topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Zeit für Lebensqualität Die Folgen der Ausgrenzung von Erwerbsarbeit sind hinlänglich bekannt: Verarmung, soziale Desintegration, gesundheitliche Gefährdung und Kriminalisierung, besonders unter jungen Menschen.
Buchtipp

Zeit für Lebensqualität

Schwerpunkt

Ein außergewöhnliches Experiment der Arbeitszeitverkürzung machte im ­Deutschland der Neunzigerjahre von sich reden.

Das Beispiel der Arbeitszeitverkürzung des Wolfsburger VW-Werkes könnte auch heute noch, nachdem es bereits wieder Geschichte ist, ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um neue Formen der Arbeitszeitgestaltung sein. Um die Arbeitslosigkeit innerhalb von fünf Jahren halbieren zu können, wäre ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent nötig: Eine unrealistische Vorstellung, meint WIFO-Experte Markus Marterbauer. Er plädiert für sinnvolle und innovative Formen der Arbeitszeitverkürzung, wie kürzere Vollzeit oder längere Bildungskarenz. Eine Verkürzung der Arbeitszeit um zehn Prozent (von 39 auf 35 Stunden) würde innerhalb von fünf Jahren 130.000 zusätzliche Jobs bringen. Die Arbeitslosigkeit könnte allein durch diese Maßnahme um 2,7 Prozent sinken.

Verlorene Zeit

Trotz aller politischen Gegenmaßnahmen wie Kurzarbeit sind in Österreich durch die Krise 70.000 Arbeitsplätze allein in der Industrie verloren gegangen - einem Sektor mit viel Vollzeitbeschäftigung und relativ hohen Einkommen. Auch in Deutschland Anfang der 1990er-Jahre hatten der verstärkte internationale Wettbewerb und Rationalisierungen in der Produktion zu massivem Abbau von Beschäftigten geführt.
Das Beispiel der Volkswagen AG gilt heute noch als Novum im Versuch, die Folgen der Krise nicht ausschließlich auf die ArbeitnehmerInnen abzuwälzen. Ziel der Arbeitszeitverkürzung war 1994 eine solidarische Umverteilung von Arbeit und Einkommen. Vorrangig, um Entlassungen zu vermeiden. Die Wirkungen gingen weit darüber hinaus.
Unter dem Titel "Arbeitsstile - Lebensstile - Sustainability" untersuchte das Wissenschaftszentrum Berlin die Folgen der massiven Arbeitszeitverkürzung. Fokus der Studie sind die sozialen Dimensionen der Arbeitszeitpolitik und der veränderten Arbeitszeitmuster, die zuvor kaum beachtet worden waren.

Folgen

Die Folgen der Ausgrenzung von Erwerbsarbeit sind mittlerweile hinlänglich bekannt. Sie führt zu Verarmung, sozialer Desintegration, Gesundheitsgefährdung und Kriminalisierung, besonders unter jungen Menschen. "Marktwirtschaftliche Konzepte kennen die freie Zeit nur in zweifacher Weise", meinen die Autoren der Studie Volker Hielscher und Eckart Hildebrandt. "Als konsumintensive Reproduktionszeit oder als verlorene Zeit." Die sogenannten (überbeschäftigten) Leistungseliten haben ausreichend Zeit und Einkommen für kommerziellen Konsum. ArbeitnehmerInnen in instabilen und prekären Verhältnissen fehlt es an Geld für "konsumative" Freizeit. "In dieser Hinsicht", so die Autoren, "ist die Arbeitszeitverkürzung nicht nur danach zu beurteilen, wie viele Arbeitsplätze sie sichert, sondern auch, inwiefern sie zur selbstbestimmten Lebensgestaltung der Arbeitnehmenden beitragen kann."
Hier orten die Studienautoren grundlegende Ambivalenzen. Wichtige Folgen und Kosten der Arbeitszeitflexibilisierung treten für die Beschäftigten außerbetrieblich auf. Etwa durch die Kosten für die zunehmend individualisierte Freizeitgestaltung. Von der öffentlichen Hand wird häufig erwartet, das Angebot ihrer Dienstleistungen an die flexibilisierten Zeiten der Unternehmen anzupassen. Der Gewinn an freier Zeit wird oft von Einkommensverlust und Zukunftsängsten begleitet. Bei familiengerechten oder lebensphasenabhängigen Arbeitszeiten könnte durch flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit mehr "Zeitsouveränität" für die Einzelnen entstehen. "Andererseits gerät auch die Nutzung der freien Zeit der Beschäftigten zunehmend in Abhängigkeit der jeweiligen betrieblichen Erfordernisse."
Empirisch untersucht wurden die gestellten Fragen am Beispiel des VW-Werkes in Wolfsburg. In mehrfacher Hinsicht ein "Modellfall". Werk und Stadt sind auf das Auto und die Konzernzentrale ausgerichtet. Der Arbeitskräftebedarf war die Voraussetzung für die Entstehung der Stadt Wolfsburg aus der ursprünglichen Werksiedlung.
Per 1.1.1994 wurde für die deutschen VW-Werke ein "Tarifvertrag zur Sicherung der Standorte und der Beschäftigung" geschlossen. Dessen Zentrum war die unternehmensinterne Umverteilung von Arbeitsvolumen durch Senkung der Arbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich. Gewerkschaften und Unternehmensführung hatten damit Tabus gebrochen: Das Unternehmen anerkannte erstmals die Wirksamkeit von Arbeitszeitverkürzung zur Sicherung der Beschäftigung. Die IG Metall rückte von ihrem bisherigen arbeitszeitpolitischen Prinzip des vollen Lohnausgleichs ab.

Einkommensverlust?

Möglich wurde die Reform auch durch das (ursprünglich) überdurchschnittliche Einkommen der VW-Beschäftigten. Durch Umverteilung von Urlaubsgeld und Sonderzahlungen konnte das monatliche Bruttogehalt beibehalten werden. Die Jahreseinkommen verringerten sich somit um durchschnittlich 16 Prozent.
Der ausgehandelte Tarifvertrag galt ausnahmslos für alle Beschäftigten der deutschen VW-Werke, unabhängig von der unterschiedlichen Auslastung einzelner Bereiche und Standorte. Mit den 1994 rund 44.700 Beschäftigten war die Umsetzung äußerst kompliziert. Zentrale Rolle bei der Koordination im Werk hatte die betriebliche Interessenvertretung. Am Ende einer dreimonatigen Planungsphase standen rund 150 verschiedene Arbeitszeitmodelle, ausgerichtet an drei Grundformen.
Grundsätzlich aber bedeutete jede zeitliche Entlastung eine Verbesserung der Lebensqualität der Beschäftigten, unabhängig ob täglich verkürzte Arbeitszeit, Vier-Tage-Woche oder Fünf-Tage-Woche mit einem "Blockfreizeitmodell".
Viele Beschäftigte fanden die Vier-Tage-Woche als günstigste der realisierten Regelungen. Nicht nur im kleinen Sample der zitierten Studie, auch insgesamt scheint die Zufriedenheit mit diesem Modell verkürzter Arbeitszeit am größten, wie andere Untersuchungen zeigen. "Darin könnte ein Potenzial für die Gestaltung neuer Arrangements der Lebensführung liegen, die die Sphären von Erwerbsarbeit und Freizeit anders gewichten", meinen die Autoren Hielscher und Hildebrandt.
"Es ist unheimlich leicht, sich an die Vier-Tage-Woche zu gewöhnen", kommentierte etwa einer der interviewten Arbeiter. "Vier-Tage-Woche - das ist wunderschön. Freitag, Samstag, Sonntag freie Zeit, nicht fremdbestimmt. Am Freitag bin ich dann immer - ruckzuck - mit dem Saubermachen durch. Dann gehe ich in den Kindergarten, spiele ein bisschen Klampfe und singe mit den Kindern. Samstag gehts in den Garten hinaus, am Sonntag gehen wir schwimmen, in den Chor singen oder mit Freunden aus. Das nenne ich Leben."

Rücknahme

Während der Laufzeit des Projekts veränderten sich allerdings die Bedingungen. Die auf zwei Jahre angelegte Arbeitszeitverkürzung wurde schrittweise wieder aufgehoben. Eine verbesserte Auftrags­lage erforderte erneut Mehrarbeit. Für rund 15.000 Beschäftigte wurde die Arbeitszeit wieder auf 36 Stunden angehoben und zusätzlich Modelle der Gleitzeit eingeführt.
Der Modellfall Volkswagen AG Wolfsburg hat erstmals die Fragen von Arbeitszeitverkürzung mit den Folgen auf die Lebensqualität und Lebensführung der Beschäftigten verknüpft.
"Ein breit angelegter Diskurs um Lebensqualität mit neuen Vorstellungen über das Verhältnis von Zeitwohlstand und materiellem Wohlstand, wie er in akademischen Gruppen und alternativen Milieus geführt wird, steht in der Industriearbeiterschaft noch aus", resümieren die beiden Forscher. In der Diskussion um neue Formen von Arbeitszeiten ist die Lektüre des Buches jedenfalls ein wertvoller Beitrag.

Schreiben Sie Ihre Meinung
an die Autorin
gabriele.mueller@utanet.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum