Staates bedeuten für ausreichende Finanzierung zu sorgen.

Wir danken für das Gespräch.

Katharina Klee für Arbeit&Wirtschaft

Kontakt
Schreiben Sie Ihre Meinung
an die Redaktion
aw@oegb.at

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum