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"Das Geschäft mit der Angst" Es gibt praktisch nichts, vor dem es unmöglich wäre, Angst zu entwickeln, meint der Angstforscher Fritz Riemann.
Buchtipp

"Das Geschäft mit der Angst"

Schwerpunkt

Über 663.000 Treffer ergibt die Suchmaschine zum obigen Titel auf Deutsch, 412 Millionen auf Englisch.

Gerne erzählt der Psychiater seinen Patientinnen und Patienten, die von ihren Ängsten berichten, aber nicht genau wissen, wovor sie sich fürchten, die Geschichte vom Löwen.
Durstig sei der Löwe gewesen, habe aber nicht trinken können, trotz reichhaltigen Angebots zahlreicher Wasserlachen, mit Zugabe von frischem Wild- oder Vogelfleisch nach freier Wahl.
Immer wenn sich das Tier über die spiegelnde Fläche neigte, habe es, zutiefst erschrocken, die Flucht angetreten und ersatzweise den Durst an einem ebenso panischen Kleinvieh gestillt, das eben nur nicht hatte flüchten können.
Die Parallelen zur Konsumwelt sind heute populärwissenschaftlich und hinlänglich bekannt. Auf den Märkten geht es mehr denn je nicht rational zu, auch das ist nicht neu.

Angst als Kaufmotiv

Ängste unterschiedlicher Art sind ausreichend vorhanden. Es gibt praktisch nichts, vor dem es unmöglich wäre, Angst zu entwickeln, meint der Angstforscher Fritz Riemann. Und meist geht es um Varianten bestimmter Grundängste, die laut dem deutschen Tiefenpsychologen wären: Angst vor Veränderung, Angst vor Endgültigkeit, Angst vor Nähe und Angst vor Selbstwerdung.
Bei Kaufentscheidungen ist das Bedürfnis nach Sicherheit ein wesentliches Element. "Diesen Punkt kann man auch als das Geschäft mit der Angst umschreiben", heißt es in einem der zahlreichen Handbücher und Ratgeber für erfolgreiches Marketing. "Doch Vorsicht: Negative Informationen werden grundsätzlich gemieden, daher immer positiv formulieren." Etwa die verantwortungsvolle Gesundheitsvorsorge, die volle Rückgabegarantie, sicher auch im Urlaub, damit Sie sich auch im Alter etwas leisten können etc. Der Wunsch des Kunden nach Sicherheit ist zweifellos die stärkste Kraft im Gehirn desselben, weiß ein weiterer Experte in Sachen Verkaufstechnik. Die Befehle des sogenannten "Balance-Systems" lauten: Vermeide jede Veränderung, baue Gewohnheiten auf und behalte sie so lange wie möglich bei. Vermeide jede Störung und Unsicherheit. Bei Produkten wie Versicherungen, Finanzdienstleistungen, Gesundheitspillen, Alarmanlagen und Schließsystemen mache sich das Streben nach Harmonie und Sicherheit besonders bemerkbar.
Versicherungen verdienen ihr Geld mit den Ängsten der Menschen. Und weil es die verrücktesten Ängste gibt, existieren dazu die entsprechenden Polizzen. Etwa die "Luftloch-Versicherung", die zum Tragen kommt, wenn Flugzeuge binnen sechs Sekunden mindestens 3.000 Höhenmeter verlieren. Die "Hinter-Schloß-und-Tür-Riegel"-Polizze bringt 2.000 Euro, wenn man - versehentlich - im Gefängnis landet. 100 Euro bekommt, wer die "Tür-zu-Schlüssel-drin"-Versicherung abgeschlossen und sich selber ausgesperrt hat. Dass in so mancher Haushaltsversicherung auch Meteoriteneinschlag versichert wird, ist allerdings weniger ein Ausnutzen irrealer Kundenängste.
Zahlreiche Umfragen und Studien stellen den Anstieg allgemeiner Ängste und vermehrtes Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung fest. Ein Phänomen, das nicht nur rechten Parteien, sondern auch dem privaten Sicherheitsgewerbe zugute kommt: Waren laut Statistik Austria im Jahr 2005 noch rund 9.500 Personen mit einem jährlichen Umsatz von rund 290 Mio. Euro in der gesamten Branche (inklusive Detektivbüros) beschäftigt, so erwirtschafteten 2008 bereits 12.250 Personen rund 370 Mio.

Private Sicherheitsfirmen

Der deutsche Sozialwissenschafter Hubert Beste, mit dem Arbeitsschwerpunkt Kriminologie und abweichendes Verhalten, nannte bereits 1995 drei Gründe für den "Boom" privater Sicherheitsdienste: "Die gesellschaftliche Bedrohung durch Kriminalität und die Gefährdung der 'Inneren Sicherheit‘ werden instrumentalisiert, um jeweils spezifische Interessen durchzusetzen. Die Bevölkerung nimmt Bedrohungen beinahe nur mehr durch den 'massenmedialen Filter‘ wahr, durch die mediale Produktion von Bedrohungsszenarien verstärkt sich diese Verbrechensfurcht." Verschuldung der öffentlichen Haushalte und Finanzkrise, so ein weiterer Grund, führten zur Auslagerung wegen "höherer Leistungseffizienz, Kostengünstigkeit und Angebotsflexibilität". Und schließlich: die "Zunahme der allgemeinen gesellschaftlichen Gefahren- und Risikoproduktion". So sollen vor allem sensible Bereiche, wie Energieerzeugung, Verkehr und Ähnliches vor Störungen und Anschlägen geschützt werden. Hier werden private Sicherheitsfirmen vor allem im präventiven Bereich eingesetzt.

Verbrechensfurcht

Laut einer "market"-Studie, im Auftrag von Telekom Austria 2009 zum Sicherheitsgefühl der österreichischen Bevölkerung erhoben, zeigt sich: Drei Viertel der Befragten machen sich große Sorgen um Diebstahl von Geld und Wertsachen. Teure Alarmanlagen gewinnen beim Einbruchsschutz stark an Bedeutung.
In der kriminologischen Forschung hat sich das Thema "Verbrechensfurcht" seit einigen Jahren als Gegenstand etabliert. Nicht nur um neue Strategien zur Kriminalitätsbekämpfung zu finden, sondern auch weil sie, so der deutsche Kriminologe Michael Kubink, als Paradebeispiel für die Verzerrbarkeit von Wirklichkeit dienen kann. "Angstphänomene gehören zur Grundausstattung der Moderne. Angstdiskurse sind eingeflochten in neue Gesellschaftsverständnisse." Eine solche "Verunsicherungsgesellschaft" fordere die Suche nach neuen Sicherheitskonzepten nahezu heraus. "War Sicherheitsgewährung ehedem Kernaufgabe, die den Staat legitimierte, so wird Sicherheit heute immer mehr zu einem Markt der Möglichkeiten für private Dienstleister." Die BürgerInnen würden zusehends in solche Konzepte der Sicherheitsdarstellung hineingezogen. Dahinter stecken, so der US-amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama, neo-liberale Gesellschaftsentwürfe, die einerseits zum Wettbewerb für Sicherheitsprodukte aufrufen und andererseits eine neue Art von "Tugendhaftigkeit und Sozialverantwortung" in der Gesellschaft predigen.
Nicht nur die reale Kriminalität, sondern die Vorstellung davon, flössen in heutige Sicherheitskonzepte ein, meint Michael Kubink. Sicherheit werde als Serviceleistung verstanden, die primär die "Kriminalität in den Köpfen der Menschen" einbezieht. "Es kommt zuerst auf Sicherheitsgefühle an, was darauf hindeutet, sich zugunsten von Empfindungen und Emotionen von rationaler Problemerkenntnis und -bewältigung abzuschotten", so Kubik. Damit einher gingen Tendenzen, Kriminalpolitik auf soziale Gruppen zuzuschneiden, die im öffentlichen Diskurs als Risiko für Sicherheit und Ordnung dargestellt würden.
Seit der Österreicher Leo Sternbach 1953 in den USA die Inhaltsstoffe der Heilpflanze Baldrian erforschte und das Valium (Diazepan) entdeckte, ist der sedierende Wirkstoff ständiger Begleiter von vielen, die unter Angst oder Angst vor der Angst leiden. 1977 wurde Diazepan in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen. Heute gelten Benzodiazepine weltweit als Medikamente mit der höchsten Missbrauchsrate. Gesicherte Erkenntnisse über die Einnahmehäufigkeit sind nicht verfügbar. Hinweise liefern Daten aus dem Arzneimittelindex, der die Verordnungshäufigkeit anzeigt. Bei einer vor zehn Jahren in Innsbrucker Apotheken durchgeführten Studie verlangten rund sechs Prozent der Kundinnen und Kunden nach diesen Medikamenten.

Entzugserscheinung Angststeigerung

Die Einstellung der MedizinerInnen habe sich inzwischen geändert, meint Martin Aigner von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien. Langzeitverschreibungen würden aufgrund der raschen Abhängigkeit mittlerweile kritisch gesehen. Je länger und je höher die Dosis und je älter der oder die PatientIn ist, umso heftiger gestaltet sich der Entzug. Unter den Entzugserscheinungen: vermehrtes Angstempfinden.

Internet:
Aufsatz von Michael Kubink, "Verbrechensfurcht - neue Aufgaben in der Verunsicherungsgesellschaft": tinyurl.com/d6s25yv

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin gabrielle.mueller@utanet.at
oder die Redaktion aw@oegb.at 

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