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Gesellschaftlicher Zusammenhalt In diesem Sinne muss auch die Nachhaltigkeit sexyer werden, ein Segment mit attraktiven Marken. So, wie es das Wiener Modelabel "Göttin des Glücks" seit geraumer Zeit mit Erfolg demonstriert.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Schwerpunkt

Das alte Motto "Vereint stehen wir, getrennt fallen wir" findet im dritten Jahrtausend neue Ausdrucksformen.

United we stand, divided we fall" ("Vereint stehen wir, getrennt fallen wir") textete einst der griechische Fabel-Dichter Aesop. Ein Motto, das in Politik, Kunst und Kultur unzählige Male Verwendung fand. Es brauchte den jüngsten Verteilungsbericht der OECD, bis daraus ein schlichtes "Divided we stand …" - "Getrennt stehen wir" - wurde. Nüchtern wird darin festgehalten, dass die Ungleichheit zunimmt. Abgelesen am Gini-Koeffizienten, dem Maß für die Einkommensungleichheit, haben sich seit Mitte der 1980er-Jahre die Unterschiede weiter verschärft: Die reichsten zehn Prozent in den OECD-Staaten verdienen neunmal so viel wie die ärmsten zehn Prozent. Und - ein schwacher Trost - sie werden rascher reich, als die Armen arm werden.

Diagnose "Zeitenwende"

Das Heidelberger Sinus-Institut spricht in ähnlichem Zusammenhang von einer "Zeitenwende", die dadurch geprägt ist, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet, die digitale Spaltung zunimmt und die Zeit kontinuierlicher Wohlstands- sowie Sicherheitsgewinne endet. Durch Einschnitte in den Sozialstaat und die Privatisierung von immer mehr Lebensrisiken werden laut Sinus-Institut sozial schwächere Milieus benachteiligt und tendenziell überfordert. Was bedeuten diese Entwicklungen für die konkreten Lebenswelten der Betroffenen? Mittels einer empirischen Untersuchung (vgl. A&W 07/2009) versuchte die Arbeiterkammer, darauf Antworten und Ideen für adäquate Politikansätze zu finden. 34 Personen im erwerbsfähigen Alter und unterschiedlichster sozialer Herkunft wurden mittels sogenannter Leitfadeninterviews zu ihrem Einnahmen- und Ausgabenverhalten im Laufe des Lebens befragt. In der Stichprobe überrepräsentiert waren atypisch Beschäftigte (Teilzeit, geringfügig Beschäftigte usw.) sowie Arbeitslose. Durch diese besondere Zusammensetzung des Samples sollte die weitere Prekarisierung der Gesellschaft vorweggenommen werden. Je nach individuellen Werten und Neigungen gestaltet sich die Art und Weise der Geldbeschaffung unterschiedlich. Gleiches gilt für die Ausgabenseite. Geld ist somit jenes Medium, über das der "Lebenssinn" seinen stärksten Ausdruck erhält.

Fasst man die Interviews mit ähnlichen "Sinnstrukturen" zusammen, so wird die künftige Gesellschaft durch folgende Faktoren geprägt sein:

  • Entrepreneurship - Suche nach den "neuen Grenzen": Auch in Zukunft werden jene die Entwicklungsrichtung und das Entwicklungstempo wesentlich bestimmen, die nie mit dem Alten zufrieden sind und sich immer wieder auf die Suche nach Neuem machen.
  • Soziale Erdung und Vernetzung: Selbst wenn man den europäischen Sozialstaat nicht, wie EZB-Chef Mario Draghi, als Auslaufmodell ansieht, so besteht allein aufgrund der ökonomischen und sozio-demografischen Entwicklung ein Reformbedarf. Vieles von dem, was die Gesellschaft nicht mehr leisten kann oder leisten will, wird von der Gemeinschaft aufgefangen werden müssen. Damit kommt dem "sozialen Kapital" des/der Einzelnen mehr Bedeutung zu.
  • Teilhabe am Konsum: "Kleider machen Leute", hieß es einst in der gleichnamigen Novelle von Gottfried Keller. Wurde damals der arme Schneider noch als Hochstapler entlarvt, so ist heute eine entsprechende Inszenierung geradezu ein Muss. Über die spezifische Konsumkultur wird definiert, wo man sich zugehörig und aufgenommen fühlt. Und wo nicht. Konsum macht also Gemeinschaft möglich und schließt umgekehrt von Gemeinschaft aus!
  • AussteigerInnen: Die besondere Logik der Leistungsgesellschaft führt dazu, dass immer mehr Menschen an den Rand gedrängt werden oder von sich aus nicht mehr mitmachen wollen. Auch sie haben ein Bedürfnis nach Gemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die nach anderen Kriterien funktioniert. In der auch sie geschätzt werden und sich verwirklichen können.

Was sind nun die Funktionsmechanismen einer Gesellschaft, die auf diesen vier Grundorientierungen aufbaut?
Entrepreneurship: Gestalten und möglichst viel selbst in der Hand haben zu wollen erstreckt sich bei EntrepreneurInnen auch auf den sozialen Bereich. Ressourcen sollen nicht "im Moloch Staat" versickern, sondern es sollten für die Lösung gesellschaftlicher Probleme die gleichen Effizienzkriterien gelten wie für unternehmerisches Handeln generell. Gemäß dieser Logik zielt "Social Entrepreneurship" auf die innovative Lösung sozialer Probleme ab. In Österreich versucht die gemeinnützige Organisation "Ashoka" diesem Ansatz mehr Geltung zu verschaffen.
Soziale Erdung und Vernetzung: Der Urvater der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies, sieht im Wandel der Gemeinschaft zur Gesellschaft den Kern der Moderne. Die jüngsten Trends lassen darauf schließen, dass es in der Postmoderne wieder zu einer Rückentwicklung kommt: dem Zerfall der Gesellschaft in Gemeinschaften. Nichtsdestotrotz wollen immer mehr Menschen eine umfassende Umorientierung der Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung. Sie würden sich daran auch gerne beteiligen. Zum Beispiel durch Modelle wie den Bürgerrat, der seit einiger Zeit in Vorarlberg mit recht gutem Erfolg erprobt wird, oder wie die "Wiener Charta", die noch bis in den November 2012 läuft. So verdienstvoll diese Versuche zur Rettung von Gesellschaft sind, so darf nicht übersehen werden, dass Gemeinschaft künftig mehr Bedeutung erhalten wird. Schon allein wegen des immer wichtiger werdenden "sozialen Kapitals". Solidargemeinschaften sind der ArbeiterInnenbewegung ja nicht gerade fremd. Man denke nur an die "Bruderlade", die den Ursprung des Sozialversicherungssystems begründete. Heute lässt sich bezüglich Solidarität sehr viel von MigrantInnen-Netzwerken lernen. Sie akkumulieren aus den vielen Einzel-Vermögen der NetzwerkteilnehmerInnen ein Sozialkapital, das die Mitglieder solidarisch nutzen können. Auch "bei uns" wird die Zughörigkeit zu Gemeinschaften an Bedeutung gewinnen.
Teilhabe am Konsum: Vergemeinschaftung erfolgt auch durch das Zueinander-Finden Gleichgesinnter zu "Stämmen", die sich um Marken bilden. Die Barbie-Puppen der Kleinkinder finden im Harley-Davidson-Kult bärtiger Männer ihre Entsprechung. Wie man aus neurophysiologischen Untersuchungen weiß, hat diese Marken-Orientierung einfache neurologische Ursachen: Man muss weniger denken, es werden vor allem die Gefühlsareale angesprochen. In diesem Sinne muss auch die Nachhaltigkeit sexyer werden, ein Segment mit attraktiven Marken. So, wie es das Wiener Modelabel "Göttin des Glücks" seit geraumer Zeit mit Erfolg demonstriert.
AussteigerInnen: Am 26. September 1971 ruft Jacob Ludvigsen die Freistadt "Christiania" aus. Es handelt sich um einen ehemaligen Militärkomplex in Kopenhagen, der in der Folge sukzessiv in einen alternativen Wohnblock umgestaltet wird. Ziel ist das Erschaffen einer sich selbst regierenden Gesellschaft, wo jede Person für das Wohlergehen der gesamten Gemeinschaft verantwortlich ist, die ihrerseits ökonomisch selbsttragend sein soll.
Eine Utopie aus vergangenen Tagen? 2012 ist Marburg die Kulturhauptstadt Europas. Mit einem aufsehenerregenden Projekt, den sogenannten "Urban Furrows", den "urbanen Furchen": Ein Hektar Land wird den BewohnerInnen eines Wohnblocks in den Suburbs zur Verfügung gestellt, den sie, künstlerisch-wissenschaftlich begleitet, in Eigenregie bebauen können. Bald finden sich hier verschiedene ethnische Gruppen, Expertinnen und Experten, Jugendliche, Bäuerinnen und Bauern, ArbeiterInnen, Obdachlose, Roma, behinderte Menschen und Menschen ohne Zukunftsperspektive ein. Und allmählich entsteht aus diesem bunten Häuflein ein emanzipatorischer Prozess der Gemeinschaft, der Kooperation, der Solidarität und der Würde.
Soziale EntrepreneurInnen setzen sich zum Ziel, mit unternehmerischen Mitteln gesellschaftlich Sinnvolles zu bewirken. Effizient und innovativ. An Visionen für eine neue Gesellschaft mangelt es nicht. Was hindert sie noch?

Internet:
"Biographie des Geldes", A&W 07/2009: tinyurl.com/d7xd75p

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