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Wer die Menschen lieben will … Die Finanzhalunken, denen von den europäischen, atlantischen Industriestaaten aus der Patsche geholfen wurde - mit riesigen Beiträgen -, die gehören vor ein Nürnberger Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Buchtipp

Wer die Menschen lieben will …

Interview

Der Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler über die Menschenrechte auf Ernährung und Wasser.

Zur Person
Jean Ziegler 
Am 19. April 1934 als Hans  Ziegler in Thun/Schweiz  geboren.
Er ist ein Soziologe, Politiker und Sachbuch- und Roman autor. Von 1967 bis zu seiner Abwahl 1983 und erneut von 1987 bis 1999 war er Genfer Abgeordneter im  Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei. Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderbericht erstatter für das Recht auf Nahrung - zuerst im Auftrag der Menschen rechts kommission, dann des Menschenrechtsrats - sowie Mitglied der  UN-Task-Force für humanitäre Hilfe im Irak. 2008 wurde Ziegler in den Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats gewählt. Er war Professor für Soziologie an der Universität in Genf und der Sorbonne in Paris.
Er ist in zweiter Ehe verheiratet mit der Kunst historikerin Erica Deuber-Ziegler und Vater eines Sohnes.

Arbeit &Wirtschaft: Jean Ziegler, Sie kämpfen seit Jahrzehnten gegen Hunger und Ungerechtigkeit in dieser Welt. Haben Sie jemals selbst Hunger gelitten?

Jean Ziegler: Nein, niemals. Aber ich habe das fürchterliche Elend zu oft gesehen. Die Mangelkrankheiten sind ja das Schlimmste. Noma z. B., kennen Sie das? Diese Krankheit betrifft vor allem unterernährte Kinder, die Infektionen im Mund bekommen - nach und nach wird dabei dann das Gesicht von der Krankheit zerfressen. Das ist eine der schrecklichsten Krankheiten, die durch Unterernährung ausgelöst wird. 80.000 bis 90.000 Kinder sterben jedes Jahr daran, die die überleben sind grausam verstümmelt.

Wann hat Ihr Kampf gegen den Hunger begonnen?

Ich hatte eine glückliche Kindheit, ich wurde geliebt, hatte keinen Hunger, war nicht einsam. In der Pubertät stellt man aber dann Fragen. Und ich habe arme Menschen gesehen, in Holzschuhen, während ich mit dem neuen Fahrrad zur Schule gefahren bin. Als ich meinen Vater, einen Protestanten fragte, warum es diesen Menschen schlecht geht und uns so gut, meinte er, das hat der liebe Gott so geschaffen. Du kannst die Welt nicht verändern. Das war unerträglich für mich. Ich bin dann später nach Paris, habe dort in "Les Halles" Kisten geschleppt und habe mich in der kommunistischen Studentenorganisation engagiert. Schließlich habe ich Jean Paul Sartre kennengelernt, der mich sehr beeinflusst hat.  Später war ich bei der ersten Zuckerkonferenz in Genf zwölf Tage lang Chauffeur von Che Guevara. Als ich ihn gebeten habe, mich nach Kuba mitzunehmen, hat er geantwortet: "Du bist hier geboren. Das Gehirn des Monsters ist hier. Hier ist dein Platz, hier musst du kämpfen."

Und Sie kämpften - z. B. mit Büchern wie "Die Schweiz wäscht weißer". Sie waren Genfer Nationalratsabgeordneter und haben sich als Globalisierungskritiker einen Namen gemacht.

2000 wurde ich zum ersten UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung ernannt. Und jetzt bin ich nach zwei Legislaturperioden von vier Jahren Vizepräsident im Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrates der UNO.

Sie setzen sich für das Menschenrecht auf angemessene Ernährung ein …

Die UNO ist komplett schizophren, weil z. B. die Weltbank, die Welthandelsorganisation, der Weltwährungsfonds und wichtige Regierungen wie die US-amerikanische, die kanadische, die australische sagen, es könne kein Recht auf Nahrung geben. Die haben jeden meiner Berichte abgelehnt, jede meiner Empfehlungen. Die USA haben aber auch den internationalen Pakt über wirtschaftliche und soziale Rechte nicht unterschrieben, haben mich immer bekämpft, jedes meiner Mandate - nicht aus Zynismus, das sage ich gleich. Die sehen das fürchterliche Unglück des Hungers: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, jeden Tag sterben 37.000 Menschen an Hunger und fast eine Mrd. Menschen, von den 6,7 Mrd. die wir sind, ist unterernährt. Und das auf einem Planeten, der an Reichtum übervoll ist. Dieselbe FAO (Food and Agriculture Organisation - Welternährungsorganisation), die diese Opferzahlen, die von niemandem bestritten werden, veröffentlicht, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase der Entwicklung ihrer Produktionskräfte problemlos zwölf Mrd. Menschen mit den empfohlenen 2.200 Kalorien pro Tag ernähren könnte, also die doppelte Menge derer, die jetzt auf der Erde leben. Fazit: Zu Beginn dieses Jahrtausends gibt es keine Fatalität, keinen objektiven Mangel auf diesem Planeten. Ein Kind, das an Hunger stirbt wird ermordet!
Und jetzt komme ich zurück auf Ihre Frage: Die neoliberale Wahnidee ist sehr stark in der UNO. Der US-Botschafter dort weiß um diese Zahlen, um das tägliche fürchterliche Massaker des Hungers, aber er sagt, das kann nur durch eine maximale Marktöffnung, Liberalisierung und Privatisierung aller öffentlichen Sektoren behoben werden. Und wenn die Marktkräfte einmal total befreit sind, am besten, wenn sich der Weltmarkt selbst reguliert, dann sind die Produktionskräfte am meisten entwickelt und dann wird der Hunger resorbiert. Und das stimmt eben nicht! Wir haben jetzt seit 15 Jahren die Globalisierung. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion - einer gute Sache - hat sich der Kapitalismus über die Welt verbreitet, wurden diese Oligarchien des internationalen Finanzkapitals, die Konzerne, geschaffen. Viele, viele öffentliche Sektoren wurden privatisiert; die Waren-, Dienstleistungs- und Finanzströme praktisch total liberalisiert. Nationalstaaten haben fast nichts mehr zu sagen, wenn es um Finanzflüsse geht. Und trotzdem steigen die Leichenberge im Süden. Die neoliberale Theorie ist eine mörderische irrationale Theorie, die von der empirischen Realität widerlegt wird.
Die USA sagen, wenn der Weltmarkt ausnahmsweise nicht funktioniert, dann kommt die internationale Soforthilfe, das Welternährungsprogramm, und dort ist der amerikanische Beitrag sehr hoch. Da helfen sie dann guten Glaubens. Etwa 60 Prozent des Budgets des Welternährungsprogramms für die Soforthilfe werden von Washington bezahlt.
Aber das Budget des Welternährungsprogramms, für die Länder, in  denen die Ökonomien wegen Bürgerkriegen, Naturkatastrophen oder klimatischer Probleme usw. zusammengebrochen sind, wurde dramatisch gekürzt - von sechs Mrd. Dollar vor zwei Jahren auf 3,2 Mrd. Dollar jetzt. Grund dafür ist, dass die Industriestaaten ihren Beitrag nicht mehr leisten, weil sie Mil liarden um Milliarden an ihre Banken bezahlen mussten. Jetzt ist dieses Welternährungsprogramm gelähmt.

Durch die Finanzmarktkrise?

Ein Beispiel: Vor 2009 hat das Welternährungsprogramm für 21 Mio. Kinder in der ganzen Welt von Bangladesh bis Guatemala Schülerspeisungen ausgerichtet - ich habe das in Indien gesehen, in Peru usw. Meist war das die einzige Nahrung, die diese Kinder in 24 Stunden hatten. Diese Schulmahlzeit wurde auf der ganzen Welt ersatzlos gestrichen. Die Finanzhalunken, denen von den europäischen, atlantischen Industriestaaten aus der Patsche geholfen wurde - mit riesigen Beiträgen -, die gehören vor ein Nürnberger Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Rolle der USA im Welternährungsprogramm erinnert mich an die Kritik, die hierzulande an "Tafeln" und "Sozialmärkten" laut wird. Es geht immer mehr in Richtung Gnade, die Armen bekommen Abfälle von unseren Tischen …

So ist es - statt Strukturreformen gibt es Nahrungsmittelhilfe, und die ist jetzt auch noch zusammengebrochen. In den Flüchtlingslagern im Sudan z. B., wo  2,2 Mio. Menschen in 17 Lagern leben, verteilt das Welternährungsprogramm heute Tagesrationen, die 1.000 Kalorien unter dem von der UNO selbst festgelegtem Existenzminimum liegen. D. h. die UNO organisiert - das hören die nicht gerne - die Unterernährung, die zu Agonie und Tod führt, weil sie keine Mittel mehr hat.

Sie kritisieren die zunehmenden Pri vatisierungen - da fällt ja auch das Wasser drunter. Welche Rolle spielt das bei der Welthunger problematik?

Wir im Menschenrechtsrat sagen: Wasser ist ein öffentliches Gut, das darf nicht gehandelt werden. Peter Brabeck-Let mathe, ein Kärntner übrigens und Präsident des Verwaltungsrats von Nestlé, des weltgrößten Lebensmittelkonzerns, meint: Wenn ein Gut knapp ist, muss es einen hohen Preis haben, nur wenn die Menschen bezahlen müssen, tragen sie Sorge und sind sparsam. Das sagen auch Welthandelsorganisation und die USA.
Es ist aber absolut mörderisch. Wenn Wasser nicht mehr ein öffentliches Gut ist, sondern verkauft werden kann, privatisiert wird, werden die Ärmsten ausgeschlossen. 2,2 Mrd. Menschen sind nach Weltbankstatistik in extremster Armut, d. h. sie verdienen weniger als 1,25 Dollar pro Tag. Die haben kein Geld für Nahrung, nachdem 2008 die Nahrungsmittelpreise aufgrund der Börsenspekulationen explodiert sind. Damals sind die Hedgefonds von den Finanzmärkten auf Warentermingeschäfte umgestiegen, auf die Agrarwarenterminbörsen. Im ersten Quartal 2008 ist am Weltmarkt der Preis für Reis um 59 Prozent gestiegen, der für Getreide, Mais und Hirse um 61 Prozent. Und die Preise steigen weiter.
Zurück zum Wasser. Wenn diese 2,2 Mrd. Menschen, die kaum die Nahrung mehr bezahlen können, auch noch das Wasser bezahlen müssten, müssten sie sich Wasser aus den Rinnsalen und den verseuchten Flüssen holen. Die Epidemien, die Durchfallerkrankungen, an denen Kinder sterben, die Blindheit durch Flußbakterien würden explodieren. Der Kampf um Wasser als öffentliches Gut ist absolut entscheidend.
Eine Anekdote: In Nordostbrasilien hat mir eine Mutter erzählt, dass sie, wenn nachts die Kinder vor Hunger weinen, Steine in einen Kessel mit Wasser gibt, diese Steine kocht und den Kindern sagt: "Wartet, bald ist das Essen fertig." Diese Steine machen im kochenden Wasser ein Geräusch und die Mutter hofft, dass die Kinder davon einschlafen. Das ist die Lebenssituation für Millionen von Menschen.

Und gleichzeitig erschließen wir Agrarprodukte als neue Energiequelle!

Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit - auf diesem Planeten, wo alle fünf Sekunden ein Kind wegen Hungers stirbt, Millionen Tonnen von Getreide und Mais zu verbrennen, um Agrartreibstoffe herzustellen.
Voriges Jahr haben die Vereinigten Staaten subventioniert mit sechs Mrd. Dollar 138 Mio. Tonnen Mais verbrannt - ungefähr ein Drittel ihrer Maisernte. Und Hunderte Millionen Tonnen Getreide. Nicht aus Zynismus, mit Argumenten. US-Präsident Obama hat heuer bei seiner Rede "State of the Union" erklärt: "Bioethanol is a national cause" -also Agrartreibstoff ist von nationaler Bedeutung. Warum? Weil die USA als größte Industrienation der Welt, aus der ein Viertel aller Industriegüter pro Jahr kommen, mit Erdöl funktioniert. Die USA verbrauchen Tag für Tag 20 Mio. Barrel Erdöl. Davon werden nur acht Mio. im Inland produziert zwischen Alaska und Texas. Der Rest kommt aus dem Ausland; und zwar aus einem "gefährlichen" Ausland: dem Mittleren Osten, Zentralasien, dem Niger-Delta. Dort müssen die USA riesige Armeen aufrechterhalten, um die Energiequellen zu sichern. Obama will weg von dieser Extremabhängigkeit. Wenn er das Militärbudget nicht herunterfahren kann, kann er in den USA keinen Sozialplan festsetzen. Das kann ich verstehen von einem US-Präsidenten. Aber es bleibt dabei: Nahrungsmittel zu verbrennen, bei der Hungersituation auf dieser Welt, ist unannehmbar und muss verboten werden.
Es gibt technisch die Möglichkeit, Abfall zu verbrennen oder Baumrinde. Aber das kostet viel mehr, als eine ganze Maispflanze zu verbrennen und ist deshalb nicht konkurrenzfähig. So werden weiterhin Getreide und Mais verbrannt.

Und das bei der Weltmarktpreissituation, die Sie angesprochen haben …

Das kommt dazu: die Agrartreibstoff-Strategie trägt natürlich zur Preissteigerung bei. Hunderte Millionen von Tonnen Mais kommen nicht mehr auf den Markt. Dadurch explodiert der Mais-Preis zusätzlich zu den Spekulationen. In Mexiko ist Mais Grundnahrungsmittel - wie in vielen anderen Staaten auch. Ein Beispiel: Wenn Sie den 50-Liter-Tank eines Mittelklassewagens mit Bioethanol auffüllen, müssen Sie 352 Kilo Mais verbrennen - und damit lebt ein Kind in Mexiko ein Jahr lang.

Sie wurden ja als Festredner zur Eröffnung der Salzburger Festspiele ein- und wieder ausgeladen ...

Ich habe es in meinem offenen Brief an Walter Spielmann, den Leiter der Robert-Jungk-Stiftung, der mich daraufhin zur Gegenrede eingeladen hat, geschrieben: "Landeshauptfrau Gabi Burgstaller hatte mich zuvor mit Brief vom 21. Februar 2011 als offiziellen Festredner zur Eröffnung der Salzburger Festspiele eingeladen. Das Thema: ,Kunst und der Aufstand des Gewissens‘. Mit Brief vom 24. März lud mich die Landeshauptfrau wieder aus. Inzwischen hatten - höchster Wahrscheinlichkeit nach - zwei Schweizer Großbanken und ein Nahrungsmittelkonzern, Sponsoren der Festspiele, bei der Landeshauptfrau interveniert. Dass internationale Privatkonzerne bestimmen können, wer in Salzburg reden darf und wer nicht, ist natürlich störend und sicher auch gefährlich für die Demokratie." Die Einladung dieser Plattform der Zivilgesellschaft hat mich geehrt, ich kann sie aber leider aufgrund der aktuell vielen Termine nicht wahrnehmen.

Was kann der/die Einzelne im Kampf gegen Hunger und Ungerechtigkeit tun?

Ich kann da immer wieder nur Jean-Paul Sartre zitieren: "Wer die Menschen lieben will, muss sehr stark hassen, was sie unterdrückt."

Hat Ihnen Ihre Arbeit, Ihr Engagement den Appetit verdorben?

Nein, auch ich esse und trinke gerne gut. Das Leben ist kurz - und schön. Mein Lieblingsgericht sind Felchenfilets aus dem Genfer See, mit weißem Genfer Wein. Aber jetzt schaut meine Frau schon streng und ich muss auflegen.

Wir danken für das Gespräch.

Internet:
Regelmäßige Kolumne in der Zeitung der Schweizer Gewerkschaft Unia "work"
tinyurl.com/5vovmea
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