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"Der Pessimismus ist der größte Feind" "Der Neoliberalismus ist teilweise an der Rückkehr des Rechtsextremismus schuld. Durch die unregulierte Globalisierung der letzten Jahre wurden die Menschen unsicherer. Rechtsextremismus nährt sich aus dieser Unsicherheit. "
Buchtipp

"Der Pessimismus ist der größte Feind"

Interview

Politikwissenschaftler Colin Crouch im E-Mail-Interview nach den Stadtgesprächen.

Arbeit&Wirtschaft: Colin Crouch, Ihr aktuelles Buch heißt "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus". Der Originaltitel lautet "The strange Non-Death of Neoliberalism" - das lässt an Zombies denken. Müssen wir uns fürchten und wenn ja, wovor?

Colin Crouch: Mein ursprünglicher Titel lehnte sich an den Titel eines berühmten Buches des frühen 20. Jahrhunderts an: "The Strange Death of Liberal England". Meiner Meinung nach ist der heutige Neoliberalismus gar nicht gestorben, trotz der großen Finanzkrise von 2008, die zur Gänze eine Folge der Liberalisierung der globalen Finanzmärkte war. Diese Krise hätte eine tödliche Krise des ganzen neoliberalistischen Wirtschaftssystems verursachen können. Die wirtschaftlichen Kräfte, die von Neoliberalismus profitieren, sind aber zu mächtig. Sie bestehen darauf, dass man das Modell unterstützt, obwohl seine finanziellen Unterstützungen gar nicht stabil sind. Es besteht die Gefahr, dass wir von einer Krise zu einer anderen taumeln werden. Das sollten wir fürchten.

Sie haben vor vier Jahren das Schlagwort Postdemokratie geprägt - ist die Demokratie in Gefahr?

Mein Schlagwort war Postdemokratie, nicht "Undemokratie" - also ein Gemeinwesen, in dem nach wie vor Wahlen abgehalten werden, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass man riskiert, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutieren könnte, die die Experten zuvor ausgewählt hatten. In der Postdemokratie, wie ich sie beschreibe, bleiben alle die Institutionen der Demokratie und funktionieren. Die Energie des politischen Systems ist aber woanders, in den kleinen Zirkeln der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Das heißt, eine geschwächte Demokratie, aber im strengen Sinn keine gefährdete.

Bei den jüngsten Wahlen überall in Europa feierte die Piraten-Partei, die unter anderem Stärkung der Bürgerrechte, mehr direkte Demokratie und Mitbestimmung, aber auch die Reform des Urheberrechts propagiert, Wahlerfolge - sind sie Hoffnungsträger oder Gefahr?

Der Nutzen der Erfolge der Piraten-Partei ist, dass sie der politischen Klasse ein Zeichen gibt, dass die WählerInnen immer unzufriedener mit ihrem Verhalten werden, und dass Reformen dringend notwendig sind. Das ist ein echter Nutzen. Die spezifischen Rezepte der Piraten sind aber nicht so praktikabel. Direkte Demokratie, vielleicht ja, auf lokaler Ebene, wie in der Schweiz regelmäßig praktiziert. Dazu müsste man aber die Gefahr - durch die Wirtschaft wohlfinanzierter - Medienkämpfe und damit gesteuerter Meinungsmache regulieren könnte.
Es ist gut, dass das Urheberrecht jetzt auf der Tagesordnung steht; das ist eine sehr wichtige, aber nicht so einfache Frage.

Die Piraten, aber auch einige Bürgerinitiativen rund um die Occupy-Bewegung, werden immer wieder von Rechtsgerichteten unterwandert. In Griechenland haben die Rechtsextremen den Einzug ins Parlament geschafft, die Zustände in Ungarn sind beunruhigend. Sie diagnostizieren in ihrem aktuellen Buch einen Rechtsruck im ganzen politischen Spektrum. Ist das die Schuld des Neoliberalismus? Müssen wir uns vor der Gefahr von rechts fürchten?

Gewiss. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass auch die Linksextremen Einfluss in Griechenland gewonnen haben.
Der Neoliberalismus ist teilweise an der Rückkehr des Rechtsextremismus schuld. Durch die unregulierte Globalisierung der letzten Jahre wurden die Menschen unsicherer. Rechtsextremismus nährt sich aus dieser Unsicherheit. Wir dürfen aber auch die anderen Probleme nicht aus den Augen verlieren, wie auf einer Seite den radikalen Islamismus und auf der anderen Seite die tief verwurzelten Vorurteile vieler Menschen in der Europäischen Union, die die ethnischen Spannungen heute verschlimmern. Da wie dort gibt es keine einfachen Lösungen.

Welche Rolle spielen Ängste im System des Neoliberalismus? Wieweit manipulieren sie? Ich denke da auch an Gesundheitskampagnen wie "Rauchen kann ihre Gesundheit gefährden". Ängste um den Arbeitsplatz, Angst vor dem Fremden?

Auch hier können wir dem Neoliberalismus nur teilweise die Schuld geben! Was die Angst um Arbeitsplätze angeht, trägt da sicher auch der Neoliberalismus Schuld, der ja Arbeiterrechte und den Wohlfahrtsstaat ablehnt. Was die Gesundheitskampagnen betrifft, aber gar nicht. Geht es nach dem Neoliberalismus, sollten die Tabakhersteller, die Hersteller ungesunder Lebensmittel usw. frei sein, uns ihre Waren ohne die Einmischung von Regierungen zu verkaufen.
Das Thema Angst vor dem Fremden ist komplexer. Auf einer Seite hat der Neoliberalismus keine nationalen oder ethnischen Vorurteile und fördert eine volle Globalisierung, auch auf dem Arbeitsmarkt. Auf einer anderen Seite aber benutzen neoliberale PolitikerInnen Angst vor Fremden, weil die Unsicherheit, die ihre Wirtschaftspolitik bringt, unbeliebt ist. Deshalb suchen sie alternative Sündenböcke und "die Fremden" eignen sich traditionell gut.
Warum benutzen wir - nicht nur die Neoliberalen - so oft die Angst in unserem Gemeinleben? Ich weiß es nicht. Nimmt dieses Verhalten heute zu? Es ist kein neues Phänomen.

Wie beurteilen Sie die Lage in der Europäischen Union - kann der Sozialstaat überleben?

Es gibt Sozialstaaten - wie jene im Norden, auch teilweise Deutschland, die Niederlande, Österreich, das Vereinigte Königreich und einige andere Länder - die ganz und gar mit wirtschaftlichem Erfolg vereinbar sind. Diese Sozialstaaten geben uns gute menschliche, physische und technische Strukturen. Es gibt aber andere europäische Sozialstaaten, die nicht so funktionieren. Wir brauchen Reformen, die diese letzteren Sozialstaaten näher an die ersteren bringen. Europa hat ein besseres Verständnis dieses Unterschieds nötig. Das Problem des Neoliberalismus ist, dass er nicht zwischen diesen zwei Typen des Sozialstaats unterscheidet.

ÖGB und AK haben derzeit Kampagnen zum Sozialstaat ("Sozialstaat fairbessern") und für soziale Verteilungsgerechtigkeit ("In Österreich läuft etwas schief ..."). Was können Kammern und Gewerkschaften tun?

Sie können auch vermehrt auf den Unterschied zwischen den Sozialstaaten hinweisen und für den "funktionierenden" Sozialstaat kämpfen. Auch sollten sie gegen den neuen Rassismus kämpfen. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Gewerkschaftsmitglieder in Spanien weniger rassistisch als andere ArbeiterInnen sind. Das zeigt, was die Arbeiterbewegung noch tun kann. Es ist auch auffallend, dass es am österreichischen Arbeitsmarkt weniger ZeitarbeiterInnen gibt als in vielen anderen Ländern. Vielleicht ist es die Institution der Arbeiterkammer, die alle ArbeitnehmerInnen - und nicht nur jene, die in Gewerkschaften organisiert sind - vertritt, die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und deren Rolle als Kollektivvertragspartner oder die Sozialpartnerschaft überhaupt, die eine relativ stabile soziale Lage herstellt.
Aber im Allgemeinen ist es die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften, ihren Mitgliederstand in guten Zustand zu bringen. In allen Ländern sind die Gewerkschaftsmitgliedschaften zurückgegangen. Das heißt, dass sie Methoden finden müssen, neue Generationen von ArbeitnehmerInnen, besonders in den privaten Dienstleistungssektoren, zu erreichen. Diese jungen Leute sind gewiss gemeinsamer Aktionen fähig - aber wahrscheinlich nicht durch die alten Arten der formalen Mitgliedschaft.

Was kann die/der Einzelne tun?

Durch Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Parteien für eine bessere Welt arbeiten. Der größte Feind ist jene Art von Pessimismus, der uns unfähig macht.

Wovor fürchten Sie sich?

Dass die Macht des Neoliberalismus und die Versuchung des Rassismus zusammen die realistischen, praktischen Alternativen für eine kräftige Wirtschaft und eine gute Gesellschaft, die wir mit wohlstrukturierten Sozialstaaten und Arbeiterbewegungen bauen können, unsichtbar machen.

Vielen Dank.

Am 10. Mai 2012 war Colin Crouch Gast beim Wiener Stadtgespräch - eine Aufzeichnung des gesamten Gesprächs mit Peter Huemer findet sich unter: www.wienerstadtgespraech.at/nachlese/crouch/

Kommentar zum Crouch-Interview: Guter und schlechter Sozialstaat?
Wie recht er hat: Der Neoliberalismus ist alles andere als eine sympathische Zeiterscheinung und er ist noch nicht gestorben. Aber welche Schlussfolgerungen zieht Mr. Crouch daraus? Dass es keine einfachen Lösungen gibt und dass wir uns organisieren sollen, um für eine bessere Welt zu arbeiten, ohne pessimistisch zu werden. Zu dieser Erkenntnis hätten wir allerdings auch ohne Appelle eines Wirtschaftssoziologen gelangen können. Darüber hinaus hält er es, glaubt man seinen Büchern, für das beste, das wir angesichts der die Gesellschaft und Politik beherrschenden Wirtschaftsmächte erreichen können, wenn wir es schaffen, dass wir "in dieser Welt klarkommen".
Er wurde, das gereicht ihm zur Ehre, zu einem der schärfsten Kritiker des New-Labour-Kurses, den er einst im Team des Premierministers Tony Blair als scheinbare moderne Alternative zum Neoliberalismus unterstützt hatte. Und er engagiert sich bei "Compass", einem Thinktank der demokratischen Linken Großbritanniens. Die Erfahrungen mit der Blair-Regierung bestärkten ihn in der Überzeugung, dass wir in einer "Post-Demokratie" leben, wo die Demokratie zwar formal weiter funktioniert, aber eine kleine Elite die wahre Macht ausübt. Da hat Mr. Crouch wohl die Geschichte ein wenig vergessen. Eine perfekte Demokratie existierte nie, es gab immer Versuche, den demokratischen Staat zum Instrument der Kapitalinteressen zu machen, aber es bestand auch immer Widerstand dagegen, manchmal mehr, manchmal weniger oder gar nicht erfolgreich. Deshalb dürfen wir uns nicht einreden lassen, dass wir nach der Demokratie leben. Wir leben noch immer in einer Demokratie und wollen uns das nicht nehmen lassen.
"New Labour" grenzte sich zwar von neoliberaler Politik als asoziales, inhumanes Konzept ab, übernahm aber letztlich Teile ihrer Ideologie und Handlungsweise. Der Sozialstaat solle zwar nicht abgeschafft, aber umgebaut werden - von einem System, das versucht, einen kleinen Teil des Reichtums von "oben" nach "unten" zu verteilen und ein soziales Netz zu knüpfen, zu einem Mix aus Privat und Staat, der auf die Ideologie der "Eigeninitiative" baut.
Mehr soziale Unsicherheit müsse, so die These, im Zeitalter des globalisierten Marktes nun einmal hingenommen werden. Bei aller Distanzierung scheint sich Mr. Crouch von diesem Weltbild doch nicht ganz gelöst zu haben. Es lässt aufhorchen, wenn er vom "guten" und vom "schlechten" Sozialstaat spricht. Er nennt die "guten", darunter (oh, wie stolz können wir sein!) Österreich und die skandinavischen Staaten, aber ebenso Großbritannien, wo jene Form des Sozialstaats, die ein wenig mehr Gerechtigkeit zum Ziel hat, längst zerstört wurde.
Aus Sicht von Mr. Crouch verbindet diese unterschiedlichen Systeme, "dass sie ganz und gar mit wirtschaftlichem Erfolg vereinbar sind". Es wird nicht ausgesprochen, aber die Schlussfolgerung ist zulässig, dass unter "schlechten" Sozialstaaten jene zu verstehen wären, die wirtschaftlichem Erfolg nach dem Wertesystem des freien Marktes im Wege stehen - und diese werden anscheinend mit Recht zum Abschuss freigegeben. Nur so kann das Statement interpretiert werden, der Fehler des Neoliberalismus bestehe darin, nicht zwischen den "Guten" und den "Schlechten" zu unterscheiden.
Eine Aufzählung der "Schlechten" wird uns allerdings wohlweislich vorenthalten. Denn welche Sozialstaaten sollen das sein, die nicht mit wirtschaftlichem Erfolg vereinbar sind? Staatssozialistische Systeme wie früher in Osteuropa? Die sind verschwunden. Staaten mit Budgetproblemen, die trotzdem Sozialstandards für ihre Bevölkerung aufrechterhalten wollen und deshalb Null-Defizite als oberstes Ziel der Politik ablehnen? Leider sind mir derzeit keine bekannt. Oder Staaten, die sich weigern, das Sozialsystem "marktkonform" zu machen? Man darf es sich aussuchen.
Es wird nicht zum ersten Mal offensichtlich: Der Neoliberalismus hat auch manche seiner KritikerInnen fest im Griff, wohl ohne dass es diesen auffällt.
Brigitte Pellar

Zur Person
Colin Crouch  
Geboren 1944
1972-1973 Lecturer, University of Bath 1969 BA, London School of Economics and Political Science
1975 Doctor of Philosophy, Nuffield College, Oxford University
1973-1985 Lecturer und Reader für das Fach Soziologie, London School of Economics and Political Science
1985-1994 Fellow des Trinity College, Oxford, und Professor für Soziologie an der Oxford University
1995-2004 Professor für Comparative Social Institutions am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (EUI)
seit 1997 Auswärtiges Wissenschaftliches Mit-glied des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung
2005-2011 Leiter des Institute of Governance and Public Management an der Warwick Business School, University of Warwick
seit 2011 im Ruhestand

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