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Hilflosigkeit im Überfluss "Ein Zynismus, der in den Spielen der Bessergestellten zum Ausdruck kommt. Charity als gesellschaftliche Veranstaltung bietet einen Einblick in die Charaktere von Menschen, die, wenn sie wollen, spenden können."

Hilflosigkeit im Überfluss

Schwerpunkt

Die Hilfsindustrie boome, meldet der deutsche "Stern". Helfen sei ein Geschäft - und was für eins.

Unter dem Titel "Die Hilfsindustrie - das lukrative Geschäft mit der Hilfe" rechnet der Autor Walter Wüllenweber vor, dass die deutsche Wohlfahrtsbranche zwei Millionen Menschen beschäftige, siebenmal so schnell wie die restliche Volkswirtschaft wachse und jeden sechsten Steuereuro verbrauche. Nicht erklärbar sei, woher die steigende Nachfrage käme, da sich unter anderem Medizin und Gesundheit der Menschen verbessert hätten. Ständig sei die Branche auf der Suche nach neuen Hilfebedarfsfeldern, beklagt das Magazin. Fraglich wäre, ob die Hilfebedürftigkeit mit dem rasanten Wachstum der Hilfen mithalten könne. ... Hilfe!, kann man da nur sagen: Gehen uns jetzt auch die Hilfsbedürftigen aus?

Boomender Sozialbereich

Tatsächlich ist auch in Österreich der Sozialbereich, gemessen an der Zahl der Beschäftigten, der wichtigste Teilbereich des sogenannten Non-Profit-Sektors. Die nicht-gewinnorientierten Vereine und Organisationen leisten Arbeit für Kinder und Jugendliche, Behinderte, MigrantInnen, Pflegebedürftige, Hilfe zur Selbsthilfe, Flüchtlinge, Obdachlose, Gewaltopfer, Spielsüchtige und viele andere mehr.
Sie leisten Entwicklungshilfe oder sind bei Katastrophen und anderen Notfällen zur Stelle. Primäres Ziel ist die Verwirklichung von definierten Sachzielen im jeweiligen Bereich. Per se geht es also um die Steigerung des Gemeinwohls, nicht um den Zuwachs privater Gewinne. Die Abzweigung von Spendengeldern für die eigene Tasche oder fragwürdige Projekte liegen nicht von vornherein in der Natur der Sache.
Auch die Steigerung des persönlichen Mehrwerts im sogenannten Charity-Betrieb ist ein anderes Kapitel. "Bei Charity blitzt manchmal eine grausame Dummheit auf", schreibt der Philosoph Franz Schuh in seinem Buch "Hilfe! Ein Versuch zur Güte". "Ein Zynismus, der in den Spielen der Bessergestellten zum Ausdruck kommt. Charity als gesellschaftliche Veranstaltung bietet einen Einblick in die Charaktere von Menschen, die, wenn sie wollen, spenden können." Ob sie sich etwas Charitymäßiges vorstellen könne, wurde Fiona gefragt, zitiert Franz Schuh einen Society-Magazin-Bericht über die Gattin eines Ex-Ministers. "Ja! Für Tiere und kleine Kinder."
Selbst die Beiträge von Superreichen, meinte der Armutsexperte Martin Schenk zum Thema "Geben und Nehmen", könne nur einen kleinen Teil zu mehr Verteilungsgerechtigkeit beitragen. Wichtiger wäre ein Beitrag zum Sozialsystem über Steuern der obersten zehn Prozent einer Gesellschaft. Hier habe Österreich den Weg eingeschlagen, die Reichen zu schonen. Nicht ausreichend gewürdigt werde auch, so Schenk, dass Sozial- und Hilfsorganisationen ein wichtiger volkswirtschaftlicher Faktor sind. So beschäftigt allein die Caritas Österreich 10.835 hauptberufliche MitarbeiterInnen und über 27.000 ehrenamtlich Engagierte. Insgesamt zahlt die Caritas jährlich rund 2,5 Millionen Euro Soforthilfe an bedürftige Menschen aus.
Wozu Caritas, wenn es den Sozialstaat gibt? - lautet eine der Frequently Asked Questions. "Wir spüren, dass dem Sozialstaat finanzielle Grenzen gesetzt sind. Ohne freiwillige Initiativen, ohne private oder kirchliche Hilfe gäbe es längst keinen finanzierbaren Wohlfahrtsstaat mehr", heißt die Antwort. (www.caritas.at)
Im April des Jahres rief die Berufsvereinigung von Arbeitgebern für Gesundheits- und Sozialberufe (BAGS) via facebook zur "sozialen Landesverteidigung" auf. "Wenn heuer 12,5 Millionen Euro allein für den Grenzeinsatz des Bundesheeres ausgegeben werden, müsse auch die Frage erlaubt sein, wie viel Österreich eine soziale Landesverteidigung wert ist", argumentierte Wolfgang Gruber, Vorstandsvorsitzender der BAGS, die 272 Sozialunternehmen mit rund 80.000 ArbeitnehmerInnen vereinigt.

Arme Sozialbranche

Die Sozialbranche stehe heute mit dem Rücken zur Wand, klagen die VertreterInnen von BAGS. Sie könne die betreuten Menschen nicht mehr vor den immer massiver werdenden Einsparungen abschirmen. "Im Verteilungskampf um immer knapper werdende Budgets haben Pflegebedürftige, Behinderte und sozial Benachteiligte die schwächste Position", meinte BAGS-Chef Gruber angesichts der Folgen der Budgetkürzung um 2,6 Prozent für den Bereich Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie. Massive Probleme in den Bundesländern zeigten bereits konkrete Auswirkungen. So fehlen dem Sozialreferenten in Oberösterreich 24 Millionen Euro zur Finanzierung des bisherigen Leistungsumfanges. Der Verein zur Betreuung psychisch Kranker "pro mente" musste aufgrund von Budgetkürzungen 34 MitarbeiterInnen kündigen. Neben der hohen beruflichen Belastung sehen die Trägerorganisationen auch den Spardruck bei den MitarbeiterInnen. "Sie, die eigentlich ihren KlientInnen Stütze und Sicherheit geben sollten, sind selber immer öfter ausgebrannt", schildert Erich Fenninger, Geschäftsführer der Volkshilfe Österreich. Die Kündigungen seien ein niederschmetterndes Signal. Dabei gilt doch die Sozialwirtschaft als Wachstumsbranche der Zukunft und Arbeitsplatzmotor. Investitionen in den sozialen Sektor hätten höhere Wertschöpfungseffekte als das Bauwesen und fast dieselben wie der Tourismus, berichten Fachleute.

Geschäft mit der Hilfe

"Für die Privatwirtschaft ist die Sozialwirtschaft ein noch zu erschließender Wirtschaftszweig mit enormem Beschäftigungs- und Wachstumspotenzial", schreibt Kathrin Anderson, Absolventin der deutschen Fundraising-Akademie 2007 in ihrem Bericht "Wer zahlt bestimmt. Oder: Die Privatisierung der Wohlfahrt". Fundraising-Aktivitäten setzen dort ein, wo sich der Staat zurückzieht. Betroffen sind weite Teile des Wohlfahrtssektors, Hochschulen, Kultureinrichtungen, Weiterbildungsträger, Entwicklungsdienste und viele andere. "Das Terrain der Hilfeleistungen wird zu einem ideologisch verminten Gebiet. Schließlich wird über die Definition von 'Armut‘ und 'Reichtum‘ auch über die sozioökonomische Struktur und die Machtverteilung einer Gesellschaft verhandelt", meinte Armutsforscher Christoph Butterwegge beim Europaforum der Caritas im Mai 2010.
Die Erbringung sozialer Dienste, etwa die Pflege, ist eine bereits in Kennziffern erfasste Ware, die - ginge es nach den Verfechtern des freien Marktes im Sozialwesen - ebenso gut oder effizienter von gewinnorientierten Unternehmen statt von Caritas oder anderen professionellen Hilfsorganisationen erbracht werden kann. Bei diesem "Outsourcing" zur Disposition gestellt wird das traditionelle Subsidiaritätsprinzip. Dieses sieht bei der Erbringung gemeinnütziger Dienstleistungen (bei weitgehend staatlicher Förderung der Träger) den Ausschluss von gewinnorientierten Unternehmen vor.
Die sozialen Sicherungssysteme, beklagt Armutsforscher Butterwegge, würden zunehmend marktbetriebswirtschaftlichen Leistungs- und Konkurrenzdenken unterworfen. Wie Unternehmen sollen sie nach größtmöglicher kaufmännischer Effizienz streben. Ihr eigentlicher Zweck, Menschen in schwierigen Lebenslagen zu helfen, tritt zurück. Der Zerfall des Gemeinwesens in einen Wohlfahrtsmarkt und Wohltätigkeitsstaat ist die Perspektive, fürchtet der Experte.
"Ginge es nach den neoliberalen Kräften innerhalb der EU, würden die Bildungs-, Wissenschafts-, Kultur-, Umweltschutz- und Wohlfahrtseinrichtungen noch stärker als bisher vom Kommerz beherrscht bzw. von der Spendierfreude privater Unternehmen, Mäzene und Sponsoren abhängig gemacht. An die Stelle des Sozialstaates träte quasi ein Staat der Stifter, privaten Spender und Sponsoren."
Laut Stimmungsbarometer 2009 der Non-Profit-Akademie wird die Finanzierungssituation im NPO-Sektor allgemein negativ eingestuft. Es bestünde die Gefahr der Instrumentalisierung seitens der GeldgeberInnen durch die Schaffung von Abhängigkeiten.
SarkastikerInnen der Branche erkennen durchaus politischen Hintersinn darin, dass dem Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung (2010) das Europäische Jahr der Freiwilligenarbeit folgt.

Internet:
Europäisches Jahr der Freiwilligenarbeit 2011:
www.freiwilligenweb.at 
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin
gabriele.mueller@utanet.at 
oder die Redaktion
aw@oegb.at 

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