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Das Leben steht still Charlie ist 31 Jahre und zählt nicht mehr zu den 1.732.300 jungen Arbeitslosen.

Das Leben steht still

Schwerpunkt

Spaniens Arbeitslose pendeln zwischen Verzweiflung und Hoffnung - das Land leidet unter der höchsten Arbeitslosenrate der Welt.

Anfang August: Die Strände von Mallorca, Ibiza und Co. verschwinden unter Legionen von Sonnenliegen, Eisbein und Wiener Schnitzel werden am Fließband produziert. Vor dem Prado in Madrid stehen die Leute kilometerlang in der Gluthitze Schlange, die Ramblas in Barcelona beben von den Touristenmassen, die tagtäglich dort flanieren, in Sevilla gehen Millionen von Tapas über die Ladentische. Das ist das eine Spanien.

24,8 Prozent Arbeitslose

Und das ist das andere Spanien: Das Land ist gebeutelt von der zweiten schweren Rezession binnen weniger Jahre, die Arbeitslosigkeit erreicht mit 24,8 Prozent1 den Spitzenwert in der EU, bei den unter 30-Jährigen liegt sie bei 52,7 Prozent – mehr als die Hälfte der jungen SpanierInnen sind also betroffen. Die Staatsschulden explodieren – und die konservative Regierung kürzt Gehälter im öffentlichen Dienst und das Arbeitslosengeld, sie streicht Sozialleistungen, erhöht die Mehrwertsteuer und empfiehlt Arbeitslosen, sich doch selbstständig zu machen. Das andere Spanien, das sind Menschen, die bis 25 bei den Eltern leben, weil alles andere nicht leistbar ist. Das andere Spanien, das sind 1.732.300 arbeitslose SpanierInnen unter 30 Jahren. 1.732.3002 – eine horrende Zahl, die für uns trotzdem anonym und gesichtslos bleibt. Charlie Rosa, einer der Tausenden Betroffenen, ist nicht anonym. Er lebt in Malaga und ist seit über vier Jahren arbeitslos. Nach dem Schulabschluss hat er Kommunikation studiert, das Studium jedoch nicht beendet, weil er arbeiten musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. „Aber alles, was ich finde, ist ohne Vertrag und ohne soziale Sicherheit.“ Im Frühjahr postete er zynisch in einer Online-Plattform: „Toll, dieses Monat drei Tage gearbeitet. Egal, das Geldbörsel ist schon wieder leer.“ In guten Monaten kann er zehn Tage arbeiten, im Sommer sogar länger, weil dann mehr angeboten wird – befristet, nicht abgesichert.
Es geht ihm wie zahlreichen anderen jungen SpanierInnen. „Die Hälfte der Leute, die ich kenne, sind seit mindestens ein oder zwei Jahren arbeitslos“, berichtet er. Viele hören zu studieren auf, weil sie arbeiten müssen, um ihr Leben zu bestreiten, oder weil sie überzeugt sind, nach der Uni ohnehin keinen Job zu finden. „Dann fangen sie wieder an zu studieren, denn wenn man keine Arbeit findet, ist das immer noch besser, als nichts zu tun.“

Lotteriespiel Bewerbung

Nach dem Sommer wird Charlie Rosa sein Glück wieder mit Kursen des Arbeitsamtes (INEM, Instituto Nacional de Empleo) und mit Bewerbungen versuchen. „Eine Bewerbung abzugeben ist wie in der Lotterie zu spielen“, sagt er. „Ein oder zwei Jobs für bis zu 3.000 BewerberInnen.“ Bei den Kursen des Arbeitsamtes ist es ähnlich: 30 Plätze für 1.000 InteressentInnen. „Es gibt Momente, da wünsche ich mir zu verschwinden, in ein anderes Leben, eine andere Stadt“, postet Charlie. Er beschreibt die Stimmung vieler junger SpanierInnen, die man in Österreich, dem Land mit der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit Europas, schwer nachvollziehen kann. „Ich habe viele Jahre verloren.“ Manchmal weicht die Verzweiflung, und Charlie versucht sich selbst Hoffnung zu machen. „Wenn ich nicht einen Schritt schneller gehe, bleibe ich immer in der gleichen Lage. Ich brauche diesen schnelleren Schritt, das Leben steht sonst still ...“

Betrug an der Demokratie

Charlie ist 31 Jahre und zählt nicht mehr zu den 1.732.300 jungen Arbeitslosen. Für ihn und für die jungen Arbeitslosen, für die PensionistInnen, für die Frauen – deren Recht auf Abtreibung die konservative Regierung en passant auch gleich wieder abschaffen will –, für die MigrantInnen, für sie alle hat sich eine breite Protestbewegung formiert, die Gewerkschaften, NGOs, Studentenorganisationen umfasst und praktisch alle Bevölkerungsgruppen repräsentiert. Weil die Armut im Land steigt, die soziale Kluft größer wird, die Menschen sich das – bescheidene – Leben nicht mehr leisten können, werden die Proteste von Mal zu Mal massiver. „Betrug an der Demokratie“, „Wir werden nicht weichen“, „Der Moment ist gekommen, Nein zu sagen“ – so und ähnlich lauten die Aufrufe der spanischen Gewerkschaften zum „Marsch nach Madrid“ am 15. September.“ „Zehntausende Bürgerinnen und Bürger werden aus allen Regionen Spaniens nach Madrid marschieren, um NEIN zu so viel Ungerechtigkeit zu sagen.“ Der Aufruf der Spanischen GewerkschafterInnen könnte klarer nicht sein: „So kann es nicht weitergehen.“

15. September: Marsch nach Madrid

Angesichts der Krise, der steigenden Arbeitslosigkeit und der Armut, die sich wie die Pest ausbreitet, haben die spanischen Gewerkschaften genug von der Politik der konservativen Regierung unter Mariano Rajoy: Kürzungen bei Gehältern im öffentlichen Dienst, bei Pensionen, Kürzung des Arbeitslosengeldes, Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die Liste der Vorwürfe gegen die Regierung Rajoy ist lang, angefangen mit Betrug an der Demokratie. „Er hat die Wahlen mit einem Programm gewonnen, regiert aber mit einem ganz anderen“, so die Kritik der Gewerkschaften. „In wenig mehr als sechs Monaten hat er die Architektur des spanischen Arbeitsrechtes zerstört, er hat die Lage der Erwerbstätigen und Pensionisten verschlimmert, er verhält sich feindselig gegenüber dem Thema Immigration, er verwehrt der Jugend die Gegenwart und die Zukunft.“
Der Marsch nach Madrid ist ein Höhepunkt in der Mobilisation, viele Aktionen gab es bereits, weitere werden folgen. Zuletzt kamen Gewerkschafter in Andalusien in die Schlagzeilen – und in die Polizeiregister – weil sie im Zuge einer Protestaktion in zwei Supermärkten Waren gestohlen hatten. Die gestohlenen Waren wurden in einer Region mit besonders hoher Arbeitslosigkeit verteilt. Reaktion des konservativen spanischen Innenministers: Alle verhaften, alle einsperren. „Eine zivilisierte und demokratische Gesellschaft darf es nicht zulassen, dass die Leute das Recht in die eigene Hand nehmen“, sagte er der spanischen Nachrichtenagentur.
So einfallsreich die Gewerkschaften sind, lokale Regierungen sind auch findig: In Girona im Nordosten Spaniens will die Stadtverwaltung die Müllcontainer von Supermärkten mit Schlössern versperren lassen. Der Grund: Immer mehr Menschen suchen darin nach entsorgten Lebensmitteln –  denn kaufen können sie sich keine. Die Stadtverwaltung erklärt ihr Vorhaben mit „Gesundheitsrisiken“ durch abgelaufene Lebensmittel und „sozialer Beunruhigung“, die davon ausgehen könnte, dass man sieht, wie sich jemand aus dem Müll ernähren muss.

Start ins Arbeitsleben in Österreich

Und wie reagiert man in Europa, in Österreich? Immerhin, beim EU-Gipfel im Juni haben die Staatschefs und -chefinnen erkannt, dass man mit Sparen-Sparen-Sparen nicht aus der Krise kommen wird, sondern dass man aktiv für Beschäftigung sorgen muss und dass die Arbeitslosigkeit, besonders unter den jungen Menschen in Europa, aktiv und schnell gesenkt werden muss. 120 Mrd. Euro hat dieser Gipfel dafür frei gemacht.
In Österreich hatte die Wirtschaftskammer wohl die Idee, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: den Fachkräftemangel zu beheben und jungen SpanierInnen, aber auch Griechinnen und Griechen, in Österreich eine gute berufliche Zukunft zu bieten. Schöner Nebeneffekt für die Wirtschaft: Für fertig ausgebildete Fachkräfte aus anderen Ländern muss man kein Geld in Lehrlingsausbildung stecken. Auch die deutsche Arbeitsministerin kam auf diese Idee. „Die jungen Leute aus Spanien oder Griechenland könnten endlich ins Arbeitsleben starten.“

Absurdes Hin-und-her-Schicken

Die Österreichische Gewerkschaftsjugend hat zu diesen Vorschlägen ganz klare Worte gefunden: „Es löst kein einziges Problem in Spanien, wenn die Wirtschaft junge Spanier nach Österreich abwirbt“, sagte ÖGJ-Vorsitzender Jürgen Michlmayr. „Es wäre doch absurd, die Arbeitslosen in der EU hin und her zu schicken.“ Der Wirtschaftskammerpräsident kann Charlie Rosa ja die Frage posten, ob er gerne in Wien in der Kommunikationsbranche arbeiten würde. Auf dessen Online-Antwort wären wir gespannt ...

1 Eurostat-Zahlen, Juni 2012.
2 Zahl von INEM, Instituto Nacional de Empleo, Spanien.

Internet:
Mehr Infos unter:
tinyurl.com/8jpxq47

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