topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Die Hierarchie des Essens Ein gemeinsames Mahl ist viel mehr als ein Ausdruck von Liebe und Zuneigung, eine Manifestation von Hierarchie. Beim Essen führt der Mann den Vorsitz. Er belegt den besten Platz, er führt das Tischgespräch und er bekommt im Regelfall das beste Stück.
Buchtipp

Die Hierarchie des Essens

Schwerpunkt

Die Industrialisierung hat nicht nur unsere Essensgewohnheiten, sondern auch unsere Speisen maßgeblich geprägt.

Kürzlich erzählte ein Ex-Oberkellner, dass ein Ex-Bankdirektor mit seinen Untergebenen nach spanischem Hofzeremoniell speiste. Diese Art zu dinieren sieht vor, dass der Kaiser (der Bankdirektor) als Erster bedient wird und sofort zu essen beginnen darf. Ranghohe Fürsten (oberes Management) sind die nächsten, während die VertreterInnen des gemeinen Volkes (Betriebsräte) ihr Essen zum Schluss bekommen. Legt der Kaiser den Löffel weg, müssen alle Tischgenossen ebenfalls mit der Suppe aufhören. Kaiser Franz Josef soll regelmäßig Untertanen schikaniert haben, indem er sie zwar zum Essen einlud, sie aber mithilfe des Hofzeremoniells keinen Bissen zu sich nehmen ließ. Auch der Herr Bankdirektor war sich nicht zu blöd, um so im noblen Hotelrestaurant seinen Betriebsräten ihre Stellung zuzuweisen.

Beim Essen hat der Mann den Vorsitz

Gemeinsam essen wird oft und gern als Idealbild von Familie und Freundschaft dargestellt. Das mag zutreffen. Auch wir essen so oft wie möglich mit unseren Kindern und genießen das. Doch ein gemeinsames Mahl ist mehr als ein Ausdruck von Liebe und Zuneigung, es ist auch eine Manifestation von Hierarchie. Beim Essen führt, noch immer, der Mann den Vorsitz. Er belegt den besten Platz, führt das Tischgespräch und bekommt meist das beste Stück. Bei Tisch ist die Frau immer noch Nummer zwei. Verblüffenderweise wird das nicht einmal diskutiert. Der französische Soziologe  Jean Claude Kaufmann hat im Zuge seiner, als "kochende Leidenschaft" veröffentlichten Studie herausgefunden, dass viele Französinnen Fertiggerichte bevorzugen, um ihrer Rolle als Frau zu entfliehen. Sie hätten Zeit zum Kochen. Sie würden auch gerne. Aber sie erinnern sich mit Schrecken an ihre Väter, die nach Hause kamen und sich zum Tischpatriarchen aufspielten. Der Vater kritisierte das Essen, quälte die Kinder mit Benimmregeln und schikanierte die Mutter mit Befehlen. Diese alptraumhafte Erinnerung "drängt" viele Französinnen zum Instantgericht und zur Auflösung der Tischgemeinschaft. Es gilt das Motto: Lieber vier Fertigpizzen an vier verschiedenen Orten, als die bedrückende Chefposition des Vaters.
Wir sind die perfekten Kinder einer Industriegesellschaft, die vor etwas mehr als hundert Jahren ihren Anfang hatte. Viele fertige und halbfertige Nahrungsmittel entstanden im Zuge oder infolge der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese leitete das Ende der Agrargesellschaft ein und führte zu einem rasanten Anstieg der städtischen Bevölkerung. Diese gesellschaftlichen Veränderungen stellten auch Essgewohnheiten auf den Kopf, die neue Masse der ArbeiterInnen musste mit möglichst billigem Essen versorgt werden. Da viele Frauen jedoch in den neuen Fabriken beschäftigt waren und ihnen daher die Zeit zum Kochen fehlte, stieg der Bedarf an nahrhaften Schnellgerichten sprunghaft an. So trieb die industrielle Produktion von Stahl, Tuch, etc. auch die Industrialisierung von Lebensmitteln voran.  "Wer schneller arbeitet, muss auch schneller essen", meinte dazu - viel sagend - Julius Maggi.

Massenprodukt Nahrungsmittel

Mit der Industrialisierung der Lebensmittelherstellung hat Essen eine neue Dimension gewonnen, da Nahrungsmittel plötzlich zu nach immer gleichen Prämissen, in Millionenstückzahl erzeugten Massenprodukten avancierten. Deswegen stammt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Vielzahl innovativer Lebensmittelkreationen und -techniken: Zu nennen sind hier unter anderem lösliches walzengetrocknetes Milchpulver (1855, John A. Just), Kondensmilch (1856, Gail Borden), Liebigs Fleischex trakt (1862, Justus von Liebig), Margarine (1869, Hippolyte Mège-Mouriés), Vanillin (1874, Wilhelm Haarmann), Milchschokolade (1876, Daniel Peter, Henri Nestlé), Cornflakes (1876, John Harvey Kellog; 1906, Will Keith Kellog) oder Trockensuppen (1886, Julius Maggi und Carl Knorr). (Quelle:  Dipl.-Ing. Thomas Birus, (c) Bibliogr. Inst. & F. A. Brockhaus AG, 2003)

Rindsuppe wird zum Suppenwürfel

Erfindungen wie Dampfmaschine, Webstuhl oder Fließband revolutionierten unsere Gesellschaft. Die Industrie eroberte Europa und die USA und veränderte das tägliche Leben und damit auch das Essverhalten nachhaltig. Bauern wurden zu Arbeitern, Hausfrauen zu Arbeiterinnen, zum Kochen blieb kaum noch Zeit. Gegessen wurde während der Arbeit - in der Fabrik. Die Versorgung der explosionsartig wachsenden Arbeiterschaft mit kostengünstigen und nahrhaften Kalorien führte zur industriellen Massenfertigung von Lebensmitteln. Schnell und billig musste Essen sein, nicht schmackhaft und appetitanregend. Die neue, zunehmend maschinelle Erzeugung von Lebensmitteln veränderte Zubereitung und Rezepturen der Gerichte grundlegend. Die industrielle Revolution transformierte nicht nur, was auf den Tisch kam, sondern auch wie es dorthin kam: Flüssige Rindsuppe wurde zu eckigen Suppenwürfeln, frische Milch zu haltbarem Milchpulver, frische Erbsen zu trockenem Erbsenmehl in Wurstform.
Die Entwicklung von Fertiggerichten wurde vorerst vor allem als soziale Notwendigkeit erachtet. Während Thomas Alva Edison die Glühbirne erfand oder Henry Ford das Auto weiterentwickelte, arbeiteten Wissenschafter und Unternehmer wie Justus von Liebig, Julius Maggi oder Henri Nestlé fieberhaft an Methoden und Verfahren, um billige Kalorien für die Masse herzustellen. Fleischextrakte, Instantsuppen und Milchpulver wurden neben der erwarteten Profitabilität auch als soziale Errungenschaften gesehen.
Als besonders nahrhaft und stärkend galt z.B. Rindsuppe. Nachdem der deutsche Wissenschafter Justus von Liebig 1847 erstmals erfolgreich Rindsuppe extrahiert hatte, war die Substanz so teuer, dass sie nur in Apotheken als Arznei gegen Schwindsucht und andere Krankheiten angeboten wurde. Erst als Liebig entdeckte, dass Rindfleisch in Uruguay billiger zu produzieren war, wurde der "Liebig’s extract of Meat" auch für die breite Masse erschwinglich und fand den Weg vom Krankenbett in den Kochtopf. Die neue, reichhaltige Verpflegung auf Fleischbasis ernährte viele Arbeiterfamilien - und legte den Grundstein zur Entwicklung des Suppenwürfels. Wie wirksam sich sozial schwache Schichten mit den neuartigen Speisen versorgen konnten und mussten, zeigt ein Preisvergleich: Um 1910 kostete ein Maggi-Rindsuppenwürfel fünf Heller, während man für ein Kilo Suppenfleisch eine Krone und fünfzig Heller bezahlen musste - fast dreißigmal so viel. So machten die sozialen Veränderungen infolge der industriellen Revolution breite Teile der Bevölkerung von industriell vorgefertigter Massennahrung abhängig, die ihrerseits ein komplett verändertes Essverhalten und weitgreifende gesellschaftliche Umbrüche bewirkte.
Dass der Nährstoffgehalt für das Design von Instantsuppen noch im 20. Jahrhundert entscheidend war, zeigt das Beispiel der Knorr Goldaugensuppe. In der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg wünschten sich Europas KonsumentInnen von ihrem Essen vor allem eines: Möglichst nahrhaft und fettreich sollte es sein. Die Entwicklungsabteilung der deutschen Firma Knorr reagierte, indem sie eine Instant-Rindsuppe mit auffallend vielen Fettaugen schuf, deren Durchmesser mit fünf bis zehn Millimeter normiert wurde, was möglichst große, optische Ähnlichkeit mit echter Rindsuppe bringen sollte. Und weil "Fettauge" nicht besonders appetitlich klingt, wurde es auf der Packung durch Goldaugen ersetzt. (Quelle: Fa. Unilever)

Goldenes Fettauge

Die ErfinderInnen industrieller Nahrung legten Grundsteine für höchst profitable Weltkonzerne. Frauen, die Fertigessen vorsetzen gelten als Rabenmütter. Als KonsumentIn von Industriekalorien wird man müde belächelt. Und da soll das Essen so ein zweitklassiges Thema sein, dass es nur in Gourmetkritiken und Diätratgebern mediale, politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit findet?

Internet:
Mehr Infos unter:
honeyandbunny.com 
Schreiben Sie Ihre Meinung  an den Autor
hables74@aon.at 
oder die Redaktion
aw@oegb.at 

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum