topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Wenn der Angstpegel immer weiter steigt ... WahrsagerInnen und KartenlegerInnen nehmen heute Sendeplätze im deutschen Privat-TV ein, die früher ausschließlich dem Teleshopping vorbehalten waren.

Wenn der Angstpegel immer weiter steigt ...

Schwerpunkt

Wie machtlos sind wir gegen irrationale Ängste und Feindbilder in Zeiten der Krise?

Die italienische Presse spricht bereits von einem "stillen Massenmord". Konkret gemeint sind hoch verschuldete Klein- und KleinsthändlerInnen, die aus Angst und Scham in Scharen Selbstmord begehen. Auch in Griechenland hat sich die Selbstmordrate zumindest verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Als besonders gefährdet gelten Männer im mittleren Alter. Sie verdienen plötzlich nicht mehr genug, um ihre Familie ernähren zu können. Doch in der Krise steigt nicht nur die Gefahr solcher irrationaler Kurzschlusshandlungen.

Viele VerliererInnen

Auch das Geschäft mit der Irrationalität - konkret der nicht messbaren Energie - boomt. Das gilt ebenso für die "Wohlstandsregionen" Europas. WahrsagerInnen und KartenlegerInnen nehmen heute Sendeplätze im deutschen Privat-TV ein, die früher ausschließlich dem Teleshopping vorbehalten waren.
Die "Zeit" berichtet, dass in Deutschland inzwischen jährlich 18 bis 25 Mrd. Euro mit Esoterik umgesetzt werden (für Österreich liegen keine Zahlen vor). Die Tendenz ist stark steigend. Prognosen gehen davon aus, dass dieser Wert innerhalb der nächsten zehn Jahre bis auf 35 Mrd. steigen wird. Auf die Bevölkerung umgelegt bedeutet das durchschnittlich über 400 Euro pro Person und Jahr - vom Baby bis zum Greis.
Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) diagnostiziert momentan die epidemische Ausbreitung von Ängsten gegenüber Minderheiten. Die fortgesetzte ökonomische Krise - so die Kommission - hat eine Art Teufelskreis in Gang gesetzt. "MigrantInnen" werden zunehmend als "Bürde" für die Gesellschaft wahrgenommen. Ebenso grassieren wieder verstärkt Mythen über den angeblichen "jüdischen Einfluss" auf die Weltwirtschaft. Zudem stellt der Bericht fest, dass fremdenfeindliche Parteien in Europa momentan bei fast jeder Wahl zulegen können.
Keineswegs nur, aber auch, wurde dieser Befund erst jüngst durch die französischen und griechischen Wahlen Anfang Mai 2012 bestätigt: Die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen erhielt fast 18 Prozent, während die faschistische Schlägertruppe der "Goldenen Morgenröte" mit sieben Prozent ins griechische Parlament einzog.

Böse Erinnerungen

Engagierte GewerkschafterInnen können sich derzeit durchaus an bestimmte historische Bilder aus der Zwischenkriegszeit erinnert fühlen. Schließlich verarbeitete ja bereits der "proletarische" Film "Kuhle Wampe" (Deutschland 1932, Mitarbeit B. Brecht) das Problem des Selbstmords als "Antwort" des individuellen Arbeitslosen auf die damalige Krise. Ebenso waren die von Instabilität geprägten 1920er- und 1930er-Jahre Blütezeiten von Esoterik und Okkultismus. Und kann die extreme Rechte nicht schon wieder - durch das Schüren von irrationalen Ängsten - am stärksten von der Krise profitieren? Auch wenn es umgekehrt keine Patentrezepte gibt: Ein Blick in die Geschichte bietet freilich einen ersten Hinweis dafür, wie insbesondere dem letzten Phänomen zu begegnen ist. Das Wachstum (und gegebenenfalls die "Machtergreifung") der extremen Rechten hing bekanntlich auch maßgeblich vom Agieren bzw. Taktieren der anderen politischen Akteure ab.
Angesichts dieser Erfahrungen ist allerdings ein weiterer Aspekt des Berichts der ECRI besonders alarmierend. Dieser besagt, dass extrem rechte Kräfte heute bereits vielfach "direkt und indirekt" einen "Anteil an der politischen Macht" in Europa erreicht haben. Ganz konkret nennt der Kommissionsbericht etwa Ex-Präsident Sarkozy, der seine Partei im Wahlkampf unmittelbar an die Parolen Le Pens herangerückt hat. Ein anderer Fall betrifft das Lavieren der niederländischen Minderheitsregierung um die rassistischen Aussagen Geert Wilders’, dessen Unterstützung im Parlament man nicht verlieren wollte.

Ängste steigen auch in Österreich

Der Politologe Peter Filzmaier ortete bereits Ende 2011 einen geradezu dramatischen Trend Richtung Angst in Österreich. Themen wie "Wirtschaftskrise, Finanzkrise und Euro" haben binnen weniger Monate den Angstpegel derart ansteigen lassen, dass im Oktober 2011 nur mehr 19 Prozent der ÖsterreicherInnen ohne Sorge waren. Diese Werte korrespondieren inzwischen mit Höchstwerten in der Ablehnung gegenüber dem bestehenden politischen System. Laut einer neuen Market-Umfrage halten 57 Prozent der Befragten dieses System in Österreich für nicht reformierbar. Die FPÖ hat genau an diesem Punkt ein weit geöffnetes Einfallstor für sich ausgemacht. Ihre permanente Kritik "am System" verbindet sie faktisch ausschließlich mit Angstparolen gegen MigrantInnen. Nicht weniger als 27 Prozent der Befragten folgen ihr inzwischen dabei und würden bei der nächsten Wahl "freiheitlich" wählen.
Gleichzeitig haben allerdings viele der in der Bevölkerung gefühlten und gerade jetzt auch zunehmenden Ängste wenig mit den Angeboten und "Lösungen" der FPÖ zu tun. So machen sich im Angesicht der Krise knapp 90 Prozent der Menschen Sorgen um ihre künftige soziale Absicherung. Ebenso viele haben Angst vor einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Aus der Perspektive von ÖGB und AK sind gerade solche Ängste nicht nur rational nachvollziehbar, sondern sie werden als Handlungsauftrag verstanden. "Die Beschäftigten haben die Krise nicht verursacht. Aber sie haben mit Angst um den Arbeitsplatz oder mit Arbeitslosigkeit dafür gezahlt und sollen jetzt auch noch die Sparpakete mittragen", kommentierte AK-Präsident Tumpel die Stimmung Anfang 2012.

Welt, "die niemand mehr versteht"

"In jedem Fall hat die Finanzkrise eines bewirkt: Alle (auch die Experten und Politiker) sind in eine Welt katapultiert, die niemand mehr versteht." Zweifellos beschreibt der Soziologe Ulrich Beck mit diesem Satz ein breit verankertes Gefühl. Und ebenso unstrittig ist, dass dieses "Nicht-mehr-verstehen" den Pegel irrationaler Vorstellungen steigen lässt. Doch wer, wenn nicht gerade auch die Gewerkschaftsbewegung, könnte zum "rationalen Verstehen" der Welt beitragen? Erstens kann durch die Bildungs- und Kulturarbeit von AK und ÖGB der bzw. die Einzelne nicht nur befähigt werden, ökonomische Zusammenhänge zu verstehen (und zu verändern), sondern auch bei der Bekämpfung irrationaler Ängste spielt dieser persönliche Ansatz eine entscheidende Rolle.

Perspektiven einer anderen Welt

Entsprechende - irrationale - Denkmuster können nämlich zwar durchaus "kollektiv" und "von oben" implementiert werden. Doch ohne persönlichen Kontakt, ohne eine "am Kollegen bzw. an der Kollegin" orientierte Strategie, werden beispielsweise Vorurteile und Feindbilder Einzelner kaum nachhaltig aufgelöst. Professionelle Trainingseinheiten gegen Rassismus und Rechtsextremismus - wie sie u. a. auch im Rahmen des VÖGB angeboten werden - machen also durchaus Sinn.
Zweitens besitzen Gewerkschaften seit jeher das Potenzial, eine Perspektive in Richtung einer "anderen Welt" zu erzeugen. Insbesondere der seit mehreren Jahren bestehende Dialog bzw. die Zusammenarbeit mit neuen politischen Kräften und sozialen Bewegungen haben hier eine Vielzahl von Konzepten zur Veränderung der Gesellschaft ergeben. Theoretisches und auch praktisch umsetzbares Rüstzeug wäre somit vorhanden. Spannenderweise finden sich Gewerkschaften zudem in der aktuellen politischen Großwetterlage in einem völlig offenen Rennen wieder.

Neue Töne im Widerstand

Nicht nur die öffentliche Debatte um die Neubewertung des Fiskalpaktes oder der griechische Widerstand gegen die Sparpolitik setzen ganz neue Töne.
Mindestens ebenso bemerkenswert scheint, dass in den zwei bereits erwähnten Negativfällen - jener der Regierung in den Niederlanden und Ex-Präsident Sarkozy - PolitikerInnen zu Fall gebracht worden sind, die nicht nur für Soziabbau standen, sondern sich auch an die extreme Rechte anbiederten. Und in beiden Fällen hatten Positionen und Aktivitäten von Gewerkschaften schlussendlich einen nicht unbeträchtlichen Anteil an dieser Entwicklung.

Internet:
Zum Weiterlesen - Jahresbericht 2011 der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz: tinyurl.com/cpwwse7

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor johnevers@gmx.net oder die Redaktion aw@oegb.at

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum