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Prof. Ingeborg Gabriel "Das müsste durch internationale Steuern wie die Finanztransaktionssteuer korrigiert werden. Doch sie wird, obwohl lange diskutiert und möglich, nicht eingeführt. Da hat sich die City of London durchgesetzt. Das empfinde ich wirklich als skandalös."

"Ohne Solidarität am Holzweg"

Interview

Die Leiterin des Instituts für Sozialethik, Ingeborg Gabriel, über Neoliberalismus, Finanztransaktionssteuer, Politik und Moral.

Arbeit&Wirtschaft: Prof. Ingeborg Gabriel, Sie sind Leiterin des Instituts für Sozialethik und Herausgeberin des eben erschienenen Buchs "Solidarität in der Krise: Auf der Suche nach neuen Wegen" - ein aktuelles Thema?

Ingeborg Gabriel: Ich finde das Thema hochaktuell, auch das Thema Gemeinwohl - das klingt alles etwas verstaubt, aber das sind die Dinge, über die wir genau jetzt reflektieren müssen. Es ist beunruhigend, was die letzten zwei Jahrzehnte gelaufen ist, und wie wir dieses verlorene Terrain wieder gewinnen, das scheint mir die zentrale Frage zu sein. Man hat bestimmte Ideen und damit Vorstellungen in einem neoliberalen Denken völlig ausgeklammert - das gilt für Gerechtigkeit, das gilt für Solidarität und das gilt für Gemeinwohl. Das sind aber notwendige Begriffe, um die gegenwärtige Situation zu reflektieren.

Was bedeutet Solidarität für Sie?

Der Begriff Solidarität war die letzten Jahrzehnte unterbelichtet. Wir haben auf Eigeninitiative, auf Individualisierung gesetzt, was eine gewisse Berechtigung hat, aber das muss ausbalanciert werden durch ein starkes Gefühl für den sozialen Zusammenhalt, und das heißt Solidarität. Solidarität kommt von in solidum im Römischen Recht, d. h. man haftet gemeinsam für eine Sache. Der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und natürlich auch weltweit verlangt Solidarität. Wenn wir das ausblenden, werden unsere Gesellschaften nicht nur inhuman, sondern auch unser Wohlstand ist nicht mehr haltbar. Die Grundlage unserer Gesellschaften ist, dass Menschen füreinander einstehen, dass nicht nur die, die leistungsstark, leistungsfähig sind, Rechte haben, sondern auch diejenigen, die nicht arbeiten können, entweder weil sie zu jung, zu alt oder krank sind. Eine Gesellschaft besteht nicht nur aus leistungsstarken, ihre Leistung immer stärker betonenden Individuen, sondern aus sehr vielen Menschen - und wir alle sind in irgendeiner Phase unseres Lebens in der Situation, dass wir auf die Solidarität anderer angewiesen sind. Wenn eine Gesellschaft das nicht mehr sieht, ist sie auf dem Holzweg.

Der Sozialstaat ist in Gefahr - in ganz Europa wird gespart, mit verheerenden Folgen für die Menschen in Portugal, Spanien, Rumänien und Griechenland. In einem Gastkommentar in der Tageszeitung "Die Presse" kritisierten Sie die aktuelle EU-Politik. Sie befürchten einen Kollaps der Demokratie?

Die gegenwärtige Finanzkrise ist nicht ausgestanden, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Sie ist wirklich bedrohlich, das ist inzwischen allen klar. Und zwar aus zwei Gründen: Einerseits, weil die Finanzwirtschaft die Realwirtschaft in Geiselhaft genommen hat. Und andererseits, weil die Finanzwirtschaft die Staaten teilweise in Geiselhaft nimmt. Wir brauchen eine starke innereuropäische Solidarität, die natürlich nicht unbegrenzt sein kann, das wurde mir oft vorgeworfen nach dem Artikel. Wir müssen jedoch die Realität sehen: inzwischen sind unsere Wirtschaften so miteinander verflochten, dass Griechenland aus dem Euro austreten zu lassen auch für die stärkeren Volkswirtschaften ein großes Risiko bedeuten würde. Innereuropäische Solidarität ist daher nicht nur eine humane Tugend, sondern eine Notwendigkeit. Wir müssen das gemeinsam durchstehen, oder wir begeben uns in unübersehbare Turbulenzen hinein. Das ist die eine Seite der Sache; die andere ist, dass es natürlich auch eine zutiefst menschliche Frage ist. Was mich zunehmend stört, ist, dass nur mehr das wirtschaftliche Eigeninteresse als plausibles und echtes Argument gilt. Das greift aber nicht nur zu kurz, sondern wir höhlen auch die Wirtschaft langfristig aus. Denn Solidarität ist auch die Basis jeder wirtschaftlichen Aktivität.
Um es konkret zu sagen, wenn Schulen nicht mehr finanziert werden, wenn Gesundheitsfürsorge nicht mehr finanziert wird, dann leidet längerfristig auch die Wirtschaft. Das Leben auf die wirtschaftliche Dimension zu reduzieren, führt in eine Sackgasse.
Das gilt auch innereuropäisch. Es sind viele Fehler passiert in Griechenland, es sind auch Fehler passiert in der EU. Wenn es stimmt, dass Griechenland kein ordentliches Steuersystem hat, bitte wieso hat man das nicht schon 1981 festgestellt? Das ist unglaublich. Insofern glaube ich, ist für uns eine Solidarität auf der nationalen Ebene, auf der europäischen Ebene und, nicht zu vergessen, auf der internationalen Ebene lebensnotwendig.

Hat die EU hier einen Pfad der Solidargemeinschaft verlassen oder war das abzusehen?

Ich glaube, dass aufgrund der Einseitigkeit im Diskurs - Stichwort: Neoliberalismus - in den letzten Jahren der Solidaritätsgedanke einfach aus dem Blick verschwunden ist, obwohl er in Artikel 1 des Lissaboner Vertrags als eines der Grundprinzipien der EU genannt wird. Natürlich muss man sich bei jeder Solidarität fragen, wie das konkret ausschaut. Das gilt nicht nur für die gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurse in unseren Gesellschaften - wie soll das Sparpaket konkret aussehen - sondern das gilt auch europäisch. Es gibt kein Patentrezept für Solidarität, das muss man auch klar sagen. Da stellt sich auf verschiedenen Ebenen die Frage, was ist gerecht? Wer soll wie viel bekommen?  Aber wenn - und jetzt spreche ich wieder die aktuelle Situation an - in Griechenland 200 Mrd. Euro von den Reichen aus dem Land raustransferiert wurden - auch in anderen europäischen Ländern gibt es das -, muss man sich die Frage nach den Spielregeln stellen. Das ist einfach langfristig so nicht haltbar. Auch darum habe ich meinen Kommentar "Wir alle sind Griechen" genannt; nicht nur, weil ich mich mit den Menschen in Griechenland solidarisch erklären wollte, sondern weil dasselbe natürlich ebenso bei uns passieren kann. Auch bei uns werden Milliarden nach außen transferiert und das hält längerfristig keine Wirtschaft aus. Wir sind noch immer in einer starken wirtschaftlichen Position, aber sobald sich die Situation in Österreich oder in Deutschland verschlimmert - und aufgrund der Exportgeleitetheit beider Wirtschaften kann das passieren - haben wir ähnliche Probleme. Das heißt, wir müssen das ganze System noch einmal überdenken unter den Stichworten Solidarität und Gerechtigkeit. Ich würde mir hier differenzierte Diskurse in den einzelnen Gesellschaften und auch auf europäischer Ebene wünschen. Zum Teil geschieht es ja bereits. Das ist eine der positiven Entwicklungen der letzten ein, zwei Jahre, dass derartige Debatten wieder stärker geführt werden.

Sie leiten ein katholisches Institut - welche Rolle kann die Kirche in der Solidaritätsfrage spielen?

Die Ethikdiskussionen, die derzeit statt finden, halte ich für positiv. Ich glaube nicht, dass Ethikkodizes ein Allheilmittel sind, aber sie thematisieren wenigstens die Frage und stellen fest, dass nicht "anything goes" gilt. Die individuelle Moral ist die Grundlage jeder Gesellschaft. Das aber heißt, wir brauchen auch eine Haltung der Solidarität. Wenn Menschen nicht mehr bereit sind, solidarische Gesetze und Arrangements mitzutragen, dann ist auch die gesetzliche Basis längerfristig gefährdet. Das betrifft oft sehr kleine Dinge. Wenn ich zum Beispiel einen Bescheid von der Krankenversicherung bekomme, ich hätte so und so viele Leistungen im letzten Jahr in Anspruch genommen, ist das sehr ambivalent. Viele sehen dann, sie haben eigentlich wenige Leistungen in Anspruch genommen, und fragen sich, warum sie trotzdem für die Krankenversicherung zahlen. Diese Debatte haben wir in Deutschland, wir haben sie ganz stark in den USA, in Österreich ist sie noch nicht aufgebrochen. Man muss sich da wirklich vor einer Individualisierung des Systems hüten und den Menschen klar machen, dass sie in gewissen Lebenssitutaionen auf Solidarität angewiesen sind, wobei Solidarität freilich auch einen verantwortlichen Umgang mit den Mitteln fordert, etwa im Gesundheitsbereich.
Was die Kirche betrifft: Die Kirchen sind nicht nur religiöse Insitutionen, sondern im Christentum ist das Religiöse vom Sozialen nicht zu trennen. Insofern sind die Solidaritätsdiskurse immer auch in den christlichen Kirchen geführt worden und Solidarität ist ein Grundprinzip einer christlichen Sozialethik. Zudem sind die Kirchen, von der Zahl ihrer Mitglieder her, noch immer die größten zivilgesellschaftlichen Akteure. Sie haben viele soziale Aktivitäten und Institutionen, ob das jetzt Caritas, Diakonie oder pfarrliche Initiativen sind. Und sie mischen sich auch in soziale Diskurse ein. Ich würde mir manchmal als Direktorin von "Justitia et pax", der Einrichtung der österreichischen Bischofskonferenz zu gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen, wünschen, dass wir uns noch stärker in diesen Themen engagieren. Aber man muss zugleich sagen: Es passiert viel, es melden sich regelmäßig auch kirchliche Institutionen zu Wort. Insofern ist das kein fremdes Terrain für die Kirchen. Die Kirchen haben ja auch schon seit dem 19. Jahrhundert stark die Gewerkschaftsidee unterstützt - in allen Enzykliken auch von päpstlicher Seite. Das wird manchmal vergessen.

Sie sind Theologin und haben Wirtschaft studiert. Solidarität gehört zu den Kernwerten der Gewerkschaftsbewegung - welche Unterschiede und Parallelen sehen Sie beim Vergleich des christlichen Solidaritätsbegriffs mit dem der ArbeitnehmerInnenvertretung?

Soldidarität hat verschiedene Ebenen. Ich unterscheide zwischen einer symmetrischen und einer asymmetrischen Solidarität. Man könnte auch sagen zwischen einer Con- und einer Pro-Solidarität. Eine Con-Solidarität gibt es in einer sozialen Gruppe zwischen ihren Mitgliedern, also z. B. ArbeitnehmerInnen wie im Fall der Gewerkschaft. Eine Pro-Solidarität oder eine asymmetrische Solidarität richtet sich an diejenigen, die schwächer sind und ist eigentlich eine Form universaler Solidarität. Ich würde jetzt nicht sagen, dass da grundsätzliche Differenzen sind. Doch gewerkschaftliche Solidarität richtet sich erst einmal an die ArbeitnehmerInnen, was die Solidarität mit anderen nicht grundsätzlich ausklammert. Manchmal stelle ich mir freilich schon die kritische Frage: Wie weit verstehen sich die Gewerkschaften auch solidarisch mit denen, die keine Arbeit haben? Werden die europäische und die globale Solidarität dort genug gesehen? Vielleicht hat man das lange etwas unterbelichtet. Sie verzeihen, ich will keine Ezzes geben - aber vielleicht ist das auch der Grund für eine gewisse Schwäche.

Derzeit wird auch wieder gerne über Moral diskutiert.

Moral ist ein öffentliches Gut. Und öffentliche Güter haben die Eigenschaft, nur dann zu wirken, wenn sie von der Mehrheit verantwortlich mitgetragen werden. Das ist das typische Allmende-Problem. Es gibt eine Wiese, auf der alle ihre Tiere grasen lassen dürfen. Wenn die übergrast wird, weil man zu viele Tiere auf die Wiese schickt, funktioniert das nicht mehr. Und ähnlich ist es mit der Moral. Wenn zu viele sich von einem verantwortlichen Verhalten verabschieden und glauben, als Trittbrettfahrer der Moral dabei sein zu können, dann wird das für alle zum Problem. Zu viele Menschen fragen sich bereits: Wie kann ich die Regeln umgehen und mir einen persönlichen Vorteil dadurch erwirtschaften? Je mehr das tun, umso schwieriger wird es für die anderen, den moralischen Grundwasserspiegel aufrecht zu erhalten, da sich dann immer noch mehr Leute fragen: Sind wir eigentlich die Dummen, wenn wir uns zum Beispiel an Steuergesetze halten …

… wenn nicht einmal ein Finanzminister seine Steuern korrekt bezahlt hat …

Warum dann wir? Viele stellen sich diese Frage. Wenn Politiker unverantwortlich mit Steuergeldern umgehen, warum soll dann jemand für 1.000 Euro im Monat arbeiten? Das unterhöhlt ja die gesamte Arbeitsmoral. Da sind negative Dynamiken am Werk, die man erstens benennen und zweitens entsprechend sanktionieren muss.

War das schon immer so, oder hat das mit dem Neoliberalismus zu tun?

Es hat sich in den letzten Jahren verstärkt, einfach dadurch, dass ein Übergewicht der Wirtschaft durch die Globalisierung entstanden, aber auch der Egoismus zur Ideologie geworden ist. Für die Politik wurde es immer schwieriger, sich zu behaupten. Eine große Frage ist für mich: Hat die Politik das ausreichend versucht oder hat sie sich da nicht bluffen und ins Eck drängen lassen? Wenn ich jetzt lese, dass die Budgetdefizite einfach davon kommen, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, dann ärgert mich das. Denn es wird nur ein Teil des Problems benannt. Es wird auch nicht mehr gesagt, dass die Situation dadurch kritisch geworden ist, dass Finanzinstitute vom Staat finanziell aufgefangen wurden und werden. Natürlich haben wir auch über unsere Verhältnisse gelebt. Das heißt, wir haben in guten Zeiten Budgetdefizite angehäuft augrund einer demokratischen Klientelpolitik. Das war verfehlt und da muss man sich was überlegen. Aber die zweite Ursache für die gegenwärtig kritische Situation der Staatsfinanzen in fast allen Ländern waren die Bankenrettungen.

Ist unser Steuersystem unsolidarisch?

Internationale Unternehmen und Banken haben in den letzten Jahren immer weniger Steuern bezahlt, das zeigen Untersuchungen der Arbeiterkammer. Das ist ein Fehler des Systems und auch eine Schwäche der Politik. Das müßte durch internationale Steuern wie die Finanztransaktionssteuer korrigiert werden. Doch diese wird, obwohl lange diskutiert und möglich, nicht eingeführt. Da hat sich die City of London durchgesetzt. Das empfinde ich wirklich als skandalös - da sind wir uns wahrscheinlich einig.

Das sind wir. Einig sind wir uns auch bei dem Thema Lohnungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen, die Sie regelmäßig kritisieren. Sehen Sie sich als Feministin? Die Kirche ist doch eher eine Männerwelt?

Das ist eine gewisse Pionierarbeit, die es hier zu leisten gilt. Es ist eine Männerwelt auf einer bestimmten Ebene. Wenn man in die Pfarren geht, ist es keine Männerwelt, da sind schon sehr viele Frauen aktiv.

Aber eben als Zuarbeiterinnen, nicht in der Hauptrolle …

Ja, die Leitungsstrukturen sind männlich über weite Strecken, obwohl es hier schon kleine Fortschritte gibt. Meine Professur wäre vor einiger Zeit nicht möglich gewesen, die Leiterin des Schulamts ist weiblich, die Leiterin des Pastoralamts ist weiblich. Es gibt da gewisse Fortschritte, die allerdings das Hauptproblem nicht lösen. Als Feministin habe ich mich nie  verstanden. Ich würde es auch nicht ablehnen, aber ich lasse mich ungern in Schubladen stecken. Man setzt sich dort, wo man ist, und man tut das auch als Frau. Punkt.
 
Tut die Kirche mehr in Richtung Geschlechtersolidarität?

Das ist von Diözese zu Diözese sehr unterschiedlich. Unser Kardinal hat sich schon dafür eingesetzt, einige Frauen in Leitungspositionen zu bringen. Das ist nicht in allen Diözesen so ... das ist halt ein längerer Kampf, und die Frage des Amtes in der Kirche ist nicht gelöst.

Wo wünschen Sie sich in unserer Gesellschaft mehr Solidarität zwischen den Geschlechtern?

Das meiste, das in diesem Bereich geschieht, ist dringend notwendig, weil einfach ein großer Aufholbedarf besteht. Mit Quoten beispielsweise bin ich aber nicht immer so glücklich. Wenn 40 Prozent in den Gremien Frauen sein müssen, müssen die wenigen Frauen in diesen Positionen in noch mehr Gremien. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Aber aufs Ganze gesehen, finde ich, dass unsere Gesellschaft in den letzten 30 Jahren schon Fortschritte gemacht hat. Die größte Schwäche ist die Differenz in den Löhnen von etwa 30 Prozent - und darauf muss man immer wieder hinweisen. Das zieht sich schon in alle Bereiche hinein. Das gilt auch für Einstufungen von Professorinnen, die sicher nicht am Existenzminimum leben, aber sie schneiden schlechter ab als die Männer. Da gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten (lacht).

Heuer ist das europäische Jahr der Solidarität zwischen den Generationen - gibt es die?

Ich habe heute mir meiner Assistentin gesprochen, weil ich ihre Meinung als 25-jährige dazu hören wollte. Ich halte es für ein sehr komplexes Thema. Auf der einen Seite sind die Arbeitsverhältnisse um vieles prekärer geworden. Für unsere Generation war es noch eine sichere Sache, dass man mit einer guten Ausbildung eine entsprechende Stelle bekommt. Andererseits ist die allgemeine Ausstattung mit Vermögen jetzt in breiten Teilen der Bevölkerung eine viel bessere als vor 40 Jahren. Das ist ein Polster nicht für alle, aber doch für einen guten Teil der Bevölkerung, von dem die Jungen wieder zehren können. Ein gewisses Problem sehe ich in Privilegien, die sich über die Jahrzehnte angehäuft haben, auch im Pensionsbereich - wieder nicht für alle, aber doch für gewisse Gruppen, die jetzt Vertragssicherheit einfordern, was die nächsten Generationen benachteiligt. Das muss man offen diskutieren und auch gesamtgesellschaftlich Fragen stellen.
Das zweite ist das allgemeine Klima der Unsicherheit, das sich breit macht. Und da sind wir wieder beim Generalthema: Ich glaube, man muss die Diskurse über Solidarität und Gerechtigkeit mit aller Ernsthaftigkeit führen, auch um die Leute ins Boot zu holen. Es besteht auch sozialwissenschaftlicher Forschungsbedarf. Dabei muss man schon sagen, dass in Österreich das Potenzial immer noch ein sehr gutes ist. Darum hält sich auch Österreich in der Wirtschaftskrise verhältnismäßig gut. Die Sozialpartnerschaft wurde oft diskreditiert, sie hat aber sehr positive Seiten und funktioniert noch in weiten Bereichen, auch in der Industriellenvereinigung denkt man z. B. über Solidarität nach.

Wie kann man wieder mehr Solidarität in die Gesellschaft bringen?

Ich glaube schon, dass ein Umdenken stattfindet - die Frage ist nur, ob es schnell genug geht und ob es konstruktiv genug sein wird. Wir haben heute viele neue Protestbewegungen von Occupy Wall Street zu den spanischen Indignados usw. An und für sich habe ich eine gewisse Sympathie dafür; ich hoffe nur, dass es gelingt, sie mit realistischen Lösungsansätzen zu verbinden. Sonst bleibt das ein Protest, der entweder verpufft oder gewalttätig wird. Darin sehe ich eine echte Gefahr, wenn sich die sozialen Bedingungen verschlimmern und wir keine Lösungen finden, die große Teile der Gesellschaft mittragen können. Wir müssen den Menschen wieder das Gefühl geben, dass es in der Gesellschaft gerecht zugeht.

Ihr Symposium und das dazu gehörige Buch heißt ja "Solidarität in der Krise: Auf der Suche nach neuen Wegen" Wo sehen Sie neue Wege?

Ich unterscheide drei Ebenen: Die Mikro-Ebene, das ist die individuelle Moralebene. Die Meso-Ebene, das sind die vielen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, wo Solidarität gelebt wird, wo solidarische Modelle ausprobiert werden. Und die Makro-Ebene als die politische und Rechtsebene. Diese drei Ebenen müssen sich ergänzen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Auf keiner kann das geleistet werden, was die andere machen müsste. Das heißt, um die Finanzwirtschaft in den Griff zu kriegen, können wir nicht auf Solidarität in der Zivilgesellschaft setzen. Da muss die Politik her. Zugleich braucht es zivilgesellschaftliche Solidarität. Der große Vorteil einer liberalen Gesellschaft ist, dass derartige Netzwerke bestehen, wo Neues ausprobiert werden kann - aber das ist weder ein Ersatz für Moral des Einzelnen noch für tragfähige rechtliche Regelungen im Finanzbereich und in der EU. Wenn der Euro auseinanderbricht oder ähnliche Horrorvorstellungen Wirklichkeit werden, kann das nicht durch zivilgesellschaftliche Solidarität in kleinen Gruppen aufgefangen werden.

Was kann man machen?

Jede, jeder kann ihr bzw. sein Leben reflektieren - das ist die individuelle Ebene - und sich entsprechend ihrer, seiner ganz persönlichen Möglichkeiten engagieren. Das ist die zivilgesellschaftliche und auch die politische Ebene. Da gibt es zahlreiche Möglichkeiten und ich bin beeindruckt, wie viele Menschen in unserer Gesellschaft sich solidarisch engagieren - auch hier hat Österreich eine Spitzenposition.

Vielen Dank für das Gespräch.

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion aw@oegb.at 

Zur Person
Ingeborg Gabriel  
Geboren in Wels, Oberösterreich.
Studium der Handelswissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien; Post-Graduate Studium an der Diplomatischen Akademie.
Internationale Beamtin der UNO-Entwicklungshilfe (UNDP) in New York, Katmandu (Nepal) und Ulan Bator (Mongolei).
Studium der Katholischen Theologie an der Universität Wien.
Seit 1997 Professorin für Christliche Gesellschaftslehre und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Leiterin des Instituts für Sozialethik an der Universität Wien und Direktorin der österreichischen Kommission "Justitia et Pax".

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