topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Freier Bildungs-Transfer Nach Schulschluss wird es eng am Stöberplatz in Wien-Ottakring. Die Erdgeschoss-Räumlichkeiten des Nachbarschaftszentrums 16, eine Einrichtung des Wiener Hilfswerks, sind zum Bedauern von Leiterin Verena Mayrhofer-Ilji, 42, beengt.
Buchtipp

Freier Bildungs-Transfer

Schwerpunkt

In zwei Wiener Projekten wird Bildung gerecht verteilt.

Kinder aus sozial schwachen Familien und mit Migrationshintergrund profitieren.
Gute Gedanken. Die EU-Kommission hat 2011 zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit (EFJ) ausgerufen, am "Österreich darf nicht sitzen bleiben"-Bildungsvolksbegehren wird gebastelt. Andere handeln längst. Stefan Unterberger, Jahrgang 1952, ist Obmann des "Vereins für Sozialen Ressourcen-Transfer". Mit der WIENER LERNTAFEL wurde im Simmeringer Gasometer ein Vereinsprojekt ins Leben gerufen, das Schulkindern von sechs bis 14 Jahren gratis Lernhilfe bietet. Unterberger: "Wir unterstützen finanziell und sozial benachteiligte Familien, die alles geben, aber kein Budget für Nachhilfestunden haben."

Gratis Lernhilfe

Gratis Lernhilfe heißt viel unbezahlte Arbeit. Der Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschafter arbeitet als Beziehungsforscher und Kommunikations-Coach großer Betriebe, geht um Mitternacht zu Bett, steht um 5.40 Uhr wieder auf. Ehrenamtliche Arbeit bis halb neun, dann "Brotjob". Zwei Jahre verbrachte Unterberger, der zweisprachig aufgewachsen ist und die American International School in Wien besuchte, im Vorstand der "Wiener Tafel": "Anfangs war es ein Studentenprojekt, nach zehn Jahren unermüdlichen Einsatzes kann sich das jährliche Ergebnis sehen lassen. Mehr als 400 Tonnen Lebensmittel werden gesammelt und an Bedürftige in Wien verteilt."
Die Ergebnisse der Studie "In Armut aufwachsen" (Institut für Soziologie, 2009) - Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund oder von AlleinerzieherInnen sind besonders stark von Armut betroffen - bestärkten ihn in der Idee. "Als empirischer Sozialforscher habe ich mich gefragt, ob eine private Organisation diesen Kindern helfen kann." Sie kann. Die WIENER LERNTAFEL ist Stefan Unterbergers persönlicher Beitrag zur "Bildungs- und Ausbildungs-Chancengleichheit von Kindern in Wien". Als wissenschaftliche Beiräte fungieren die ExpertInnen Max Friedrich, Günter Haider, Brigitte Sindelar und Sabine Völkl-Kernstock.
Ehrenamtliche HelferInnen heißen LernhilfegeberInnen: "Wenn ich Lehrer sage, dann schließen wir damit andere schon wieder aus." Pro Tag werden vier Stunden Lernhilfe - je 50 Minuten - in Mathematik, Deutsch und Englisch angeboten. Die SchülerInnen bekommen Einzelunterricht, dafür stehen zehn Glaskojen zur Verfügung. Gut die Hälfte hat Migrationshintergrund, die andere Hälfte sind Kinder von AlleinerzieherInnen. Unterberger: "Uns ist wichtig, die Kinder so zu nehmen, wie sie sind. Ohne Etikett, ohne Beurteilung. Wir sehen nur das Beste im Kind." Weg vom Fehlersuchen, hin zum Lob. Keine Vorurteile verbindet der Kommunikations-Coach, Vater eines 21-Jährigen und einer 10-Jährigen, auch mit den Eltern: "Oft sind es sehr gebildete Menschen, die hier keine Anerkennung finden. Es ist längst keine Quoten-, sondern eine Anerkennungsfrage. Unsere Gesellschaft zeigt leider mehr desintegrative als integrative Bewegungen." Wunschszenario: "Ich träume von vernetztem Lernen unter Berücksichtigung der kindlichen Gegebenheiten."
Für die "WIENER LERNTAFEL", die gratis Lernhilfe leistet, aber auf Unterstützung - etwa bei Mietkosten - angewiesen ist, werden laufend SponsorInnen gesucht. Weshalb sich Unterberger dem ehrenamtlichen Stress aussetzt, beantwortet er ohne Zögern: "Ich spiele weder Golf, noch habe ich andere Hobbys und bin mit der wunderbarsten Frau der Welt verheiratet. Mir geht es gut, und darum möchte ich auch etwas zurückgeben." Körperlichen Ausgleich verschafft der Familienhund.

Lernclub im Nachbarschaftszentrum

Nach Schulschluss wird es voll am Stöberplatz in Wien-Ottakring. Die Erdgeschoss-Räumlichkeiten des Nachbarschaftszentrums 16, eine Einrichtung des Wiener Hilfswerks, sind zum Bedauern von Leiterin Verena Mayrhofer-Ilji, 42, beengt. Gemeinsam mit fünf hauptamtlichen MitarbeiterInnen und 20 Ehrenamtlichen organisiert die studierte Germanistin, Pädagogin und Diversitätsbeauftragte tagtäglich ein ansehnliches Programm: u. a. Konversationsgruppe Deutsch, Gesundheits-, Ernährungs- und Sozialberatung, Kochgruppe, Senioren- und Frauenrunde. Doch beliebt ist das NZ 16 vor allem bei Eltern, deren Kinder Lernschwächen haben. In den zehn Wiener NZ (www.nachbarschaftszentren.at) werden seit rund 20 Jahren Lernclubs abgehalten. Am Stöberplatz koordiniert eine Pädagogin die Lernhilfe für 25 VolksschülerInnen und 25 HauptschülerInnen im Alter von 7-16 Jahren - ein Großteil hat türkischen Migrationshintergrund. Zwei Studenten und zwölf PensionistInnen stehen den Kindern ehrenamtlich zur Seite. Viermal pro Woche bekommen die SchülerInnen je zwei Stunden - 50-Minuten-Einheiten - Lernhilfe. "Im Gegensatz zur WIENER LERNTAFEL verlangen wir einen Lernbeitrag. Das geschieht, um die Verbindlichkeit zu erhöhen. Und davon können wir auch unsere Pädagogin bezahlen." Monatlicher Beitrag: 25 bis 40 Euro. Mayrhofer-Ilji: "Der größte Irrtum ist, dass die Lernschwäche ein Migrationsproblem ist. Es handelt sich aber vielmehr um ein soziales Problem. Denn mit Attila Dogudan oder Alev Korun hat offenbar niemand ein Problem." 
Die gebürtige Südtirolerin Mayrhofer-Ilji hat sich "von früh auf mit Identitäten beschäftigt. Ich bin in einem Gebiet aufgewachsen, wo drei Sprachen gesprochen werden". Nach ihrem Umzug nach Wien arbeitete sie mit Kriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien, unterrichtete Deutsch als Fremdsprache und begann 1992 für das Hilfswerk zu arbeiten. Seit 1994 ist sie am Stöberplatz. "Das Nachbarschaftszentrum ist ein offenes Projekt, das sich generell an sozial schwache Familien wendet", erklärt die Mutter zweier Mädchen im Alter von zwölf und acht.
In Kürze soll ein Tandem-Projekt starten: "Wir haben ein frisch pensioniertes Ehepaar, das Türkisch lernen möchte, und türkische Frauen, die Deutsch lernen wollen." Höchst praktische Wissensumverteilung: "Ehrenamtlich zu helfen, bringt Menschen, die viel Wissen haben, auch Bestätigung. Sie leisten einen Beitrag für die Gesellschaft." Dass sich die Eltern um die Leistungen ihrer Kinder sorgen, weiß die Leiterin aus Erfahrung: "Sie zeigen uns sofort, wenn wir einen Fehler in der Hausübung übersehen haben." Zentrale Sorge: "Die Eltern fragen uns, was die Kinder nach der 4. Klasse Hauptschule machen sollen. Ein junger Mann aus der Türkei und ein bosnisches Mädchen, die wir von der Volksschule an begleitet haben, studieren heute. Doch meist sind die Hoffnungen der Eltern zu hoch." Wunschszenario für eine Bildungsreform: "Es muss zuerst in den Volksschulen etwas passieren, bevor es mit der Neuen Mittelschule losgeht. Wichtig sind kleinere Klassen, mehr Betreuung und individuelle Förderung."

30 pro Klasse sind zu viel

Leila*, 16, stammt aus Ägypten, kam mit sechs Jahren nach Wien. "In der Volksschule hatte ich eine Schwäche in Deutsch und Mathematik, wurde von einer Integrationslehrerin betreut", erzählt die Schülerin, die mit ihren Eltern Arabisch spricht und mit ihren vier Geschwistern Deutsch. "Ich finde es richtig, dass ich auch meine Muttersprache gelernt habe. Für meine Eltern ist Bildung ein sehr wichtiger Punkt." Leilas Mutter ist Volksschullehrerin, darf aber hier nicht in ihrem Beruf arbeiten. Nach der Volksschule wechselte Leila in eine Ko­operative Mittelschule, danach in die HTL Mödling und wurde enttäuscht. "Die ersten Worte des Klassenlehrers waren: 'Ihr werdet es nicht schaffen.‘ Viele Lehrer nehmen einem gleich den Mut." Polytechnische Schule statt HTL. Dank eines engagierten Klassenvorstands, ist Leila heute in der fünften Klasse Gymnasium, ihre Schwester geht in die 7. Klasse, die drei jüngeren Geschwister besuchen die Volksschule. Leilas Wunsch: "Die Schüler sollten nicht wegen einem Fünfer sitzen bleiben und mehr Hilfe bekommen. Wenn jemand schlecht in der Schule ist, sollte er gefördert werden. Und 30 Schüler in einer Klasse sind einfach zu viel."

Internet:
Wiener Lerntafel
www.lerntafel.at
Lernclubs in den Nachbarschaftszentren
www.nachbarschaftszentrum.at

Schreiben Sie Ihre Meinung
an die Autorin
sophia.fielhauer@chello.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at

* Name v. d. Red. geändert

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum