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Europas Kinder
Europas Kinder Christa, 51, hat als Kind mit ihren Eltern so manchen Urlaub in einem jugoslawischen Badeort verbracht: "Jetzt heißt das ja Kroatien oder eher Slowenien, keine Ahnung, das muss ich einmal auf der Karte nachschauen."

Europas Kinder

Schwerpunkt

Sie sind aufgewachsen mit dem Euro, offenen Grenzen, internationalen Austauschprogrammen und ohne Ostblock.

Mehr als 740 Mio. Menschen leben in Europa, davon über 500 Mio. EU-BürgerInnen. Vielen ÖsterreicherInnen wurde erst durch die Fußball-WM so richtig bewusst, dass die Ukraine zu Europa gehört. Christa, 51, hat als Kind mit ihren Eltern so manchen Urlaub in einem jugoslawischen Badeort verbracht: „Jetzt heißt das ja Kroatien oder eher Slowenien, keine Ahnung, das muss ich einmal auf der Karte nachschauen.“ Oder einfach im Internet checken – moderne Technologien bringen uns die Welt näher, News aus den USA erreichen uns fast genauso schnell wie Nachrichten aus Europa. Und auch wir selbst können schnell und relativ kostengünstig unterwegs sein, per Flugzeug oder mit dem Auto. Für einen Liter Benzin musste ein Industriearbeiter 1960 rund 14 Minuten arbeiten, 1980 waren es 7,5 Minuten und 2010 ca. fünf Minuten. Waren vor 50 Jahren noch Bibione oder Caorle begehrte Reiseziele, so ist heute der Radius von TouristInnen jeden Alters deutlich größer. Bei Familienfeiern tauschen sich Oma und Enkel über ihre Reiseeindrücke aus.

Walz 2.0

Arbeiten im Ausland war viele Generationen hindurch fast gleichbedeutend mit Flucht vor schwierigen wirtschaftlichen oder politischen Verhältnissen und hatte oft etwas Endgültiges. Herumzureisen, um Land und Leute kennenzulernen und Erfahrungen zu sammeln, das war nur in Ausnahmefällen möglich: in der Tourismusbranche etwa oder während der Gesellenwanderung, die beispielsweise als im Spätmittelalter eingeführte Walz (Tippelei) bis zur beginnenden Industrialisierung Pflicht vor der Meisterprüfung war und während der 1980er-Jahre wiederbelebt wurde. Gesellen, die sich dafür entscheiden, müssen ihrem Heimatort mindestens drei Jahre und einen Tag fernbleiben und dürfen nicht länger als sechs Monate im selben Unternehmen arbeiten.
Unterwegs sein aus beruflichen Gründen – auch außerhalb Europas und ohne Gesellenprüfung –, das ist für immer mehr junge Menschen ganz normal. Besonders günstig sind die Bedingungen dafür natürlich innerhalb der EU, vieles ist harmonisiert (auch wenn manches dann in der Praxis nicht ganz reibungslos funktioniert), Auslandspraktika für StudentInnen und Lehrlinge werden von der EU gefördert – insgesamt ideale Voraussetzungen, um eine Identität als EuropäerIn zu entwickeln.

Unbekanntes Österreich

Mario F., 32, ist in Wien geboren und hat hier studiert, derzeit lebt er in Amsterdam: „Ich bezeichne mich als Wiener, nicht als Österreicher, denn ich kenne beispielsweise Santiago de Chile, wo ich ein Jahr lang gelebt und gearbeitet habe, sicher besser als unsere Landeshauptstädte.“ Seine Kollegin Sarah, 29, sieht das ähnlich: „Mit den Österreich-Klischees – Dirndl, Lederhosen, Berge und Schnee – kann ich sowieso wenig anfangen. Ich bin Wienerin, so richtig als Europäerin fühl ich mich vor allem dann, wenn ich in Übersee bin. Wobei mir die Vorteile der EU, auch dass wir beim Reisen innerhalb Europas kein Visum brauchen, schon bewusst sind.“
Agron G., 29: „Für mich war die Veränderung durch die EU sehr groß. Es ist viel einfacher, frei zu reisen, die gemeinsame Währung macht vieles leichter. Und ich kann jetzt grenzüberschreitend nach dem Job suchen, den ich wirklich machen will.“

Von Facebook bis Couchsurfing

Abseits von Jobs und Ausbildung gibt es heute neben Facebook und Co. auch zahlreiche reale Möglichkeiten zum internationalen Austausch. Mit dem Gastfreundschaftsnetzwerk Couchsurfing beispielsweise kann man weltweit kostenlos in Privatwohnungen und WGs übernachten und so rasch fremde Kulturen kennenlernen. In Sachsen-Anhalt findet seit Beginn der 1990er-Jahre jeden Sommer das Eurocamp mit rund 70 Jugendlichen aus ganz Europa statt. Drei Wochen lang werden Diskussionen und Vorträge organisiert, Kurzfilme gedreht, Deklarationen verfasst – und es wird gemeinsam gearbeitet. In der nahe gelegenen Kleinstadt Zeitz verschönern die Jugendlichen Schulgebäude und öffentliche Gärten, jeden Tag fünf Stunden lang, dafür ist die Teilnahme am Camp gratis. Die „Deutsche Welle“ berichtete kürzlich nicht nur über das Camp, sondern vor allem darüber, dass so gut wie alle dort befragten jungen Leute an die Idee Europa glauben und überzeugt sind, dass die Krise nur eine vorübergehende Störung ist.

Bildung ohne Grenzen

Einig waren sich die befragten Jugendlichen aus 30 Ländern vor allem da-rüber, dass der Austausch von StudentInnen und BerufsabsolventInnen in Europa weiter verstärkt werden muss. Bildung ohne Grenzen sollte für alle möglich sein.
Laut Jugend-Wertestudie 20111 gibt es hier noch einiges zu tun: So verbinden ÖsterreicherInnen zwischen 14 und 29 Jahren ohne Matura die EU deutlich seltener (rund 38 Prozent) mit kultureller Vielfalt als jene mit Reifeprüfung (circa 56 Prozent). Sie nennen auch die Assoziation „mehr Kriminalität“ fast doppelt so häufig wie ihre Altersgenossinnen und -genossen mit höherer Schulbildung. Sarah meint dazu: „Selbst wenn man davon absieht, dass etwa Englisch als Sprache schon oft etwas Verbindendes hat, findet man bei US-AmerikanerInnen mit ähnlichen Interessen und ähnlichem Background vermutlich mehr Gemeinsamkeiten als mit so manchen AlbanerInnen oder UkrainerInnen, obwohl diese eigentlich EuropäerInnen sind.“
Dass es auch im vereinten Europa Grenzen zwischen Arm und Reich gibt, wird niemand leugnen, das war schon vor der griechischen Schuldentragödie so. Agron, der als Baby mit seiner Mutter vom Kosovo nach Österreich gekommen ist, kennt auch den Unterschied zwischen „Zuag’rasten“ und Arrivierten: „Nicht alle Europäer sind gleich, ein Albaner ist nicht derselbe Europäer wie ein Franzose, ein Deutscher oder Belgier. Diese Erfahrung habe ich vor allem in Österreich immer wieder gemacht. Beginnend mit der Schulzeit, aber speziell beim österreichischen Bundesheer, wo ich für Österreich ‚dienend‘ durchgehend als Neo-Österreicher bezeichnet wurde. Da fällt es einem dann trotz österreichischem Pass schon schwer, sich als waschechter Österreicher zu fühlen.“

Bunt oder gefährlich?

Offene Grenzen, Niederlassungsfreiheit u. ä. gelten schließlich nicht nur für ÖsterreicherInnen, sondern für alle EU-Länder. Ob man das Resultat daraus dann als bunte Vielfalt oder eher beängstigend erlebt, hängt von vielen Faktoren ab. Emma K., 76: „Ich bin keineswegs intolerant oder kleinlich und habe schon die halbe Welt bereist, aber manchmal, wenn ich in der Straßenbahn kaum mehr ein deutsches Wort höre, dann fühle ich mich trotzdem irgendwie unwohl.“ Dieses Gefühl kennen sicher auch jüngere Menschen, manche haben vielleicht ein schlechtes Gewissen dabei, denn schließlich ist das politisch nicht korrekt …
Im Übrigen gibt es mittlerweile einige Studien dazu, dass Vorurteile und Stereotype auch im Informationszeitalter und selbst unter Vielgereisten, die in multikulturellen Teams arbeiten, weiterhin erhalten bleiben, ja zum Teil sogar verstärkt werden und die Basis für jede Menge Witze bilden – die kursieren dann eben in mehreren Sprachen in den Büros.
Seit 600 Jahren Idee Europa
Die Grenzen zwischen Witzeleien, Satire und handfesten Vorurteilen bis zu echter Diskriminierung sind allerdings fließend. Aber vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir alle uns als EuropäerInnen fühlen. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieser Prozess nicht so lange dauert wie die Entstehung der EU, denn von den ersten Ideen einer europäischen Staatengemeinschaft bei Dante über Napoleon und Bertha von Suttner bis zu den Römischen Verträgen 1957 als Grundstein der EU vergingen mehr als 600 Jahre.

EU-Förderprogramm „Jugend in Aktion“ (Int. Begegnung, Freiwilligendienst etc.):
www.jugendinaktion.at
Internationaler Fachkräfteaustausch:
www.ifa.or.at

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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