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Besser Vorbild als HeldIn Menschen, die wegschauen, vor dem Leid anderer die Augen verschließen, vorbeigehen, bei Unfällen keine Hilfe leisten, sogar wenn sie selbst dadurch nicht gefährdet würden, diese Phänomene finden sich nicht nur in den Geschichtsbüchern...

Besser Vorbild als HeldIn

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Hinschauen, zur eigenen Meinung stehen, Ängste überwinden, Unterstützung bieten, helfend eingreifen - Zivilcourage verlangt uns einiges ab.

Der Tod von Dominik Brunner sorgte 2009 nicht nur in Deutschland für beträchtlichen Medienrummel: Der 50-jährige Manager wollte als einziger vier Schülern helfen, die von drei älteren Jugendlichen in der U-Bahn bedroht wurden. Es kam zu einer Prügelei, zwei Stunden später starb Dominik Brunner im Krankenhaus.

Mord in drei Etappen

Menschen, die wegschauen, vor dem Leid anderer die Augen verschließen, vorbeigehen, bei Unfällen keine Hilfe leisten, sogar wenn sie selbst dadurch nicht gefährdet würden, diese Phänomene finden sich nicht nur in den Geschichtsbüchern, sondern auch immer wieder in den Massenmedien. Ein Beispiel unterlassener Hilfeleistung wurde sogar weltberühmt: Der Mord an der New Yorkerin Catherine (Kitty) Genovese 1964 erfolgte in drei Etappen. Die 28-Jährige wurde spät in der Nacht von einem Mann mit einem Messer attackiert, sie schrie laut um Hilfe, zwei Mal flüchtete der Attentäter, weil in den umliegenden Wohnungen die Lichter angingen - und kam immer wieder zurück. Die "New York Times" brachte eine Artikelserie über das Fehlverhalten der ZuschauerInnen. Ganz New York war empört.1 Der Vorfall inspirierte die beiden Psychologen John Darley und Bibb Latané zu mehreren Experimenten: Sie setzten StudentInnen jeweils allein in einen Raum und ließen diese dort in ein Mikrofon von den Herausforderungen des Studiums erzählen. Die Forscher behaupteten, in den anderen Räumen säßen ebenfalls StudentInnen mit der gleichen Aufgabe. Jede/r Einzelne konnte alle anderen hören, die Verständigung untereinander war aber nicht möglich. In Wirklichkeit kamen die Stimmen, die nun der Reihe nach erzählten, vom Tonband. Einer dieser (Tonband-)Studenten berichtete, er sei Epileptiker - und tatsächlich konnten kurz darauf seine KommilitonInnen via Kopfhörer einen Anfall live mitverfolgen. Der Epileptiker bat um Hilfe, aber nur 31 Prozent der StudentInnen halfen tatsächlich. Dann verkleinerten Darley und Latané die vorgebliche Gruppe sukzessive. Je weniger die Studenten das Gefühl hatten, sich auf andere verlassen zu können, desto eher schritten sie ein. Immerhin 85 Prozent der TeilnehmerInnen holten Hilfe, sobald sie dachten, dass außer ihnen niemand anderer den Anfall mitbekam.

Nur nicht auffallen

Menschen reagieren selbst dann überraschend passiv, wenn es um ihr eigenes Wohlergehen geht. In einem zweiten Versuch bliesen die beiden Wissenschafter Rauch in einen Raum, in dem eine Gruppe Studenten saß. Die ahnungslosen TeilnehmerInnen wurden angesichts des Rauchs, der durch den Raum wogte und Husten auslöste, sichtlich nervös, unternahmen aber schließlich nichts, weil sie sich an ihren (in das Experiment eingeweihten) Kolleginnen und Kollegen orientierten, die so taten, als gäbe es keinerlei Grund zur Beunruhigung. Befanden sich die ProbandInnen allein im Raum, reagierten die meisten hingegen relativ rasch und adäquat auf die Rauchentwicklung. Aus der Reihe zu tanzen, sich gegen die (schweigende) Mehrheit zu stellen bzw. - wissenschaftlich formuliert - dem informativen sozialen Einfluss der Gruppe zu widerstehen, das scheint die meisten Menschen extreme Überwindung zu kosten. Sobald sich eine Gruppe von Personen in einer mehrdeutigen, schwer einschätzbaren Situation befindet, versuchen die Anwesenden aus der Beobachtung der jeweils anderen Hinweise auf mögliches sinnvolles Verhalten zu bekommen. Wenn diese aber ebenfalls ratlos sind, entsteht die sogenannte pluralistische Ignoranz.
In mit versteckter Kamera gefilmten, angeblichen Notfallsituationen (Pöbeleien, Erkrankungen etc.) zeigt sich immer wieder, dass die meisten Menschen zwar nicht spontan eingreifen, aber keineswegs gleichgültig bleiben, sondern unsicher werden, ob sie handeln sollen, letztendlich wegschauen oder gehen. Findet sich auch nur eine Person, die die Initiative ergreift, so gerät plötzlich Bewegung in die Szene und mehrere werden aktiv.

Sicher helfen

Zum Glück gefährdet man heute in westlichen Zivilisationen nur in raren Ausnahmesituationen Leib und Leben, wenn man sich für andere einsetzt oder Unrecht bekämpft. Und nur äußerst selten ist reflexartig schnelles Handeln erforderlich. Wer helfen will, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen oder mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, sollte nach Möglichkeit erst einmal tief durchatmen und Ruhe bewahren. Sobald man erkannt hat, dass tatsächlich etwas Ungewöhnliches passiert, verschafft man sich am besten einen Überblick, ob die Situation eskalieren könnte.
Die Entscheidung, ob Handlungsbedarf besteht, ist oft schwierig: Wo beginnt unsere Verantwortung und wo endet die Privatsphäre der anderen? Ist ein Eingreifen erforderlich, dann stellen Sie Öffentlichkeit her, sprechen Sie mit lauter Stimme. Suchen Sie Mit"streiter", bitten Sie andere, die vielleicht noch unentschlossen sind, um gemeinsames Vorgehen.

Nicht handgreiflich werden

Halten Sie Abstand von AngreiferInnen bzw. AggressorInnen. Duzen Sie den/die TäterIn nicht, das könnte von ihm/ihr als Provokation empfunden werden. Außerdem: PassantInnen vermuten dann vielleicht eine private Auseinandersetzung, was vom Eingreifen eher abhält.
Beschränken Sie sich darauf, eine Straftat zu verhindern, werden Sie nicht selbst handgreiflich! Dominik Brunner etwa hatte damals zwar auch per Handy die Polizei gerufen, aber dann als erster zugeschlagen. Und - wie erst spät bekannt wurde - der Manager hatte ein stark vergrößertes Herz, durch den Stress der tätlichen Auseinandersetzung starb er letztendlich an Herzversagen.
Zivilcourage ist in vielen Situationen gefragt und kann - etwa am Arbeitsplatz - durchaus unspektakulär sein. Sich vom Firmentratsch über den Kollegen, dessen (vermeintliches) Alkoholproblem seit Monaten hinter seinem Rücken besprochen wird, deutlich zu distanzieren und stattdessen nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, erfordert trotzdem Mut und Selbstbewusstsein.

Dran bleiben

Und manchmal gehören auch Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit dazu. Behörden und Institutionen etwa reagieren erfahrungsgemäß eher langsam und träge, häufig sind mehrere Personen verwickelt, von denen sich mitunter niemand richtig zuständig fühlt. So kommt es dann, dass Kinder (fast) zu Tode gequält werden, obwohl Jugendamt, Polizei etc. von aufmerksamen BürgerInnen informiert wurden.
Oder dass - wie kürzlich in Bosnien - eine 19-Jährige jahrelang von ihrer Großmutter und deren Familie wie eine Sklavin gehalten wird. Ein Nachbar hatte schon Jahre zuvor Anzeige erstattet, die Polizei war damals bei der Hausdurchsuchung aber nicht gründlich genug. So musste das Mädchen weiterhin Misshandlungen erdulden, im Schweinestall leben, vor einen Leiterwagen gespannt Lasten ziehen (was auch von anderen Nachbarn beobachtet wurde). Erst als dem Nachbar ein Beweisfoto mit seinem Handy gelang, wurde das Mädchen schließlich gefunden und befreit.
Wie genau ein Mensch "gestrickt" sein muss, um Zivilcourage beweisen zu können, darüber sind die Psychologinnen und Psychologen nicht ganz einig. Wer in welcher Notsituation wie reagiert, das hängt nicht nur von der Persönlichkeit ab, sondern auch von der Tagesverfassung und von bisher Erlebtem.
Gleich mehrere Organisationen haben es sich zur Aufgabe gemacht, Kinder und Jugendliche hier zu unterstützen. Seit April 2010 bietet etwa das Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) Zivilcourage-Trainings an. Bisher nahmen mehr als 6.000 Jugendliche an den Workshops in ganz Österreich teil.
Die vierstündigen Trainings für SchülerInnen und Lehrlinge ab der 10. Schulstufe sind kostenlos und werden direkt vor Ort in den Räumlichkeiten von Schulen oder Bildungseinrichtungen durchgeführt. In Wien 15 und 16 veranstaltet ZARA Schulworkshops zu den Themen Diskriminierung, Gleichbehandlung und Zivilcourage.

1 Der Fall Catherine Genovese wurde kürzlich unter dem Titel 38 Zeugen in Frankreich verfilmt.


Internet:
Zivilcourage-Trainings des MKÖ: www.zivilcourage.at www.zara.or.at
 

Schreiben Sie Ihre Meinungan die Autorin afadler@aon.at oder die  Redaktion aw@oegb.at 

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