topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Ganz schön schrecklich Medien, die wir hier breit als Mittel zur Verbreitung und Konservierung von Informationen definieren wollen, werden offensichtlich von Gewalt nahezu magnetisch angezogen.
Buchtipp

Ganz schön schrecklich

Schwerpunkt

Aus TV und Kino ist sie ebenso wenig wegzudenken wie aus Boulevardzeitungen: rohe Gewalt. Was fasziniert an Brutalität in den Medien?

Was für eine Story: Zwei Minderjährige werden von ihren Eltern im Wald ausgesetzt, woraufhin eine Menschenfresserin die beiden Schutzsuchenden fängt und in einen Käfig sperrt. Die Unglücklichen sollen gemästet und anschließend verspeist werden! In Todesangst befreien sich die Kinder und verbrennen die Kannibalin bei lebendigem Leib ... Es handelt sich bei dieser Geschichte um das Märchen von Hänsel und Gretel - nur ein Beispiel dafür, dass exzessive Gewaltdarstellung keine Erfindung von Boulevardmedien oder blutrünstigen Splatter-Movies ist. So strotzen gerade viele Märchen und Sagen buchstäblich vor Brutalitäten, aber auch die Bibel ist voll von Beispielen der Blutschande, Mord, Totschlag und Naturkatastrophen.

Schlag nach bei Shakespeare

Im Erbe der Antike entdecken wir ebenfalls umfangreiche Darstellungen realer, aber auch fiktiver Gewalt, die vor penibelsten Detailbeschreibungen nicht zurückschrecken. Ein Beispiel aus Homers Odyssee: "Jetzo holten sie den Ziegenhirten Melantheus, und sie schnitten ihm Nas’ und Ohren mit grausamen Erze ab, entrissen und warfen die blutige Scham vor die Hunde, hauten dann Hände und Füße von Rumpf mit zürnendem Herzen." Auch wer bei Shakespeare nachschlägt, stößt auf mannigfaltige Gräueltaten: So werden etwa in "Titus Andronicus" der Figur der Tamora ihre eigenen Söhne zum Mahl vorgesetzt ... Aber nicht nur fiktionale Medien, auch der Journalismus ist stark von Gewaltdarstellungen geprägt. Hierbei wird oft auf die Informationspflicht und die möglichst wahrheitsgemäße Wiedergabe von - eben auch schrecklichen - Ereignissen verwiesen. Nun muss der/die verantwortungsvolle RedakteurIn natürlich über Morde, Kriege, Terroranschläge etc. berichten, das Schwelgen in solchen Gräueltaten zählt aber sicher nicht zur journalistischen Sorgfaltspflicht. Beispiel 11. September 2011: Anlässlich des zehnten Jahrestages der Terrorattacken in den USA sahen wir in allen TV-Kanälen zum x-ten Mal wie Flugzeuge in das World Trade Center rasten, Menschen in den Tod sprangen und die beiden Türme letztlich in sich zusammenbrachen. Im Kultursender 3sat zeigte man unkommentiert über mehrere Stunden die TV-Bilder des ORF, die vor zehn Jahren live zur Katastrophe gesendet worden waren. Hier stellt sich die Frage: Wo bleibt der Informationsgehalt, wo der Hintergrundbericht und wo die Aufklärungsarbeit? Scheinbar wird all das von der Wiederholung des Schreckens und der Faszination der Gewalt in den Schatten gestellt.
Halten wir fest: Medien, die wir hier breit als Mittel zur Verbreitung und Konservierung von Informationen definieren wollen, werden offensichtlich von Gewalt nahezu magnetisch angezogen. Eine Anziehungskraft, die sich letztlich nur durch das Interesse der RezipientInnen erklären lässt. Sprich: Fänden die LeserInnen, ZuseherInnen, ZuhörerInnen, Internet-UserInnen etc. nicht in irgendeiner Art und Weise Gefallen an der medial präsentierten Gewalt, würden sie die entsprechenden Produkte nicht "kaufen". Was uns zu der entscheidenden Frage führt: Warum kann der Mensch an (auch durchaus realer) Gewalt und den daraus resultierenden Leiden anderer Menschen Freude, Befriedigung, ja sogar Lust empfinden? In der Diplomarbeit "Der hochgeschätzte Massenmörder" ist der Autor dieser Zeilen auf die genannte Problematik eingegangen und stieß bereits bei antiken Denkern auf Antworten.

"Reinigung" durch Gewalt?

So brachte Aristoteles die Katharsisthese ins Spiel. Katharsis bedeutet in diesem Zusammenhang die "homöopathische Reinigung der Affekte": Durch die Erregung von Mitleid und Furcht soll der/die RezipientIn von negativen Stimmungen befreit werden. Aristoteles vertritt also die auch heute noch existierende Theorie, dass durch die mediale Darstellung von Gewalt das Aggressionspotenzial des Publikums abgebaut werden könne. Bezogen auf das griechische Theater zur Zeit Aristoteles’ muss allerdings erwähnt werden, dass nicht so sehr die direkte Gewaltanwendung, sondern ihre negativen Folgen im Vordergrund standen. Aus dieser Aufarbeitung der Gewalt ergibt sich laut Aristoteles die "sozialhygienische Wirkung" - und nicht aus Gewaltexhibitionismus. Weshalb die Katharsisthese für viele Formen aktueller medialer Gewalt (Detailschilderung und permanente Wiederholung der Brutalität statt Erklärung von Ursprung und Folgen) wohl nicht zutrifft.

Die sogenannte "Schreckenslust"

Es muss also noch andere Erklärungsmodelle für die Attraktivität von Gewaltdarstellungen geben. Eine liegt in der sogenannten Schreckenslust begründet. Schon der Schöngeist, Aufklärer und überzeugte Humanist Friedrich Schiller wusste: "Es ist eine allgemeine Erscheinung in unserer Natur, dass uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt, dass wir uns von Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen." (Friedrich Schiller. Werke. Nationalausgabe 1943). Schiller nennt hier neben den drei Quellen von Lust und Vergnügen - nämlich dem Angenehmen, dem Guten, dem Schönen - noch eine vierte: Schrecken und Entsetzen. Wobei Schiller hier im Gegensatz zu früheren Schriften die Lust am Leiden und Grauen nicht als abartig oder unnatürlich ansieht, nicht als vereinzelt auftretende Fehlentwicklung pervertierter Menschen, sondern eben als allgemeine Erscheinung in unserer Natur. Auf diese Lust gehen nun journalistische Medien genauso ein wie Kunst und Kultur. So ist in der Dichtkunst der Begriff des "angenehmen Grauens" seit Mitte des 18. Jahrhunderts präsent, ebenso kennt die englische Sprache Bezeichnungen wie "delightful horror" oder "agreeable horror". Wir können hier von einer Ästhetisierung des Schrecklichen und des Negativen in den Medien sprechen, wobei der deutsche Germanist und Literaturkritiker Richard Alewyn (1902-1979) den Grund für diese Überhöhung in der zunehmenden Naturbeherrschung durch den Menschen sieht. Unter diesem Aspekt fügt Alewyn einen kompensatorischen Ansatz hinzu: Der Mensch habe sozusagen ein Bedürfnis nach Angst. Die moderne Welt der Aufklärung lässt allerdings keinen Platz mehr für traditionelle, der Natur entsprungene Ängste. Der Urwald verkümmert zum Naturlehrpfad, die unheimlichen Urgewalten eines Gewitters lassen sich als elektrische Entladungen erklären. Der moderne Mensch versucht nun, sein Angstdefizit durch künstlichen, in den Medien verbreiteten Schrecken auszugleichen.

"Live" dabei und in Sicherheit

Dieses Streben, die verloren gegangenen realen Ängste durch künstliche zu ersetzen, erklärt die Existenz von Schauer-, Kriminal- und Abenteuerromanen, sowie deren Ausläufer in Form von Presse, Film, Funk, Fernsehen und Internet. KritikerInnen wenden allerdings ein, dass es ja auch in unserer modernen Welt genug reale Ängste gibt - etwa vor Jobverlust, allgemeinem Versagen, Krankheiten und letztlich dem Tod. Müssen wir uns also tatsächlich noch zusätzlich auf "Angstsuche" in den Medien begeben? Ja, denn nur scheinbar paradoxerweise verhel-fen Medien so auch zu einem gewissen Sicherheitsgefühl. Gewalt bereitet in der Regel nämlich nur dann Lust, wenn RezipientInnen nicht selbst durch Gewalt bedroht werden, sondern sie deren sichere BeobachterInnen bleiben. Das erkannte schon der römische Dichter Lukrez, der in "De rerum natura" schreibt: "Angenehm ist es vom Ufer ein Schiff mit den Wellen kämpfen zu sehen, die es verschlingen wollen, oder an einem sicheren Orte Zuschauer einer wichtigen Schlacht zu sein." Gewalt betrifft die BeobachterInnen also nicht direkt, da diese entweder fiktiv ist und/oder nicht auf sie selbst, sondern auf Zweite und Dritte einwirkt. Das gilt für die von Lukrez genannten Beispiele ebenso wie heute für die genüssliche Betrachtung von Naturkatastrophen und Verbrechen im Fernsehen: Man ist "live" dabei, gleichzeitig in Sicherheit und kann sich immer damit trösten, dass es anderen noch viel schlechter geht als einem selbst. Diesem einfachen Schema folgend wird Gewalt noch lange auf dem Programm stehen.

Internet:
Aktuelle Forschungsergebnisse und umfassende Link-Sammlung zum Thema:
www.mediengewalt.de 
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor
haraldkolerus@yahoo.com 
oder die Redaktion
aw@oegb.at 

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum