topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Buchtipp
Was Sokrates wohl dazu sagen würde? Ungefährlich für Europa ist es natürlich keineswegs, wenn das Volk Beschlüsse aus Brüssel nicht mehr nachvollziehen kann.

Was Sokrates wohl dazu sagen würde?

Schwerpunkt

Immer häufiger ertönt der Ruf nach mehr direkter Demokratie für Europa.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten heute über eine europäische Bankenunion, den Fiskalpakt oder den europäischen Stabilitätsmechanismus abstimmen. Vertreten Sie eine Meinung dazu? Haben Sie das Gefühl, ausreichend informiert zu sein, um darüber entscheiden zu können? Faktum ist, dass die Themen, mit denen sich die europäische Politik mittlerweile beschäftigt, enorm komplex geworden sind. Vertrauen – vor allem in Expertinnen und Experten – scheint in der heutigen Zeit ein zentraler Bestandteil der politischen Willensbildung geworden zu sein. Dass die Europäische Union in Schwierigkeiten steckt und dass selbst unter den Expertinnen und Experten keine Einigkeit darüber herrscht, wie diesen am besten begegnet werden soll, ist längst kein Geheimnis mehr. „Die Anforderungen an die BürgerInnen, aber auch an die PolitikerInnen sind massiv gestiegen“, bestätigt Hannes Swoboda, Präsident der S&D-Fraktion (Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten) im Europäischen Parlament. „Häufig sind Entscheidungen notwendig, wo wir Experten auf allen möglichen Gebieten sein müssten.“

Sind wir mündig?

Es drängt sich also die Frage auf, ob die Bevölkerung heute noch über die notwendigen Voraussetzungen verfügt, um aktiv an politischen Prozessen in Europa mitwirken zu können oder überhaupt, um als „mündig“ bezeichnet werden zu können. Wer sich ein wenig mit Demokratietheorien beschäftigt, wird schnell feststellen, dass sie – so unterschiedlich sie auch sein mögen – alle der Meinungsbildung einen außerordentlich hohen Stellenwert einräumen. Denn jede Form der Partizipation setzt natürlich ausreichende Kompetenz voraus. Und obliegt das Entscheidungshandeln letztendlich ausschließlich den politischen VertreterInnen, so muss die Bevölkerung zumindest die Fähigkeit besitzen, über die jeweils getroffenen Entscheidungen urteilen zu können. Eine politisch informierte Gesellschaft stellt also die Basis einer funktionierenden Demokratie dar und die mündigen BürgerInnen sind die Voraussetzung einer vom Volk getragenen Gesellschafts- und Regierungsform.
Bereits in der griechischen Antike, als die ersten Demokratien entstanden (auch wenn damals nur die sogenannten Vollbürger – also keine Frauen, Sklaven oder gar Besitzlose – mitbestimmen durften), setzte sich schnell die Erkenntnis durch, dass die Volksaufklärung notwendige Grundvoraussetzung ist. Die Sophisten versuchten dieser – gegen Bezahlung und meist im Auftrag der Herrschenden – Rechnung zu tragen. Als Experten auf den verschiedensten Wissensgebieten und wahre Redekünstler (sie beherrschten eine ausgezeichnete Rhetorik) unterrichteten sie Bürger, mit dem Ziel, diese für die aktive Teilnahme an der Politik zu befähigen. Die Agora, also der Marktplatz der Stadt, bildete dafür die nötige Öffentlichkeit (der Begriff der Öffentlichkeit ist übrigens mindestens so alt wie die Demokratie selbst). Hier versammelten sich die Bewohner der Polis, tauschten ihre Meinungen aus und diskutierten über alle möglichen politischen Themen. Für Sokrates ging die Arbeit der Sophisten aber nicht weit genug, da diese seiner Ansicht nach lediglich die Kunst der politischen Rede vermittelten. Er hingegen erkannte im Dialog das geeignete Instrument, um die Bürger über Gut und Böse, Leben und Sitten nachdenken zu lassen. Durch das Stellen geeigneter Fragen half er „bei der Geburt zur richtigen Einsicht“ (Hebammenkunst).

Medien vs. Marktplatz

Auch heute noch erfolgt die Vermittlung von Politik über Kommunikation in der Öffentlichkeit – ein wenig anders eben als damals. Sich öffentlich zu äußern bedeutet heute eher, etwas „über die Medien“ auszurichten und wohl nicht mehr, etwas auf einem Marktplatz zu verkünden. Überhaupt sind die Medien mittlerweile die nahezu einzige Quelle geworden, die der Gesellschaft zur Verfügung steht, um politische Realität zu erfahren. War früher die Performance der Reden schwingenden Polis-Bewohner ausschlaggebend, so ist heute die Informationsleistung der Massenmedien von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, sich eine Meinung zu einem politischen Thema zu bilden. Doch wenn Sokrates die öffentlichen Reden der damaligen Zeit als „monologische Manipulation“ kritisierte, was würde er wohl zur „Volksaufklärung“ der heutigen Zeit sagen?

Die Agora des 21. Jahrhunderts

„Die Logik der Medien ist zu einer extremen Herausforderung geworden, was die politische Kommunikation von heute betrifft“, meint jedenfalls auch Swoboda. „Alles muss heute schnell erfolgen. Sich dann gegen sofortiges Entscheiden zur Wehr zu setzen und Zeit zum Überlegen zu verlangen ist sehr schwierig geworden.“ Sie haben es eben auch nicht leicht, die Medien. Trotz politischer Bildungsfunktion müssen sie letztendlich ebenso überleben. Sie sind nichts anderes als Organisationen, die nach ökonomischen Kriterien funktionieren und ihre „Produkte“ verkaufen müssen. Politische Inhalte werden daher mit Unterhaltsamem gemischt und der Informationsgehalt wird zum Teil auf ein Minimum reduziert. Provokante Themen, Emotion, Farbe und Aktion erfreuen sich daher einer weit größeren Beliebtheit als nüchterne und sachliche Berichterstattung zu politischen Themen. Und in dieser „Agora des 21. Jahrhunderts“ versuchen sich politische VertreterInnen, Expertinnen und Experten, Interessensgruppen sowie BürgerInnen Gehör zu verschaffen. Kann in einer derartigen Öffentlichkeit wirklich ein vernünftiger Prozess der politischen Meinungsbildung stattfinden?
Handlungsbedarf jedenfalls hätten laut Swoboda sowohl MedienvertreterInnen als auch die politischen AkteurInnen. „Es liegt an uns PolitikerInnen, manchmal einfach Widerstand zu leisten, wenn verlangt wird, sofort eine Meinung zu etwas zu haben. Gleichzeitig liegt es an den Medien, zu erkennen, was die eigentliche Aufgabe der Politik ist. Daher muss uns auch Zeit für Überlegungen und Entscheidungen vonseiten der Medien einräumt werden.“ Laut dem Präsidenten der S&D-Fraktion verdrängt die Fokussierung auf das „Skandalträchtige“ oftmals eine ehrliche Auseinandersetzung mit wichtigen Themen. „Medien müssen davon wegkommen, irgendwelche Vorurteile zu verbreiten. Ihre Aufgabe sollte es sein, hinter die Vorurteile zu blicken, um zu sehen, wie die Lage wirklich ist.“ Swoboda nennt das Beispiel Griechenland: „Die Menschen müssen darüber informiert sein, was in Griechenland wirklich schiefgelaufen ist und was es wirklich an Möglichkeiten gibt, um aus dieser Krise wieder hinauszukommen.“
Ungefährlich für Europa ist es natürlich keineswegs, wenn das Volk Beschlüsse aus Brüssel nicht mehr nachvollziehen kann. Denn vor allem in Zeiten, in denen Vertrauen in die Politik abnimmt, ist es besonders schwierig, Entscheidungen mitzutragen, ohne zuvor in die Meinungs- und Willensbildungsprozesse miteinbezogen gewesen zu sein. EuropaparlamentarierInnen machen sich jedenfalls Gedanken darüber, wie es weitergehen soll. „Man sollte sich in Zukunft auf europäische Abstimmungen konzentrieren. Ich habe auch nichts gegen Abstimmungen auf nationaler Ebene, solange sie den europäischen Fortschritt nicht verhindern“, betont Swoboda.

Politik im Dialog mit der Bevölkerung

Das Augenmerk sollte seiner Ansicht nach aber dennoch woanders liegen: „Das wichtigste ist, dass die Politik wieder verstärkt in den Dialog mit der Bevölkerung tritt. Man muss wieder erkennen, wann die Menschen etwas verstehen und wann nicht. Je weniger etwas verstanden wird, umso mehr muss darüber gesprochen werden. Ich sehe den Dialog aber auch als Mittel dafür, dass Politiker und Politikerinnen in Zukunft mehr überlegen müssen, was sie entscheiden – und das auch begründen müssen. Es geht letztendlich nicht um Abstimmung, es geht um den Dialog.“ Sokrates würde wahrscheinlich zustimmen ...

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin martina.steiner@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum